Bauwerk

Viadukt Millau
Michel Virlogeux - Millau (F) - 2004

Eine Autofahrt über den Wolken

Eiffels Enkel übertreffen den Meister: Im südfranzösischen Millau ist am Donnerstag die höchste Autobahnbrücke der Welt in Betrieb genommen worden. Das privat finanzierte Bauwerk bringt eines der letzten Nadelöhre auf der Fahrt in den Süden zum Verschwinden. Frankreichs neuer Stolz.

19. Dezember 2004 - Stefan Brändle
Der Bürgermeister von Millau, Jacques Goldfrain, hält den Zapfenzieher hinter dem Rücken bereit, als sich ein Auto nähert. Strahlend reicht er den „tire-bouchon“ durch die geöffnete Scheibe dem Lenker als Geschenk: Mit der Durchfahrt des ersten Personenwagens gehört der berüchtigte „bouchon“, der Stau beim Provinzort Millau nördlich der Cevennen, der Vergangenheit an. Der Zapfen ist beseitigt.

Während Jahrzehnten quälten sich bis zu fünfzig Kilometer lange Autokolonnen die steilen Bergflanken hinunter ins Tarn-Tal und am anderen Ende wieder hoch. Vor allem im Sommer brauchten die Ferienreisenden Stunden, um den Engpass zwischen Zentralmassiv und Mittelmeer zu überwinden. Jetzt strecken sie an der Zahlstelle 4.90 Euro hin und fahren, wenn sie an der Oberkante des Canyons angekommen sind, einfach geradeaus, sozusagen in den Himmel hinaus.

Unten im Tal hängen Nebelbänke zwischen den Stadtdächern und dem Talboden; oben umwehen Wolkenschwaden die weissen Brückenspitzen. 342 Meter über dem Tarn liegen sie, höher als der Eiffelturm. Die ersten Automobilisten, die an diesem Donnerstag den Viadukt überqueren, fahren langsam, um durch die gläsernen Windverschalungen auf den Brückenseiten möglichst viel von dem Naturschauspiel mitzubekommen. Nach dem ersten Schrägseil-Haltepfeiler glaubt man bereits, eine Brücke überquert zu haben. Aber es folgen noch sechs weitere Masten. Auf dem 2,5 Kilometer langen Viadukt bauen sich die Brückenelemente in der leichten Biegung wie Segelschiffe in den morgendlichen Dampfschwaden auf.

Stolze Reden

Die Franzosen begeistern sich seit Tagen am Schwung der Brücke im Norden von Montpellier, und Staatschef Chirac erkannte darin bei der Einweihung einen Ausdruck des modernen, neue Eroberungen tätigenden Frankreich. (Nebenbei machte er noch ein wenig Werbung für den Roquefortkäse aus der anschliessenden Larzac-Hochebene.) An diesem Donnerstag haben die ersten Brückenbenützer gegenüber den zahlreichen Lokalreportern nur ein Wort: Stolz, an diesem Jahrhundertwerk teilzuhaben. Etwas pragmatischer sieht es der ukrainische LKW-Chauffeur Valeri, der für einen spanischen Spediteur unterwegs ist und in gebrochenem Portugiesisch erklärt, warum er an diesem Morgen die A-75-Autobahn von Clermont-Ferrand über Millau nach Béziers genommen hat: Sie ist abgesehen vom Brückenzoll - 24 Euro für Laster - insgesamt billiger und kürzer als ihre grosse Schwester im Osten, die vielbefahrene Autoroute du Soleil durch das Rhonetal. Für Schweizer Südreisende stellt die A 75 indes keine Abkürzung dar.

Da sich nun der „bouchon“ bei Millau in Luft auflöst, dürfte diese zweite Nordsüdachse einen erklecklichen Teil des Transit- und Ferienverkehrs durch Südfrankreich aufnehmen. Proteste von Autogegnern oder Landschaftsschützern gab es kaum. Sogar der Globalisierungsgegner José Bové, der im Larzac südlich des Viadukts seine Schafe hütet, schweigt für einmal. Bloss zwei Gemeinden im Languedoc-Roussillon fürchten, dass sich der Stau von Millau vor ihre Tore verlagert. Bald sollen allerdings auch sie eine Umfahrung erhalten; dann wird die A 75 von Clermont-Ferrand bis ans Meer durchgängig sein.

Zwei Algerier, die über den Viadukt nach Marseille fahren, preisen das französische Genie. Der Viadukt von Millau ist in der Tat ein Bravourstück. Von den vier anfänglich vorliegenden Projekten wählten die Pariser Behörden das gewagteste, eleganteste, grosszügigste - und erst noch billigste.

Trotz intensivem Lobbying der nationalen Tiefbau-Industrie eliminierte die Regierung die drei Varianten herkömmlicher Betonbauweise (für Balken- oder Kastenträgerbrücken). Den Zuschlag erhielt der Baukonzern Eiffage, dessen Name auf Gustave Eiffel zurückgeht. Seiner illustren Vergangenheit treu bleibend, schlug das Unternehmen eine originelle Lösung vor: eine Fahrbahn aus Stahl. Der britische Architekt Norman Foster lieferte später sein filigranes Design dazu. Man suchte gar nicht erst wie andere die schmalste oder tiefste Stelle, um bei der Überquerung des Tarn-Tales Aufwand und Kosten zu sparen. Vielmehr setzte man die natürliche Hochplateau-Linie fort und kam damit auf eine stolze Brückenspannweite von insgesamt 2460 Metern - und das bei einer Pfeilerhöhe, wie sie die Welt bisher noch nie gesehen hatte.

Neuartige Montage

Diese Dimensionen stellten die Ingenieure vor ein neues Problem. Schrägseilbrücken dieser Art werden normalerweise errichtet, indem die horizontale Fahrbahn auf jedem Pfeiler in die Luft hinaus gebaut wird, und zwar in zwei Richtungen gleichzeitig, damit die Gewichtsbalance gewahrt bleibt. In Millau war das wegen der riesigen Ausmasse und Windstärken nicht möglich. Also verfiel der Chefingenieur auf eine fast unglaublich scheinende Idee: Er liess die stählerne Fahrbahn auf festem Boden zusammenschweissen und sie dann von den beiden Talseiten her auf die Brückenpfeiler aus Spezialbeton schieben. Man muss sich das plastisch vorstellen: Von Süden her wuchteten Hydraulikpumpen einen - erst noch leicht gebogenen - Stahlstrang von 1,7 Kilometern Länge (bei 32 Metern Breite und 4 Metern Höhe) im Schneckentempo auf weit auseinander stehende, mehrere hundert Meter hohe Stützpfeiler; von Norden her drang ein entsprechendes Fahrbahnstück von 700 Metern zur Talmitte hin vor. Zum Glück ist Stahl schwindelfrei.

Die mobilen Fahrbahnteile massgerecht auf die einzelnen Stütz- und Hilfspfeiler zu setzen, barg für die 3000 Beschäftigten ihrerseits eine gewaltige Schwierigkeit: Mit einem Totalgewicht von 34 000 Tonnen - dem Mehrfachen des Eiffelturmes - hingen die beiden gigantischen Stahlstränge zwischen den einzelnen Pfeilern mehr als einen halben Meter durch - so stark, dass die elastische Verformung vom Boden aus von blossem Auge zu erkennen war. Trotzdem trafen sie sich hoch über dem Tarn, nach einem Weg über die halbe Talschneise, mit der Präzision von fünf Zentimetern. Die nachher auf die Fahrbahn gesetzten Schrägseil-Pylonen halten die Fahrbahn nun auf einer geraden Linie. Als Test wurden einzelne Seile mit hundert Tonnen gespannt und wie eine Gitarrensaite losgelassen. Die Brücke schlug wie vorberechnet acht Zentimeter aus; aber die Schweissnähte - jede einzelne war mit Ultraschall kontrolliert worden - hielten allesamt. In Zukunft sollen sie auch Winden von bis zu 250 Kilometern pro Stunde standhalten. Bei einer Windstärke von 110 Kilometern pro Stunde können Lastwagen von der Strasse gefegt werden. Zweihundert Messgeräte, acht Beschäftigte und achtzehn Videokameras beobachten die Brücke rund um die Uhr.

Der Beton-Stahl-Konstruktion wird eine Lebensdauer von mindestens 120 Jahren eingeräumt. Vor allem die Eiffage-Stahlfiliale Eiffel leistete - wie schon beim Bau des Pariser Wahrzeichens vor 115 Jahren - ganze Arbeit. Foster, der unter anderem die Reichstagskuppel in Berlin gebaut hat, gilt hingegen nicht als Brückenspezialist; seine Themse-Passage musste er peinlicherweise wegen unerwarteter Schwingungen nachbessern. Dafür hinterlässt der Stararchitekt in Millau seine formale Handschrift. Der harte Einschnitt in die Landschaft wird gemildert durch die rationelle und transparente Bauweise in Weiss. Das Werk habe fast etwas Spirituelles, meint Foster und verweist auf die symbolische Zahl 7 der sieben Pfeiler, die sich wie von selbst aufgedrängt habe. „Als wir die Spannweiten überprüften, machten wir zudem überraschende Beobachtungen; so merkten wir zum Beispiel, dass der Abstand der zwei Hauptpfeiler im Vergleich zur Höhe dem goldenen Schnitt entspricht.“

Privater Betrieb

Trotz seinen gewaltigen Dimensionen kostete der Viadukt den Staat kaum etwas. Die Hauptkosten von 340 Millionen Euro trägt die Privatfirma Eiffage. Sie kann während der siebzigjährigen Konzession Durchfahrgebühren erheben und will die Baukosten schon Ende des nächsten Jahrzehnts amortisieren. Da die Bauzeit in die Konzessionsdauer fällt, leistete sich Eiffage auch keine Bauverzögerungen - die Brücke wurde gar einen Monat früher als geplant in Betrieb genommen. In Paris, wo Grösse selbstverständlich immer noch vor Geld kommt, hat man seit einiger Zeit gelernt: Grossprojekte werden nicht mehr à fonds perdu finanziert und auch nicht einer wackligen Privatfinanzierung überlassen.

Aber Grösse hat noch einen anderen Preis. Demokratische oder ökologische Rücksichten wurden in Millau klein geschrieben: In der Hauptstadt beschlossene Dringlichkeitsverfahren pflegen die Befragung der Anwohner hinfällig zu machen. Ein seltsames Umweltverständnis illustrierte Chirac auch bei der Einweihung der Autobahnbrücke, die er vollmundig als Mittel gegen die Klimaerwärmung und den Treibhauseffekt pries.

Für den kartesianischen und fortschrittsgläubigen Franzosen steht der Mensch, dieses grossartige Vernunftwesen, nun einmal weit über der Natur. Auch dann, wenn er am Steuer seines Vehikels über das Nebelmeer bei Millau chauffiert.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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