Bauwerk

Wohnhaus am Hundsturm
ARTEC Architekten - Wien (A) - 2004

Nichts als städtische Poesie

Kreuz und quer durcheinander geschachtelt und ineinander verkeilt: vom riesigen Single- Loft bis zur kompakten Fünf-Zimmer-Wohnung. Zwei Wiener Wohnbauprojekte, die lieber polarisieren als Wohnmaschinen schaffen.

16. Oktober 2004 - Wojciech Czaja
Nach Biedermeier, Gründerzeit und Rotem Wien, nach dem offensiven Wiederaufbau in den Nachkriegsjahren und dem soziologischen Tatendrang der Achtzigerjahre befindet sich auch heute wieder der städtische Wohnbau auf einem neuerlichen Hoch. Wenngleich etwas pauschal durch die letzten 150 Jahre des Residierens durchgeschlüpft, so fällt am vorläufigen Ende dieser Entwicklung doch auf, dass der soziale Wohnbau für die breite Masse noch nie so unbeschwert und locker vom Hocker gegangen ist wie heute. Allem voran: ein gewisser Grad an Humor und an Individualisierung des Kollektivs.

Den Wunsch nach Individualität hat auch schon der Bauhaus-Architekt und „De Stijl“-Mitbegründer Jacobus Johannes Pieter Oud in seinem 1925 erschienenen Essay „Ja und Nein“ ausgesprochen. In diesen - wie er es nennt - „Bekenntnissen eines Architekten“ schreibt er: „Ich sehne mich nach einer Wohnung, welche alle Anforderungen meiner Bequemlichkeitsliebe befriedigt, doch ein Haus ist mir mehr als eine Wohnmaschine.“ Im Hinterkopf die Kritik am Maschinell-Seriellen, am permanent Gleichen, wird sich Ouds Kritik auch als Kritik an der Moskauer Narkomfin-Siedlung von Moses Ginsburg aus dem Jahre 1929 und den Unitées d'Habitation von Le Corbusier herausgestellt haben.

Auch heute noch lässt sich vielen heimischen Wohnbauten trotz 50 oder gar 80 dazwischenliegender Jahre eine Ähnlichkeit zu Ginsburgs oder Le Corbusiers Architektur nicht absprechen. Der State of the Art orientiert sich nach wie vor an den Errungenschaften der ewig gelobten und zitierten Moderne. Auch wenn sich das bisweilen allein auf die Ästhetisierung der eigentlich ja nie gestalteten, sondern immer nur „von innen nach außen“ entstandenen Fassade bezieht.

Zurück nach Wien, zurück ins Jetzt. Einmal Artec und einmal querkraft haben an unterschiedlichen Orten eben erst zwei völlig unterschiedliche Wohnbauten fertig gestellt, der eine steht in Margareten, der andere in Favoriten. Ihre Gemeinsamkeit jedoch liegt in einer gewiss hohen Übereinstimmung mit J. J. P. Ouds ehemals geäußerter Abneigung gegen eine Wohnmaschine. Schlagwort „flexible Grundrissgestaltung“: Vom riesigen Single-Loft bis zur kompakten Fünf-Zimmer-Wohnung reicht das genutzte Angebot beider Architekturbüros, kreuz und quer durcheinander geschachtelt und ineinander verkeilt. Dass das Durcheinander nicht nur den Grad des Innenausbaus, sondern letztlich auch das Bewohnerspektrum betrifft, ist in einer Umgebung gründerzeitlicher Monotonie eine wertvolle Nebenwirkung.

Die Artec-Architekten, weithin bekannt als Asketen des Materials und darum bemüht, dasselbe immer in seiner ursprünglichen Form zu verwenden, setzen auf Beton, Glas und Stahl. Die Mischek-Betonfertigteile sind mit zahllosen Tiefen und Vor- und Rücksprüngen vorgefertigt worden. Das Resultat erinnert an eines dieser 3D-Puzzles aus Karton, mit denen sich an mittelalterlich bedruckten Bergfrieden durch vorsichtiges Stecken eckige Erker andocken ließen. Diesmal jedoch in Artec-gerechtem Sichtbeton, versteht sich. „Der Eindruck des Skulpturalen stellt sich bei Bauwerken ein, die über eine sehr ausgeprägte strukturelle Komponente verfügen“, erklären die Artec-Architekten Bettina Götz und Richard Manahl und deuten dabei auf die Loggien und Balkone, die unterschiedlich weit die Straße überragen. Ein Spiel aus Vor und Zurück, als wäre jede Loggia eine Lade, die von innen heraus von unsichtbaren Hausgeistern gezogen und geschoben wird.

Und das fesselt. Denn das Haus hat eine große Fernwirkung. Nicht selten bleiben Passanten an dieser Kreuzung stehen, wo drei Straßen in einen Platz einmünden, und blicken etwas skeptisch acht Stockwerke hoch. Was man von da unten sieht, ist eine Collage aus Beton mit davor gesetzten Gitterrosten. Dass die kühle Strenge nicht allen gefällt, liegt auf der Hand. Doch selbst wenn spätestens im nächsten Sommer der Zufallsgenerator eingeklemmte Schilfrohr-Matten und darüber geworfene Perserteppiche hinzufügen wird, so animiert dieser Gedanke weniger zu einem Kopfschütteln als zu einem Lächeln. Selbst den beiden Architekten - auf der permanenten Suche nach der „komplexen Schönheit des Zufalls“ - kommt das durchaus gelegen.

Schließlich konnten es sich selbst diese beiden Asketen nicht verkneifen, ihrer Authentizitäts-These zum Trotz, im Spalt des optisch nach außen dringenden Stiegenhauses Farbe über acht Stockwerke zu gießen. Jedes Reglement lebt erst durch seine Ausnahmen - und das satte Grasgrün, das da aus der eigentlich recht unerotischen Zone der Vertikalerschließung in den Straßenraum dringt, ist sexy. Egal, ob Wand, Decke, Stiegengeländer, Liftschacht oder Türen - es grünt so grün, wenn Hundsturms Blüten blühen!

Grün ist auch die Leebgasse im ursprünglichen Arbeiterbezirk Favoriten. Wenngleich erst seit ein paar Wochen. Denn wenn schon von Erotik die Rede ist, so war diese Gasse ganz bestimmt meilenweit davon entfernt. An der querkräftigen Hausnummer 46 ragen nun Halme und Farne über die Straße. „Nur eine flexible Hülle zu bauen ist zu wenig“, erzählt querkraft, „ein Haus braucht ein Gesicht, vor allem im sozialen Wohnbau.“ Und in der Tat: Welch schönere Geste kann man sich in einer gänzlich zugebauten Gründerzeitgasse vorstellen, als etwas Grün eingestreut zu bekommen?

Konkret: Das Haus ist komplett verglast, als Gegenstück zu den hofseitigen Loggien ragen begehbare Gesimse (so die bauordnungsgemäße Definition der schmalen Stege) über die Straße. Glas auch hier. Um die Einblicke etwas zu filtern, hat Grafikerin Stephanie Lichtwitz, bekannt seit der grafischen Gestaltung für das Kunsthaus Graz, im Siebdruckverfahren ein unregelmäßiges Geflecht aus grasgrüner Flora auf die Glasscheiben drucken lassen.

Für innen also reine Funktion, für außen ist es nichts anderes als städtische Poesie. Genauso wie die dazwischengeworfenen Balkontüren, die diesmal - entgegen den Regeln der Baukunst - nicht transparent, sondern dicht sind. Nicht etwa weiß oder grau, sondern auch hier: tiefes, sattes Grün. Ein Alltagsbonus am Rande: Das bedeutet Geborgenheit im Winter, im heißen Sommer hingegen lassen sich die undurchdringlichen Elemente öffnen - eine Maßnahme, die die Fassaden in den Wohnräumen auf ein Minimum reduziert.

Ob es jedem gefällt? Und querkraft antwortet: „So ein Haus darf es geben, denn in einer Großstadt gibt es ja zum Glück ein breites Angebotsspektrum.“ Manchmal also ist es besser zu polarisieren. Denn Architektur ist und bleibt eine Frage des Geschmacks. So auch die Farbe. J. J. P. Oud im Jahre 1925: „Ich schwärme für die Wiederbelebung der Farbe in der Architektur.“

80 Jahre später geht sein Wunsch - zumindest auf lokaler Ebene - in Erfüllung: Wien blüht in Grün! Denn Humor darf sein. Und gleich daneben gesellt sich die chromatische Metapher, die vielleicht für einen neuerlichen Aufbruch im sozialen Wohnbau steht.

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