Bauwerk

WHA „wohnen morgen“
Ottokar Uhl - Hollabrunn (A) - 1968
WHA „wohnen morgen“, Foto: Margherita Spiluttini
WHA „wohnen morgen“, Foto: Margherita Spiluttini

Wie gestern morgen aussah

Ein Pionierwerk der 1970er-Jahre, das seinesgleichen sucht: die Wohnanlage „Wohnen morgen“ in Hollabrunn. In die Jahre gekommen - und doch ein Lehrstück über Architektur.

1. April 2006 - Walter Zschokke
Nieselregen ist kaum die ideale Witterung, einen 30 Jahre alten Wohnbau zu besichtigen. Aber wenn er solche Begleitumstände aushält, muss etwas dran sein. Der Gegenstand der Anschauung in Hollabrunn, die Wohnanlage „Wohnen morgen“ mit 70 Einheiten, ist ein singuläres Wohnbauprojekt seiner Zeit in Niederösterreich. Die Anlage wurde 1971 bis 1976 nach dem Gewinn eines programmatischen Wettbewerbs von Ottokar Uhl und Jos Weber mit Beteiligung der späteren Bewohner geplant und errichtet. Eine begleitende Forschungsarbeit untersuchte einerseits den Einsatz vorgefertigter Elemente und andererseits den Partizipationsprozess, einen der ersten seiner Art in Österreich. Nicht dass für jeden Wohnbau dieser Aufwand getrieben werden könnte und müsste; aber als ein Angelpunkt in der Geschichte des Wohnbaus in Österreich sollten die dabei gemachten Erfahrungen zum Programm hiesiger Architekturschulen gehören.

Die Architekten arbeiteten dabei nicht isoliert, sondern stützten sich auf Konzepte aus den Niederlanden, wo Hermann Hertzberger, Aldo van Eyck und andere mit „strukturaler Architektur“ international auf sich aufmerksam machten. Als Basis diente das System S.A.R. der „Stichting Architecten Research“, zu Deutsch „Stiftung Architekten Forschung“, einer Initiative des Bundes Niederländischer Architekten sowie von neun Architekturbüros, die eine breite Anwendung industrieller Fertigungsverfahren zugleich mit einer individuellen Ausprägung anstrebten (siehe auch den Beitrag Bernhard Stegers in dem Sammelband über Ottokar Uhl, Anton Pustet Verlag).

Wie damals üblich, begann man bei der Planung mit einem Raster und einem Modulmaß. Ein Basismodul von zehn Zentimetern ergab verdreifacht 30 Zentimeter. Aufgeteilt in zehn und 20 Zentimeter führte dies zu einem „Bandraster“, der die Möglichkeiten für die tragenden und trennenden Bauelemente festlegte - allerdings immer mit ausreichend Varianz. Denn ein starrer Raster kann leicht in den Irrsinn kippen. Ausgehend von diesem feinmaschigen Planungsnetz wurden in der Gebäudetiefe parallele „Zonen“ festgelegt, die sich von den Raumgrößen herleiteten. Auch hier wurde differenziert in Kernzonen und „Margen“, die der einen oder der anderen Kernzone, zwecks planerische Elastizität, zugeordnet werden konnten.

In der anderen Richtung legten konstruktive Elemente von der Art unterbrochener Mauerscheiben „Sektoren“ und Raumbegrenzungen fest. Als weiteres Ziel galt es, Rohbaustruktur und Ausbau klar zu trennen, um bei der Planung, aber auch später, bei einer Erneuerung, Veränderungen zu erleichtern, ohne die Tragstruktur antasten zu müssen. Mittlerweile steht die Historisierung dieser speziellen Strömung der Nachkriegsmoderne an, die industrialisiertes Bauen, Ökonomie und unterschiedliche Benutzerwünsche unter einen Hut bringen wollte. Weil ihnen dies noch zu wenig war, strebten die Architekten nach einer Demokratisierung des Planungsprozesses unter dem Stichwort „Partizipation“. Die vom Architektengenius gestaltete Form trat hingegen hinter diese Ansprüche zurück. Das sind, kurz zusammengefasst, die Prämissen, unter denen wir uns historisch-kritisch der Wohnanlage in Hollabrunn nähern wollen.

Was zuerst auffällt, ist die kräftige Tragstruktur aus Betonelementen - sie enthalten einen Zuschlag aus Blähton, um den Wärmedurchgang zu reduzieren. An den Stirnseiten der langen Trakte ist dieses Skelett mit Zementsteinwänden ausgefacht, während an den Längsseiten vorgefertigte Wand- und Fensterelemente in Leichtbauweise abwechseln. Die Primärstruktur des tragenden Skeletts gewinnt dabei eine städtebauliche Dimension. So wie sich im Mittelalter Wohn- und Gewerbenutzungen parasitär in den Großstrukturen römischer Amphitheater einnisteten, reihen sich hier die entsprechend den Nutzerwünschen innerhalb eines Sektors vorspringenden Terrassen oder Räume zufällig nebeneinander. Die Spannung zwischen Tragstruktur und Füllung wird zum architektonischen Ausdruck.

Nach 30 Jahren ist die Bepflanzung herangewachsen. Da und dort überwuchert wilder Wein die massiven Pfeiler und Träger - im Winter bloß als Rankennetz, der sommerliche Blättermantel lässt sich leicht dazudenken. Damit haben die Bewohner die Struktur nicht bloß mit ihren Außenwänden, sondern auch mit ihrer Bepflanzung interpretiert. Unterschiedliche Farben, teils auch Materialien, kommen dazu. Und wieder folgt das Prinzip nicht einem von einer einzigen Hand festgelegten Gesamtbild.

Im Erdgeschoß durchzieht je eine zentrale Ganghalle die drei langen Gebäudetrakte. Sie ist nur für die Bewohner zugänglich, und dient diesen als öffentliche Zone im Sinne des Binnenstädtebaus. Sie ist breit genug, dass hier Fahrräder und Kinderwagen stehen können. Der Kork an der Decke - als Wärmedämmung und mit schalldämpfender Wirkung - sieht noch überraschend gut aus.

Während die Leichtbetonelemente der Tragstruktur eher archaische Dimensionen aufweisen - was architektonisch durchaus positiv zu beurteilen ist -, sind die ebenfalls aus Elementen gefügten Treppen im Inneren erstaunlich schlank. Die Platten der Absätze sind für heutige Verhältnisse ungewohnt dünn, ebenso die plissierten Läufe. Und nochmals entsteht eine architektonisch-proportionale Spannung, diesmal zwischen den Elementen der Primärstruktur und jenen der Treppen. Freilich kommt da und dort die - damals übliche - geringe Überdeckung der Verteilarmierung zum Vorschein. An einigen Stellen rostet sie und führt zu Abplatzungen. Nicht dass solche kleinen Schäden auf die leichte Schulter zu nehmen wären, aber nach 30 Jahren stehen andere Fassaden ebenfalls zur Reparatur an, manche sogar früher.

Es sind jedoch nicht bautechnische Probleme, die zuvorderst nach Erneuerung rufen, sondern ein absehbarer Generationenwechsel in den Wohnungen und eine voraussichtliche wärmetechnische Gebäudesanierung, die demnächst zu Veränderungen führen könnten. Deshalb muss klar festgehalten werden, dass wir vor einem Pionierwerk stehen, wofür sich in Niederösterreich und selbst darüber hinaus wenig Vergleichbares finden wird. Und auch wenn die exakt arbeitenden Kunsthistoriker mit ihrer Beurteilung noch nicht in den 1970er-Jahren angelangt sind, werden weder eine genossenschaftliche Bauabteilung noch ein beliebiger planender Baumeister den vom Bauwerk gestellten Ansprüchen genügen und die nötige Denkarbeit für Pflege und Erneuerung leisten können. Denn die Erneuerung eines Pionierwerks ist ebenso sehr Pionierarbeit, wofür nur architektonisch wie bautechnisch höchst qualifizierte Fachleute infrage kommen. Alles andere wäre, gemessen an der aktuellen Initiative zur architektonischen Verbesserung des Wohnbaus in Niederösterreich, reine Schildbürgerei.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Spectrum

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Akteure

Architektur

Fotografie