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Stadt im Fluss
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Vom Lebensnerv der Stadt über die „Riviera der Arbeitslosen“ zur Lokalszene unserer Tage: Wiens Donaukanal – eine kleine Kulturgeschichte.

Ueber Jahrhunderte wurden Waren zur Versorgung von Wien über die Donau bis an die befestigte Stadt herangeschafft; der „Wiener Arm“, der viel später als „Donaukanal“ be- und im urbanen Gefüge verfestigt wurde, war der Lebensnerv der Stadt. Nachdem Mitte des 14. Jahrhunderts die erste Brücke – die Schlagbrücke an der Stelle der heutigen Schwedenbrücke – zur damals sogenannten Donauinsel mit ihren Auen und kaiserlichen Jagdgebieten geschlagen worden war, begann sich die Bebauung am anderen Ufer zu verselbstständigen. Die Händler trachteten danach, sich vis-à-vis des Rotenturmtores niederzulassen, um dem Geschehen möglichst nahe zu sein. Der „Untere Werd“ entwickelte sich zur bevölkerungsreichsten, später zur jüdischen Vorstadt von Wien.

Ab 1858, als die Wiener Stadtmauer fiel, begannen die Stadtplaner, sich den „Donaukanal“ anzueignen. Während das Ufer der Leopoldstädter Seite bereits seit Anfang des 19. Jahrhunderts eine geschlossene klassizistische Bebauung aufwies, konnte das andere Ufer erst jetzt baulich entwickelt werden. Nach der Regulierung des Donaustromes 1870 bis 1875 wurde ein Wettbewerb für ein infrastrukturelles Folgeprojekt ausgeschrieben: Der Generalregulierungsplan für Wien sollte nicht nur die gezielte Nutzung des Donaukanals als Schutz- und Winterhafen mit begleitender Anlage von Abwasser-Hauptsammelkanälen, sondern auch die Errichtung eines Stadtbahnnetzes festlegen. Bereits 1898 war die großzügige Infrastrukturplanung in vorbildlicher Weise realisiert, unter künstlerischer Federführung von Otto Wagner, dem expliziten Verfechter der Implementierung von Architektur im Sinne einer praktischen Kultur für ein „modernes Großstadtleben“.

Der ab Ende des 19. Jahrhunderts durch das Nussdorfer Wehr konstant haltbare Wasserspiegel ermöglichte die weitere bauliche Einengung des Donaukanals. Die Böschungen wurden im innerstädtischen Bereich begradigt und als zwei bis zu 15 Meter breite, die Wasserstraße begrenzende Vorkais und je einen Oberkai auf Straßenniveau ausgeführt. Die oberen Kaimauern wurden mit Kalksteinquadern verkleidet und mit einem von Otto Wagner gestalteten Metallgeländer dekorativ abgeschlossen, der Wasserlauf selbst wurde entlang der rund fünf Meter tiefer gelegenen Vorkais von Mauern aus Granitquadern begrenzt.

Um die notwendige Wassertiefe für die Schifffahrt zu gewährleisten, sollten nach dem Nussdorfer Wehr drei weitere Wehranlagen mit Kammerschleusen eingebaut werden, errichtet wurde allerdings nur das Kaiserbad-Wehr, mit dem weiß-blauen Schützenhaus, ebenfalls von Otto Wagner geplant. Abgesehen von den einzelnen architektonischen Schmuckstücken ist bei der baulichen Ausgestaltung des Donauarmes im innerstädtischen Bereich immer auch Wagners Bemühen um stadtstrukturelle Qualität erkennbar. Sein Konzept für die Kais als Zonen urbanen Lebens funktionierte, solange Waren in großem Umfang in die Stadt geliefert wurden und Personenschiffe der DDSG direkt am Morzinplatz oder beim Schiffamt anlegen konnten.

Als weitere Attraktion wurden ab 1904 die „Städtischen Strombäder“ in das – zu dieser Zeit nicht mehr durch Hausabwässer und noch nicht durch Industrieabwässer kontaminierte – Donaukanalwasser gesetzt. Diese 50 Meter langen und zehn Meter breiten, aus Holz konstruierten Badeschiffe wiesen, wie ein Katamaran, über die Seitenlängen je einen Schwimmkörper auf. Dazwischen wurde ein circa 13 mal sechs Meter großer Korb ins Wasser gehängt, in den die Menschen über Stufen steigen und – so gut es ging – gegen den Strom schwimmen konnten. Die Badeschiffe waren bis in die 1940er-Jahre in Betrieb, verschwanden dann aber aus dem Flusslauf. Nach dem Ersten Weltkrieg schrumpfte das Handelsverkehrsaufkommen auf der Donau ebenso wie die Personenschifffahrt. Dafür wurde der Freizeitnutzung verstärkt Aufmerksamkeit geschenkt: Gerade das Baden war sowohl in den Badeschiffanlagen wie auch „wild“ an den Uferböschungen zu dieser Zeit äußerst beliebt. Etwa im Bereich nördlich der Friedensbrücke, der häufig von Obdach- und Arbeitslosen frequentiert wurde, insbesondere Anfang der 1930er-Jahre, als sich deren Zahl infolge der Wirtschaftskrise eklatant erhöhte. Die Zeitung „Der Abend“ bezeichnete diesen Abschnitt des Donaukanals ironisch als „Riviera der Arbeitslosen“ und widmete ihm im Juli 1933 eine umfangreiche Reportage: „Das Strandleben an der Wiener Riviera ist einfach und anspruchslos. Man kommt, man sucht sich ein Platzerl, lässt die Hosen herunter oder streift das bescheidene Kleid ab – fertig. Man braucht keine Kabinen, keine Strandkörbe, keine hochmodernen Badeanzüge.“

Auch als Austragungsort von Sportveranstaltungen konnte sich der Donaukanal etablieren. Vor allem das Schwimmfest „Quer durch Wien“, bei dem der Donaukanal von der Nussdorfer Schleuse bis zur Sophienbrücke (der heutigen Rotundenbrücke) durchschwommen werden musste, entwickelte sich zum Publikumsmagneten. Erstmals 1913 ausgetragen, wurde der Wettbewerb im Jahr 1919 wieder aufgenommen und avancierte sogleich zu einer der populärsten Veranstaltungen im Wiener Sportleben. Unter den teilnehmenden Vereinen befand sich auch der jüdische Sportklub „Hakoah“, der eine avancierte Schwimmsektion aufgebaut hatte und „Quer durch Wien“ mehrmals für sich entscheiden konnte.

Noch 1927 schätzte man die Zahl der Zuschauer an den Ufern des Kanals auf beachtliche 25.000. Das „Arbeiterschwimmen“ war zur politischen Manifestation des „Roten Wien“ geworden. In den folgenden Jahren ging der Publikumszuspruch allerdings kontinuierlich zurück. Dies und der Umstand, dass antisemitische Anfeindungen gegenüber jüdischen Sportlern deutlich zunahmen, veranlassten die Veranstalter, den Schwimmbewerb nach Krems zu verlegen, ehe man ihn 1938 völlig einstellte. Der Donaukanal war zum Politikum geworden.

Als sich die Nationalsozialisten im Jahr 1938 der Wiener Stadtplanung zu bemächtigen begannen, war mit „Wien an der Donau“ nicht mehr die innere Donau, der Donaukanal gemeint, sondern der Donaustrom selbst. Die zwischen den Gewässern liegende Leopoldstadt, die vor dem „Anschluss“ zu 40 Prozent von Juden bewohnt war, wurde in gigantomanischen Entwürfen mit „Prachtstraßen“, „Aufmarschachsen“, „Festplätzen“ und „Parteizentren“ verplant, in einem Maßstab, der von gewachsener Struktur und Kultur nicht viel übrig ließ. Diese Entwürfe blieben ebenso unrealisiert wie jene nach Kriegsende aus dem Architektenwettbewerb zum Wiederaufbau, nachdem gerade die Donaukanalgegend im innerstädtischen Bereich zerstört worden war. Lediglich die Implementierung von vereinzelten Hochhäusern wie dem Ringturm von Erich Boltenstern oder dem Bundesländer-Gebäude von Georg Lippert entlang der Kais, wie in einem Wettbewerbsbeitrag vorgeschlagen, fand ihren Niederschlag in der späteren Bebauung am Donaukanal, allerdings ohne die konzeptionelle Basis eines Masterplans. Franz-Josefs-Kai und Obere Donaustraße wurden als Hauptdurchzugsstraßen hergestellt, wodurch schleichend eine stadträumliche Veränderung einsetzte, die sukzessive Ober- und Unterkai voneinander trennte.

In den 1960er-Jahren erhielt die Durchflussgeschwindigkeit des Individualverkehrs Priorität gegenüber dem Wasserlauf, der zunehmend verschmutzt und damit unattraktiv geworden war; und es wurde erwogen, auf den Vorkais des Donaukanals eine Stadtautobahn zu trassieren. Allerdings wurde diesem Ansinnen der Stadtpolitik durch eine städtebauliche Studie von Viktor Hufnagl, Traude und Wolfgang Windbrechtinger im Jahr 1971 eine klare Absage erteilt; man verwies auf die Wichtigkeit des Donaukanalbereichs in seiner Erholungs- und Klimafunktion.

Ab Mitte der 1970er-Jahre wurde die Stadtbahntrasse auf U-Bahn-Betrieb umgerüstet, was als negative Begleiterscheinung das Eigenleben am Donaukanal völlig zum Erliegen brachte. Entdeckt wurde der Donaukanal in jenen Jahren lediglich als Filmkulisse: als Drehort für den US-amerikanischen Agentenfilm „Firefox“ (1982, Regie: Clint Eastwood) und in der österreichischen Kultkrimiserie „Kottan ermittelt“, in der Regisseur Peter Patzak den morbiden Charme des vorstädtischen Kanalufers mitsamt den historischen Stadtbahnbögen in Szene setzte, eine Gegend, die dem in Wien-Brigittenau aufgewachsenen Patzak seit seiner Kindheit bestens vertraut war.

Erst langsam setzte jene Entwicklung ein, die – nach Abschluss der U-Bahn-Bauarbeiten – eine Wende auch bei der Wahrnehmung des Donaukanals bedeutete: die Politisierung des öffentlichen Raumes und die damit einhergehende „Eventisierung“ des Urbanen. Die Wiener ÖVP veranstaltete Ende September 1983 erstmals das „Lichterlfest“, bei dem der Donaukanal abends mit Lampions, Kerzen und Feuerwerk ins Bewusstsein der Bevölkerung geholt wurde. Und auch in der von der SPÖ dominierten Stadtregierung forcierte man die Entwicklung von Konzepten zur Attraktivierung des Kanals. Ein eigener „Donaukanalkoordinator“ wurde bestellt, der sich seither um die Abstimmung sämtlicher Projekte und deren Einbeziehung in den übergeordneten „Masterplan Donaukanal“ kümmert.

Plötzlich hatte der Donaukanalbereich seine spezifische Qualität als Erholungsraum mitten in der Stadt wieder, wurde als solcher auch angenommen und sukzessive entwickelt: Sei es die entstandene Lokalszene, die Neuetablierung der Badeschiff-Idee oder die Wiedereinführung der Personenschifffahrt mit dem Twin-City-Liner nach Bratislava – das städtische Leben ist an die Unterkais des Donaukanals zurückgekehrt. Für Wien ist wichtig, dass nun umgesetzt wird, was Otto Wagner, der Verfechter eines modernen Großstadtlebens, gemeint hat: Urbanität heißt, die Stadt im Fluss zu halten. Dieses Prinzip könnte nun, ein Jahrhundert später, am Donaukanal funktionieren.

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