Bauwerk

Wohnhäuser an der Rue des Suisses
Herzog & de Meuron - Paris (F) - 2000
Wohnhäuser an der Rue des Suisses, Foto: Margherita Spiluttini
Wohnhäuser an der Rue des Suisses, Foto: Margherita Spiluttini

Der versteckte Wohngarten

Herzog & de Meuron gehören zu den Schrittmachern der aktuellen Architekturszene. Mit ihrem 1999 fertiggestellten Umbau eines Londoner Kraftwerks in eines der weltgrössten Museen für moderne Kunst, die Tate Modern, hat sich das Basler Team endgültig einen Platz in der internationalen Liga der Toparchitekten gesichert.

1. Dezember 2000 - Roderick Hönig
Was aber, wenn diese hochgelobten Museumsspezialisten nicht ein verführerisches Kür-, sondern ein pragmatisches Pflichtprogramm zu absolvieren haben? Mit ihrem Ende November eingeweihten Bau, 57 Sozialwohnungen für Familien an der Rue des Suisses in Paris, beweisen Herzog & de Meuron, dass sie das Handwerk nicht verlernt haben: Im 14. Arrondissement - einem relativ zentral gelegenen Wohnquartier südlich der Seine - verzaubern sie einen unwirtlichen städtischen Restraum mit leichter Hand in eine intime und vielschichtige Wohnwelt.

Beginnen wir von vorne. 1996 lädt die Wohnbaugesellschaft der Stadt Paris eine Handvoll Architektenteams zu einem Wettbewerb ein. Gesucht werden Lösungen für ein rund 2730 Quadratmeter grosses Grundstück, dessen grösster Teil zwischen zwei langen Mauern im Hinterhof einer für das Quartier typischen Blockrandbebauung versteckt liegt. Herzog & de Meuron gewinnen die Konkurrenz mit einer ebenso sorgfältig auf die enge Nachbarschaft zugeschnittenen wie dreisten Lösung: Sorgfältig zugeschnitten deshalb, weil alle Baukörper direkt und differenziert auf ihre nächste Umgebung Bezug nehmen. Und dreist, weil das Ensemble eine Ansammlung architektonischer Zitate aus dem eigenen Werk ist.

Für das Wettbewerbsprojekt gruben die beiden Architekten im eigenen Fundus: Die beiden strassenseitigen Lücken des Gevierts füllen sie mit je einem siebengeschossigen Wohnblock, der auf dem Thema ihres viel publizierten Wohn- und Geschäftshauses mit den gusseisernen Faltläden an der Schützenmattstrasse in Basel aus dem Jahre 1993 basiert. Das eigentliche Kernstück des Ensembles, der dreigeschossige Hofbau, hat ein berühmtes Frühwerk als Vorbild: das holzverkleidete Basler Wohnhaus an der Scheidemauer aus dem Jahre 1988.

Den langgezogenen Zwischenraum im Hinterhof unterteilen die Architekten mit zwei Betonhütten, die je eine Zweizimmerwohnung enthalten. Diese Minihäuser lehnen sich formal an das karikaturistische Einfamilienhaus in Leymen bei Basel aus dem Jahre 1997 an. Herzog & de Meuron wären nicht Herzog & de Meuron, würden sie die Gratwanderung zwischen Zitat aus dem eigenen Fundus und Weiterentwicklung einer erprobten Typologie nicht meistern. Das Projekt ist trotz aller Referenz an frühere Bauten ein eigenständiges und vor allem ortsspezifisches Werk.

Die Architekten reagieren auf die zwei grundsätzlich unterschiedlichen Ausgangslagen: Strassenseite und Hof. Die strassenseitigen Mehrfamilienhäuser quetschen sich zwischen die unscheinbaren Nachbarhäuser aus dem 19. Jahrhundert. Um die Enge und die Spannung zwischen den Brandmauern zu betonen, wurde die vollständig verglaste Fassade des grösseren der beiden städtischen Betonskelettbauten mehrmals geknickt. Geschosshohe Faltläden aus Gitterblech hüllen die durchlaufenden Balkone wie ein grosser Vorhang ein. Sie geben dem Haus ein homogenes Fassadenbild und nehmen im Kleinen das Thema Falten wieder auf.

Im grösseren der beiden Lückenfüller befinden sich 33 Wohnungen, die sich - bis auf eine durchgehende Wohnung pro Geschoss - mit einem schmalen Balkon entweder zur Strassen- oder zur Hofseite orientieren. Diese knapp geschnittenen Wohnungen haben zwischen drei und vier Zimmer.

Im kleineren Hofrandbau finden sieben loftartige, rund 76 Quadratmeter grosse Geschosswohnungen Platz, in denen sich ein kleines Schlafzimmer gegen den ruhigeren Innenhof orientiert und ein luftiger Wohn- und Essraum, durch das innenliegende Treppenhaus unterteilt, von der Strasse bis zum Hof erstreckt. Ganz anders präsentiert sich die Situation im Hof des Gevierts. Erst auf den zweiten Blick gibt dieser Ort seine Qualitäten preis: Ruhe, Abgeschiedenheit, mit Efeu überwucherte Backsteinmauern, ein paar vergessene Bäume.

Dieser «Park» ist die Hauptattraktion des Ensembles. Der Grünstreifen ist mit rund 50 Bäumen bepflanzt. Herzog & de Meuron inszenieren den Hinterhof als versteckten Garten und möblieren ihn mit einem langen flachen Wohnblock mit 15 Drei- bis Fünfzimmerwohnungen und mit zwei Mini-Einfamilienhäusern.

Im Riegel sind alle Räume konsequent gegen Süden und den laubenartigen Balkonvorbau geöffnet. Mit den Holzjalousien regulieren die Bewohner den Grad der Öffnung. Wenn alle Läden, die in ihrem lässigen Schwung an die berühmten Pariser Metrostationen von Hector Guimard erinnern, geschlossen sind, wird das Haus vollends zum eleganten Möbelstück in dieser wundersamen Hinterhoflandschaft.

An die Rückseite sind, wie in den englischen Industriearbeitersiedlungen aus der Jahrhundertwende, fünf weitere kleine Betonhäuschen angebaut, worin sich jeweils Bad und Küche der Erdgeschosswohnungen befinden. Diese Anbauten unterteilen den engen Zwischenraum in intime Gartenhöfe. Wie mit den Klappläden an den beiden Lückenbauten übersetzen die Architekten mit dieser Hof-im-Hof-Idee auch hier ihre grosse Geste ins Kleine.

An der Rue des Suisses schafften Herzog & de Meuron also eine differenzierte Wohnwelt, die sich aus wichtigen Wohnhaustypen unserer Zeit zusammensetzt: Blockrand, Riegelbau und Einfamilienhaus. Damit bietet die Überbauung auf engstem Raum ein vielfältiges Wohnungsangebot und mit der geschickten Anordnung der Baukörper sehr unterschiedliche, attraktive Aussenräume, und fast alle Wohnungen haben viel Licht und einen Blick ins Grüne. Und das bei einem Quadratmeterpreis von 51 Francs pro Monat.

Fast könnte man sagen: In Paris schaffen Herzog & de Meuron die Quadratur des Kreises und erzählen nebenbei noch eine kleine Geschichte des urbanen Wohnens.

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