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Pest und Passion
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1634 sollten sie die Pest von Oberammergau abwehren. Dass die Passionsspiele dereinst vor allem Besuchermassen und Geld in das Dorf der Holzschnitzer bringen würden, konnte damals keiner ahnen. Dieser Tage ist es wieder so weit. Wie alle zehn Jahre.

15. Mai 2010 - Judith Eiblmayr
Oberammergau und die Passion sind für den durchschnittlichen Medienkonsumenten untrennbar miteinander verbunden. Der Ort selbst wird mit den Passionsspielen assoziiert so wie Salzburg oder Bayreuth mit ihren Festspielen, ohne dass man sich bewusst ist, dass dieses Großereignis nur alle zehn Jahre stattfindet. Die Besucher strömen wie auch heuer wieder in den oberbayrischen Ort, wo man sich bemüht, die Leidensgeschichte Jesu möglichst „naturgetreu“ nachzuerzählen und die Inszenierungen anschaulich anzulegen. Nach wie vor sind es die Ortsbewohner selbst, die das Passionsstück mit großer Leidenschaft und beträchtlichem Zeitaufwand für die Bühne erarbeiten. Dieser persönliche Einsatz – letztlich zum Wohle des Dorfes – birgt jene Authentizität, die ein Schlüssel zum Erfolg sein dürfte. Wie sehr der Begriff der Passion der Historizität des Ortes immanent ist, erschließt sich dem Betrachter erst, wenn man zu Oberammergau kontextual – örtlich, zeitlich, kulturell – ein wenig ausholt.

Bezogen auf eine publizierte Feststellung aus dem Jahr 1880, dass im Dorf von 1260 Einwohnern 120 Holzschnitzer von Beruf seien, bemerkt Ilija Trojanow in seinem Buch über Oberammergau, dass die Handwerker mit Rückenkraxn die geschnitzte Ware bis nach Italien gebracht hätten, „was für eine gewisse Weltoffenheit gesorgt“ habe. Bis ins frühe 12. Jahrhundert dürfte die Ammergauer Holzschnitzkunst zurückreichen, jedenfalls ab der Spätgotik gilt sie als verbrieft. Die Mönche des 1330 gegründeten Klosters Ettal, das am südlichen Eingang ins Ammertal in unmittelbarer Nachbarschaft des Ortes Oberammergau gelegen ist, galten selbst als handwerklich geschickt und als wahrscheinliche Initiatoren und Promotoren des ortsspezifischen Kunsthandwerks.

In der 1520 verfassten „Geschichte von Ettal“ ist vermerkt, dass die Schnitzer so tüchtig seien, dass sie „das Leiden Christi in einer halben Nussschale“ darzustellen vermochten. Diese Anmerkung ist insofern von Bedeutung, als sie den passionierten Arbeitseinsatz der Oberammergauer für die Passionsgeschichte selbst, aber auch für die passable Vermarktung derselben trefflich beschreibt. Es könnte eine Metapher für den Charakter der Oberammergauer sein: ein gutes Anschauungsvermögen, viel Fingerspitzengefühl und voller persönlicher Einsatz. Dieser ging eben so weit, dass die Holzschnitzer ihre Tätigkeit ab dem 17. Jahrhundert als freies Gewerbe betreiben durften und die „Kraxnträger“ nicht nur in Richtung Süden ausströmten, sondern bis nach St. Petersburg und Kopenhagen gelangten. Später ließen sie sich an diesen und anderen Orten fern der Heimat nieder und bauten eigene Vertriebsnetze für die Oberammergauer Holzobjekte auf, wobei die Produktpalette von Heiligenfiguren, Krippen und Kruzifixen bis zu Haushaltsgeräten und Spielzeug reichte.

Wie in anderen Gebieten des Alpenraumes auch, war es somit die Holzwirtschaft, die die Existenz der Ammertaler Bevölkerung sicherte. Das auf 840 Meter Seehöhe gelegene Hochtal des Flusses Ammer ließ wegen saurer Wiesen keine ergiebige Land- oder Viehwirtschaft zu, und so war es eben das handwerkliche Geschick, das die Bewohner perfektionierten und über Produkte, mit der „Marke Oberammergau“ versehen, nach Europa hinaustrugen. Dieserart wurde bereits im Mittelalter eine bürgerliche und weniger bäuerliche Identität des bayrischen Dorfes begründet und dadurch die erwähnte überlebensnotwendige Weltoffenheit in das Dorf hereingebracht.

Leider ebenso hereingebracht wurden durch heimgekehrte Händler und Soldaten die Pesterreger, war doch die Krankheit im Mittelalter in ganz Europa verbreitet. Da der Epidemie medizinisch noch nicht beizukommen war, versuchte die Kirche mit ihrer eigenen Methodik Unheil abzuwenden: Zu Ehren Gottes wurde dem frommen Volke empfohlen, spielerisch das Leiden Jesu auf sich zu nehmen und durch die mehrtägige Darstellung der Passion Christi Abbitte zu leisten. Bereits bei der großen Pestwelle in Mitteleuropa um 1500 wurden vielerorts Passionsspiele auf den Marktplätzen inszeniert, wobei die Bevölkerung durch gemeinsames Gebet und beim Chorgesang einbezogen wurde. Die offenbar heilbringenden „Open-Air-Festivals“ mit Volksfestcharakter waren von den als Intendanz fungierenden Passionsbruderschaften der Städte wirtschaftlich und inhaltlich professionell organisiert. Ob dies im pekuniären Sinne einträglich war, ist nicht bekannt, jedenfalls garantierten die Passionsspiele der katholischen Kirche im Mittelalter eine mediale Verbreitung ihrer Glaubenslehre.

Im deutschen Sprachraum existierten drei Passionsspielkreise: der alemannische, der westmitteldeutsche und der Tiroler Spielkreis, zu dem auch Erl zählte, das seit 1613 regelmäßig seine eigenen Spiele abhielt. 20 Jahre später galt dieses Lösungsmodell auch für Oberammergau als Gebot der Stunde, um die Ausbreitung der Pest zu verhindern. Die Bewohner legten 1633 ein Gelübde ab, ein Passionsspiel im Ort zu etablieren, falls der Ort von weiterem Unheil verschont bliebe. Kaum ausgesprochen, fiel der Legende nach kein einziger Ammertaler Bewohner mehr der Seuche zum Opfer, und so kam es bereits 1634 zur Uraufführung in der örtlichen Pfarrkirche respektive auf dem Friedhof. Dramaturgisch half man sich innerhalb des Tiroler Spielkreises aus und erhielt als Grundlage den Text der Augsburger Spiele. Vielleicht war es ein Initiationsritus neuer Art für die Oberammergauer, denn es scheint, als ob sie daran Gefallen gefunden hätten, jene Szenen, die sie traditionell im Modell – wie erwähnt sogar in einer halben Nussschale – nachzubilden vermochten, selbst darzustellen. Es war nämlich allein den Bewohnern Oberammergaus vorbehalten, an der Passion mitzuwirken, dies hatte die Gemeinde von Anfang an bestimmt.

Dem Gelöbnis entsprechend, kam es zu regelmäßigen Aufführungen, wobei die Inszenierungen erweitert und ab 1674 von Musik begleitet wurden. Die Spiele gerieten – ganz abgesehen von der nachhaltigen Bannung der Pest, sei es durch die Passion, sei es durch die gute Luft – zum Erfolg, und von Mal zu Mal kamen mehr Besucher. 1680 wurde endgültig der Zehnjahresrhythmus mit je einer Aufführung etabliert. Neben der anschaulichen Passionsdarstellung gingen laut Christine Rädlinger (in der von ihr verfassten Ortschronik) die Überlegungen der Gemeinde immer auch in die Richtung, die Spiele nicht nur als kirchliches Fest, sondern als Einnahmequelle für den Ort anzulegen und das Einkommen der Einwohner auf diese Weise zu erhöhen.

1750 wurde zur Attraktivierung mit der „Passio Nova“ eine komplette Neubearbeitung im Stile eines allegorischen Barockdramas vorgenommen, das als geradezu reißerisch geschildert wird. In erstmals zwei Vorstellungen habe man 11.000 Besucher gezählt: Das scheint Mitte des 18. Jahrhunderts in Anbetracht der mühsamen Anreise in das hochgelegene Ammertal doch ganz beachtlich, und die Einnahmen müssen ebenso beträchtlich gewesen sein. Die Oberammergauer begannen, die Selbstdarstellung zu professionalisieren und ab Mitte des 18. Jahrhunderts das Dorf selbst als Teil der Inszenierung zu verstehen. Die profane Architektur im Ort sollte durch die Lüftlmalerei aufgewertet werden, eine im bayrischen Raum verbreitete Freskotechnik, die in barocker Machart auf Perspektivwirkung ausgerichtete Scheinarchitekturen und Allegorien an die Fassaden applizierte. Man hatte offensichtlich erkannt, dass „Entertainment Design“ nicht nur potenzielle Gäste anzieht, sondern, dass dadurch für die eigene Bevölkerung eine Identifikationsoption geschaffen wird, sich auch in den langen aufführungsfreien Jahren als Teil des Ganzen zu verstehen und mit vollem Eifer auf die nächste Passion hinzuarbeiten.

Diese Art der „Eventisierung“ des Christentums wurde während der Aufklärung kritisch gesehen, und Passionsspiele wurden generell ab 1770 mit einem Aufführungsverbot belegt. Nur Oberammergau erhielt 1780 das Privileg, wieder zu spielen, womit seine Sonderstellung in der mitteleuropäischen „Freiluft-Theaterszene“ evident und seine weitere prosperierende Entwicklung verständlich wird. Alle zehn Jahre strömten die Massen auf den mittlerweile vom Friedhof auf eine Wiese am Ortsrand verlegten Aufführungsort, der mit einem hohen Bretterzaun abgegrenzt und wo der Eintritt nur mit bezahlten Karten möglich war. Die Einnahmen flossen einerseits ins Gemeindebudget, andrerseits wurden sie dazu verwendet, die Bühne zu attraktivieren und die Aufführungen zu aktualisieren. Die durchgreifende Modernisierung der Passion 1850 durch den Oberammergauer Pfarrer Aloys Daisenberger brachte gute Kritiken in der Presse und somit internationale Reputation.

Trotz dieses Erfolges verloren die Oberammergauer ihren eigentlichen Haupterwerb, das Holzschnitzergewerbe, nie aus den Augen. Neben der Gründung einer örtlichen Holzschnitzschule dehnten sie bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Vertrieb der Holzware bis nach Übersee und Fernost aus. Die Christusfigürchen könnten dabei durchaus auch als Werbeträger für die Passionsspiele gedient haben, vielleicht hatten die Oberammergauer ihre „Werbetrommel“ dieserart sogar selbst gerührt.

Ende des 19. Jahrhunderts waren es vor allem die Engländer, die Oberammergau für sich entdeckten, eine Entwicklung, die dem britischen Erfinder des internationalen Massentourismus, Thomas Cook, zu verdanken war. Mit der Etablierung des Schienenverkehrs begann Cook, sein Reiserevier von den britischen Inseln auf den europäischen und den amerikanischen Kontinent auszudehnen. Er verstand es, eine der Segnungen der Industrialisierung, den Bahnverkehr, mit dem Ideal der Romantik, dem Naturschauspiel, zu vereinen und seinen Kunden die erbauliche Konsumierbarkeit von beidem anzupreisen. Die pittoresken Alpen, ein dort stattfindendes spirituelles Schauspiel und, nicht weit davon entfernt, das fast fertiggestellte Märchenschloss Neuschwanstein könnte die Apotheose von Cooks Imagination einer Erlebnisreise mit Disneyland-Vision bedeutet haben. Die englischen und amerikanischen Touristen fanden es zudem faszinierend, Fiktion und Funktion im Dorf verschwimmen zu sehen und inmitten von Bibelfiguren zu wohnen. Sie konnten beobachten wie Jesus, der tags zuvor am Kreuz hing, am Morgen durch den Ort spazierte – für die puritanischen Angelsachsen, meint Rädlinger, bedeutete dies wohl einen veritablen Nervenkitzel.

Festspielbesuche gerieten ab 1876 in Bayern zum jährlichen sommerlichen Kulturereignis, nachdem Richard Wagners Bayreuther Festspiele etabliert worden waren. Um mit einem neu errichteten Festspielhaus konkurrieren zu können, musste der Komfort für die Zuschauer in Oberammergau gesteigert werden. Vorerst wurden Zeltdächer über die Ehrenlogen gespannt, später begann man, Überlegungen für die Errichtung eines Zuschauerhauses anzustellen, das dem gesamten Publikum Schutz vor der Witterung bieten sollte. Ein Zirkuszelt wäre wohl zu trivial gewesen, und so konnte es für ein angestrebtes Fassungsvermögen von 4200 Plätzen konstruktiv nur eine Bahnhofshalle werden. Man verfolgte einen pragmatischem Ansatz, schließlich baute man für eine „Dezenniale“, und versetzte sechs 27 Meter hohe Stahlfachwerksbögen, die möglichst unaufwendig mit bemalten Leinwänden eingehaust wurden. Fertig war die „Industriehalle“ der Kulturproduktion, die in ihrer äußerlichen Anmutung dem Bühnenhaus in Bayreuth durchaus ähnlich geriet.

Die Bühne allerdings blieb im Freien, vor der großen, bogenförmigen Öffnung an der Nordseite: Die Schauspieler der Passion sollten, um glaubwürdig zu bleiben, weiterhin ihre Exponiertheit wahrhaftig leben müssen. Die Szenerie wurde, von innen heraus betrachtet, in einen Rahmen gesetzt, der sichtbare, echte Himmel im oberen Bereich des Bühnenbildes verlieh dem Geschehen zusätzliche Dramatik. Die Fokussierung auf das Spiel wurde deutlich verstärkt, ein Effekt, der wiederum an Bayreuth erinnert, wo, Wagners Wunsch folgend, die Guckkastenbühne die Konzentration der Zuschauer auf das Bühnengeschehen erhöhen sollte.

Die Errichtung des Passionstheaters, das in seiner ruralen Zweckarchitektur ab sofort die kolorierten Postkarten von Oberammergau zierte, nahm dem bereits weltbekannten Dorf das folkloristische Moment und machte es zu einem ernst zu nehmenden Kulturort. Ab nun stand die Passion als Schauspiel im Vordergrund, musste sich mit anderen Veranstaltungen messen und wurde mit Kombinationstickets – zu jeder Karte eine Übernachtungsmöglichkeit – gekonnt vermarktet. Bei den Salzburger Festspielen, gegründet 1920, wollte man die Oberammergauer Stimmung zumindest teilweise einfangen, der „Jedermann“ wurde ganz bewusst als Aufführung im Freien, auf dem Domplatz, angelegt. Hugo von Hofmannsthal selbst sah den Festspielgedanken als „eigentlichen Kunstgedanken des bayrisch-österreichischen Stammes“, der in der Passionsspieltradition des mitteleuropäischen Alpenraums seinen Ursprung hatte.

Oberammergau hat bis heute, trotz mehr als 100 Vorstellungen pro Saison und 500.000 verkauften Karten, seinen kulturellen Stellenwert gehalten. Die weltweite Popularität ist ungebrochen und die Qualität der halbtägigen Aufführungen unwidersprochen gut. Die Darsteller und Darstellerinnen kommen nach wie vor aus der Oberammergauer Bevölkerung, als Intendanten und Bühnendesigner werden allerdings mittlerweile hoch bezahlte Profis engagiert. Nach wie vor gibt es in Oberammergau die traditionellen Holzschnitzer, alle zehn Jahre die Passion und das demokratische Prinzip des Bürgerentscheids, das über die Entwicklung des Ortes bestimmt. Die Idee, die Bühne mit einer mobilen Überdachung zu versehen, um die Infrastruktur auch zwischenzeitlich nutzen zu können, ohne den Passionszyklus verdichten zu müssen, wurde im Ort positiv beschieden und ist seit heuer realisiert. Das Passionsspiel selbst bleibt auf der Freibühne exponiert wie eh und je, in den langen Jahren der passionsfreien Zeit allerdings kann ab nun zum Beispiel „Jesus Christ Superstar“ nicht in, sondern unter einer konstruktiven Halbschale dargestellt werden und dem Ort neue Zielgruppen erschließen. Gut durchdacht und gut bedacht.

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