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TEC21 2017|09-10
Lehmarchitektur entwickeln
TEC21 2017|09-10
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Material der postfossilen Welt

Mittels Forschungsprojekten, Förderprogrammen und konkreten Bauaufgaben werden in Deutschland wichtige Grundlagen für den Lehmbau erarbeitet. Anhand der Resultate wurden DIN-Normen erstellt, und weiterführende Normen befinden sich in Vorbereitung.

Schon der Club of Rome hatte 1972 mit der Veröffentlichung «Die Grenzen des Wachstums» die Probleme des fossilen Konsumzeitalters klargemacht. Doch brauchte es bis zur Ölkrise bzw. bis in die 1980er-Jahre, ehe sich eine breitere Bewegung des ökologischen Bauens entfaltete. Es entstanden Organisationen wie CRAterre in Frankreich oder der deutsche Dachverband Lehm und Institute wie das Forschungslabor für experimentelles Bauen von Gernot Minke damals an der Gesamthochschule Kassel.

Die intensiv betriebene Forschung, veröffentlichte Fachliteratur, Bauregeln und die ansässigen Hersteller sowie Verarbeiter von Lehmbaustoffen machten Deutschland zum international führenden Land im Lehmbau. Darüber hinaus steht es für einen «reinen» Lehmbau ohne Zusätze wie Zement, die die Vorteile des Baustoffs einschränken. Nur rein entfaltet das Material seine klimasteuernde Wirkung und kann wiederverwendet werden.

Trotz der weit über die Landesgrenzen hinausgehenden Bedeutung verblieb der Lehmbau in Deutschland in einer Nische, und das ökologische Bauen wurde vom fossilen Mainstream belächelt. Erst Pioniere wie Martin Rauch (vgl. «Lehm zum Tragen bringen» sowie TEC21 29–30/2013) mit seinen modernen Stampflehmbauten haben das Material im Kreis von Architekten und Bauherrschaften wieder in Mode gebracht.

Normung und Forschung vorantreiben

Um die Qualität während der Herstellung, Verarbeitung und Nutzung zu sichern und Lehmbautechniken einem breiteren Markt zugänglich zu machen, ist es wichtig, die Produkte und ihre Anwendung zu standardisieren. Der deutsche Dachverband Lehm hat mit den Lehmbau- Regeln ein Regelwerk geschaffen, das in die Musterliste der Technischen Baubestimmungen aufgenommen wurde und in elf Bundesländern bauaufsichtlich eingeführt ist. In Zusammenarbeit mit der Bundesanstalt für Mate­rialforschung Deutschland wurden und werden Normen für Lehmbaustoffe vorbereitet.

Eingeführt und für Planer, Hersteller und Handwerker verfügbar sind aktuell folgende Normen: DIN 18945 Lehmsteine; DIN 18946 Lehmmauermörtel und DIN 18947 Lehmputzmörtel; alle drei mit Begriffen, Anforderungen und Prüfverfahren. Lehmputze nach DIN 18947 sind heute Bestandteil der allgemeinen Putzanwendungsnorm DIN 18550-2:2015-06 Planung, Zubereitung und Ausführung von Innen- und Aussenputzen.

Wie in anderen Bereichen von Naturbaustoffen wirkt sich die unzureichende Forschung noch nachteilig auf den Lehmbau aus. Da über Jahrzehnte fossile Baustoffe im Zentrum der Forschung standen, sind diese am Markt im Vorteil und behindern den notwendigen Wandel im Bauwesen. Der kritische ökologische Fussabdruck von Gebäuden wird in Zukunft nur über ressourcen­arme Wiederverwendung und den Ersatz von fossilen Produkten durch nachwachsende und erneuerbare Ressourcen verringert werden können. Naturbaustoffen wie Lehm und Holz kommt dabei in Europa und global eine wesentliche Rolle zu.

Dazu sind aber Forschung und Normierung sowie Förderprogramme zur Verbreitung am Markt notwendig. Eines dieser zielführenden Forschungsfelder ist z. B. die Entwicklung von Brandschutzbekleidungen aus Lehm.

Gesund, ästhetisch, nachhaltig

Die Öffentlichkeit nimmt Stampflehmbauten seit einigen Jahren als ästhetisch ansprechend wahr. Aufgrund der Herstellungskosten wird Stampflehm in Europa aber eher eine Technik für Aufgaben mit besonderen Gestaltungsvorgaben wie Kirchen und Museen bleiben. Zudem erfüllt er – wie auch die weiteren Massivlehmtechniken – im kalten Mittel- und Nord­europa ohne Wärmedämmung ­die wachsenden Anforderungen an den winterlichen Wärmeschutz nicht.

Von viel grösserer Bedeutung für zukünftige Bauweisen der postfossilen Gesellschaft in Europa wird das raumklimatische und wohngesundheitliche Potenzial des Materials sein. Industriell hergestellte Baumaterialien enthalten mitunter gesundheitsgefährdende Stoffe und können ein ungesundes Raumklima verursachen. Wie bedeutend diese Aspekte sind, wird allgemein anerkannt und in europäischen Forschungsvorhaben untersucht und fundiert.

Das EU-Forschungsprojekt H-House[1] befasst sich mit Bauweisen, die zu einem gesunden Innenraumklima führen und gleichzeitig energieeffizient sind. ­Innerhalb des Projekts untersucht ein Team, wie Naturbaustoffe wie Lehm und Holz verglichen mit konventionellen Baustoffen bei Innenwänden und -dämmungen der Aussenwände wirken. In einem ersten Schritt wurden diverse Lehmbaustoffe, Naturfaserdämmungen und Holzbaustoffe auf ihre Schadstoffabgabe und ihre Fähigkeiten zur Klimasteuerung (Feuchte und Temperatur) hin untersucht. In einer zweiten Stufe wurden aus den Materialien diverse Wandaufbauten entwickelt und im Labor auf die gleichen Parameter hin untersucht. Lehm, Naturfaserdämmungen und Holz weisen ein hohes Potenzial auf, Feuchte schnell aufzunehmen und wieder abzugeben. Wände aus diesen Materialien können so die Spitzen der Raumluftfeuchte abpuffern und das Raumklima stabilisieren (vgl. Abb.).

Falsche Luftfeuchte macht krank

Gebäude werden heute aufgrund der energetischen ­Anforderungen zunehmend gedämmt und winddicht ausgeführt. Feuchteeinträge durch Duschen und Kochen erhöhen die Raumluftfeuchte auf kritische Werte und steigern das Schimmelrisiko. Um dem entgegenzuwirken und die Energieeffizienz zu verbessern, werden Gebäude heute in der Regel mit mechanischen Lüftungsanlagen ausgestattet. Oft betreibt der Nutzer diese aber nicht fachgerecht, und von den Herstellern und Planern werden zu hohe Lüftungsraten voreingestellt. Dies führt in Wintermonaten oft zu relativen Raumluftfeuchten von weniger als 30 %. Entgegen der weit verbreiteten Meinung, dass trockene Räume gesund seien, haben Wissenschaftler[2] in den 1980er-Jahren nachgewiesen, dass bei zu geringer Raumluftfeuchte die Aktivität von Mikroben, Bakterien und Viren und so­mit das Gesundheitsrisiko für den Menschen signifikant ansteigen: Die gesunde Raumluftfeuchte liegt im Bereich zwischen 40 % und 60 % relativer Luftfeuchte (vgl. Abb.).

Traditionelle Techniken modern adaptiert

ZRS Architekten Ingenieure haben ein Bausystem entwickelt, um diffusionsoffene Niedrigenergiehäuser aus Holz und Lehm ohne Lüftungsanlagen zu bauen. Bei zweimaligem Stosslüften pro Tag konnte das Büro eine stabile relative Raumluftfeuchte um die 50 % und unkritische CO2-Werte nachweisen. Schadstoffe liegen durch die im H-House untersuchten Baustoffe im gesunden Bereich.

Der Low-Tech-Ansatz nutzt die Potenziale von Holz und Lehm, wie sie beim traditionellen Fachwerkhaus vorkommen, und überträgt sie auf heutige energetische Anforderungen und Produktionstechniken. So entstehen robuste, gesunde Häuser, die unkompliziert nutzbar sind. Holz in Form von Zellulose und Fasern wird für die Dämmung in der Aussenwand eingesetzt, Lehm wird als Innenputz und für schwere Ausfachungen der Innenwände genutzt und trägt so zum stabilen Raumklima bei. In den hochgedämmten Holz-Lehm-Häusern wurde, verbunden mit Nachtauskühlung, ein hoher sommerlicher Wärmeschutz nachgewiesen. Die Spitze der Innenraumtemperatur lag 8 °C unter der Spitze der Aussentemperatur – in heissen Sommerwochen bei Temperaturen bis zu 35 °C draussen waren es im Innenraum 27 °C. Dieses aus den heissen Klimazonen schon lang bekannte Phänomen wurde bislang nur empirisch untersucht. Es basiert darauf, dass die Luftfeuchte antizyklisch zur Aussentemperatur aufgenommen und abgegeben wird.

Unbestritten ist auch der Einsatz von Lehmbaustoffen in der Sanierung und Denkmalpflege, besonders in der Fachwerksanierung und bei der Innendämmung. Parallel haben sich Lehmbaustoffe im Bereich der Putze und Beschichtungen einen grossen Markt erschlossen. Das positiv beeinflusste Raumklima hat sich ebenso als Begründung etabliert wie das breite Farb- und Oberflächenspektrum.

Vielfach um- und weiternutzen

Neben der Betriebsenergie tritt zunehmend die graue Energie ins Zentrum der Betrachtungen. Das Projekt Torfremise in Schechen bei Rosenheim zeigt, wie Holzbauten immer wieder um- und weitergebaut werden können (vgl. Abb. S. 28). Das um 1810 auf dem Spinnereigelände in Kolbermoor errichtete Gebäude wurde mehrfach verändert. 2006 sollte es abgebrochen und thermisch verwertet werden. Die Bauherrschaft hat die Remise rückgebaut und 2010 in Schechen wieder errichtet. Das neu integrierte Holz-Lehm-Haus kann wie das historische Gebäude theoretisch beliebig um- und weitergenutzt werden, ohne Abfall zu verursachen. Diese Methodik steht in der globalen Tradition, historische Lehm- und Naturbauten wiederzuverwenden. Sie besteht in Deutschland unter anderem in denkmalgerecht weiterentwickelten Fachwerkhäusern bis heute fort. Werden die Lehmbaustoffe nicht durch Fremdstoffe verunreinigt, können sie am Ende der ­Nutzungszyklen auch unbedenklich in den natürlichen Kreislauf zurückgeführt werden.

Die heute in Deutschland erhältlichen Lehmbaustoffe stammen zu einem signifikanten Teil aus Baustellenaushub und Abraum, z. B. von Kalkstein­brüchen der Zementindustrie. Sie sind also schon bei der Herstellung Upcyclingprodukte, die zu Baustoffen werden. Der Dachverband Lehm erarbeitet derzeit ­Muster-EPDs für Lehmbaustoffe, um die ökologische Wirkung in Zahlen zu fassen.

Ausbildung – die nächste Generation

Neben vielen dezentralen Weiterbildungsmöglichkeiten hat der Dachverband Lehm mit der Ausbildung zur Fachkraft Lehm eine von den Deutschen Handwerkskammern anerkannte handwerkliche Weiterbildung geschaffen. Hunderte von Handwerkern, aber auch ­Studierende und Akademiker haben sich in diesem ­Programm weitergebildet und tragen zu qualitativ ­gutem Lehmbau in Europa und darüber hinaus bei. Wenn sich die Vorteile des Lehmbaus weiter verbreiten, vor allem aber die gesellschaftliche Bewertung von Baustoffen und -methoden nicht am billigsten Preis endet, sondern ganzheitliche Modelle wie die ­Lebenszyklusbetrachtung und die gesundheitlichen Wirkungen zentral werden, wird Lehm als Baustoff signifikant an Bedeutung gewinnen.


Anmerkungen:
[01] Am Projekt sind zwölf europäische Partner beteiligt, darunter die deutsche Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung und das Institut für Zement und Betonforschung, Schweden. Das Projekt endet im August 2017.
[02] Scofield und Sterling, Criteria for Human Exposure to Humidity in Occupied Buildings. ASHRAE Trans­­actions Vol. 91; 611–622 (1985).

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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