Bauwerk

Viadukt Millau
Michel Virlogeux - Millau (F) - 2004
Viadukt Millau, Foto: Nigel Young © Foster & Partners

Harfenreihe über dem Tarn

Der konzeptionelle Entwurf für den Viadukt über den Tarn bei Millau kam aus dem französischen Verkehrsministerium – ein »Behördenentwurf« des renommierten Ingenieurs Michel Virlogeux. Es bedurfte eines internationalen Expertengremiums, eines eigenwilligen Wettbewerbs und der gestalterischen Ausarbeitung durch Norman Foster, bis dieses kühne Bauwerk realisiert werden konnte.

4. Februar 2006 - René Walther
Der Viadukt von Millau, der auf einer Länge von 2400 Metern und in einer Höhe von bis zu 260 Metern das tief eingeschnittene Tal des Tarn überquert, hat weltweit große, meist anerkennende, teilweise aber auch kritische Beachtung gefunden.

Schon im Vorfeld der Planung waren seitens der Anwohner und des Landschaftsschutzes Befürchtungen geäußert worden, ein derart gigantisches Bauwerk, mit Pylon-Pfeilern höher als der Eiffelturm, könne das Tal verunstalten, und es wurde immer wieder die Frage gestellt, ob nicht eine sanftere Lösung mit einer bescheideneren Brücke unten im Tal angemessener wäre. Dazu hätte man aber auf beiden Talflanken Höhenunterschiede von rund 200 Metern überwinden müssen. Die mit der Planung beauftrage SETRA, das Ingenieurbüro des französischen Verkehrsministeriums, hatte diese Frage eingehend geprüft und dazu mehrere Alternativen ausgearbeitet, so zum Beispiel weit ausholende, kurvenreiche Rampen, die jedoch in den Talflanken große, die Landschaft zerstörende Einschnitte verursacht hätten. Auch eine Variante mit Tunnelrampen wurde erwogen; diese wären allerdings wegen der erforderlichen großen Länge sehr kostenintensiv und gleichzeitig wenig benutzerfreundlich gewesen. Vor allem aber ergaben Berechnungen, dass eine solche Lösung zu einem beträchtlichen Treibstoff-Mehrverbrauch geführt hätte, der weder volkswirtschaftlich noch ökologisch zu vertreten wäre. Zudem hätte sich bei einer solchen Variante die Absicht, den Bau und die Finanzierung dieses kurzen, aber teuren Autobahnabschnittes einem privaten Betreiber zu übertragen und diesem die Konzession zur Erhebung von Gebühren zu erteilen, nur schwer umsetzen lassen.

Aufgrund dieser Sachlage kam auch die eigens für dieses Projekt konstituierte, internationale Expertenkommission zu dem Schluss, dass eine hohe Talbrücke die zweckmäßigste Lösung darstelle. Die SETRA hatte bereits unter Leitung von Michel Virlogeux das Konzept für eine mehrfeldrige Schrägseilbrücke ausgearbeitet, das weitgehend dem schließlich ausgeführten Bauwerk entsprach.

Wie schon in Deutschland am Beispiel der Kochertalbrücke verdeutlicht, hat sich auch hier erwiesen, dass eine gut gestaltete, hohe Talbrücke sich durchaus harmonisch in die Landschaft integrieren lässt.

Dank der unbestreitbar transparenten Eleganz des Grand Viaduc de Millau sind die kritischen Stimmen, die vor dem vermeintlichen Gigantismus gewarnt hatten, weitgehend verstummt und die anfänglich zum Teil skeptischen Anwohner blicken heute mit Stolz auf das neue Wahrzeichen ihrer Region.

Wettbewerb – étude de définition

Mit der grundsätzlichen Zustimmung des Expertengremiums war damals die Realisierung des Projektes keineswegs gesichert. Der Gedanke, das bedeutendste Brückenbauwerk der Grande Nation lediglich aufgrund eines Behördenentwurfes zur Submission freizugeben, stieß vor allem bei Politikern und Architekten auf großen Widerstand, die alle vehement einen Wettbewerb verlangten. Diesem Wunsch wurde stattgegeben, wobei jedoch die Behörden eine besondere, bisher noch nie durchgeführte Form eines Wettbewerbes wählten, die mit der Worthülse »étude de définition« versehen wurde, obwohl dabei eigentlich nichts zu definieren war.

Tatsächlich wurden fünf namhafte Architekten gegen eine angemessene Aufwandsentschädigung beauftragt, ein ihnen bindend vorgeschriebenes, von den Veranstaltern als denkbar erachtetes Brückensystem – Durchlaufträger konstanter und variabler Höhe / Bogenbrücke / unterspannte Träger und Schrägseilbrücke – auszuarbeiten; ein etwas unkonventionelles Verfahren, da normalerweise das Tragsystems nicht vorgegeben, sondern erst das Ergebnis kreativer Projektierungsarbeit ist.

Die vier nicht ausgeführten Entwürfe schlugen, in kurzen Worten – und mit der kritischen Freimütigkeit kommentiert, die sich ein Jurybericht nicht erlauben kann – folgende Lösungen vor: Das Projekt eines Durchlaufträgers konstanter Bauhöhe, eine reine Stahlkonstruktion, sah zehn Felder zu 192 m und über den Tarn ein unterspanntes Feld von 384 m Länge vor. Da die äußerst schlanken Stahlstützen eindeutig unterdimensioniert waren und die Stabilität insbesondere unter Windbeanspruchung nicht gewährleistet war, konnte dieses Projekt nicht weiter in Betracht gezogen werden, zumal auch seine Gestaltung nicht zu überzeugen vermochte.

Für die Lösung eines Durchlaufträgers mit variabler Bauhöhe schlugen die Projektverfasser vor, Y-förmige Stützen anzuordnen. Über diesen Stützen waren auf eine Länge von je 180 Metern Hohlkastenträger in Ortbeton vorgesehen; die verbleibenden Zwischenräume von je 160 Metern Länge wären danach durch leichte Stahlhohlkästen geschlossen worden, die am Boden montiert und anschließend in die Soll-Lage angehoben werden sollten. Bei diesem sehr sorgfältig bearbeiteten und generell positiv beurteilten Projekt wurde hauptsächlich bemängelt, dass eine sehr hohe Stütze mitten ins Flussbett zu stehen gekommen wäre.

Für die Überquerung tiefer Täler bieten sich im Prinzip Bogenbrücken als elegante Lösung an. Das mit dieser Variante beauftragte Team schlug einen Betonbogen mit einer Rekordspannweite von 602 Metern vor, der im freien Vorbau mit Schrägseilabspannungen erstellt werden sollte, was einige technische Probleme, vor allem aber hohe Kosten verursacht hätte. Bei Bögen mit anschließenden Vorlandbrücken stellt sich immer wieder das heikle Problem, wie der Übergang von den für einen Bogen günstigen, engen Ständerabständen zu den für die Vorlandbrücke erwünschten, weit größeren Stützenabständen harmonisch gestaltet werden kann, was im vorliegenden Fall nur bedingt gelang.

Bei der sehr großen Höhe der Brücke hätte sich eine Lösung mit unterspannten Trägern grundsätzlich durchaus als zwecksmäßig erweisen können. Der mit dem Studium dieser Variante beauftragte Architekt führte diese an sich einleuchtende Idee jedoch im Bestreben nach größtmöglicher Originalität ad absurdum, indem er gigantische Raumfachwerkpfeiler sowie eine unnötig komplizierte Unterspannung in drei gespreizten Ebenen vorschlug.

Ausführung als mehrfeldrige Schrägseilbrücke

Man kann sich fragen, ob einer mehrfeldrige Schrägseilbrücke in so großer Höhe über dem Tal zweckmäßig sei, denn die 90 Meter hohen Pylone auf den ohnehin schon sehr hohen Pfeilern und die Abspannkabel vergrößern natürlich die bei einem solchen Bauwerk kritischen Windbeanspruchungen ganz maßgeblich; ein Problem, das aber dank eingehender Untersuchungen lösbar erschien und – wie sich zeigte – auch war. Die Expertenkommission kam daher zum einstimmigen Schluss, dass dieser Lösung der Vorzug zu geben sei. Neben ihrer unbestreitbar transparenten Eleganz hat sie den entscheidenden Vorteil, dass die Benutzer die Brücke als solche wahrnehmen.

Das ausgeführte Projekt entspricht weitgehend dem damaligen Entwurf Virlogeux'. Da er aber zwischenzeitlich die SETRA verlassen hatte, durfte er als ehemalig beamteter Initiator auf obrigkeitliche Verfügung hin offiziell nicht mehr als Projektverfasser auftreten, was er aber insgeheim trotzdem bleibt. Daher übernahm es Sir Norman Foster – er war damals noch nicht Lord – das Projekt, dem er architektonisch den letzten Schliff gegeben hatte, vor der Jury und den Medien zu vertreten, weshalb lange Zeit auch nur er als Projektverantwortlicher genannt wurde.

Beton- oder Stahlbrücke

Für die öffentliche Ausschreibung wurde sowohl eine Variante mit Versteifungsträgern aus Beton als auch eine solche in Stahl ausgearbeitet, die beide in ihrer äußeren Form praktisch identisch waren. Da ein Deck aus Stahl rund vier Mal leichter aber auch etwa vier Mal teurer ist als eines aus Beton, andererseits aber entsprechend weniger kostenintensive Schrägseile benötigt, schienen beide Lösungen, was die reinen Gestehungskosten betraf, etwa gleichwertig zu sein. Dies war, wie die von dem ausführenden Konsortium »Compagnie EIFFAGE du Viaduc de Millau« für beide Varianten eingereichten Angebote zeigten, auch tatsächlich der Fall.

Bauvorgang

Normalerweise werden Schrägseilbrücken von den Pylonen aus im freien Vorbau erstellt. Das hätte in diesem Fall aber zu beträchtlichen Problemen geführt, denn eine mehrfeldrige Brücke auf sehr hohen und möglichst schlanken Pfeilern erhält ihre erforderliche Stabilität erst, wenn die Felder kontinuierlich geschlossen sind. Im Bauzustand hätten die auf jeder Seite bis zu 170 Meter weiten Auskragungen durch Abspannseile gegen Windkräfte stabilisiert werden müssen, was ein riskantes Unterfangen gewesen wäre. EIFFAGE schlug daher zum allgemeinen Erstaunen vor, die Brücke im Taktschiebeverfahren zu erstellen, was in dieser Form und Größe zuvor noch nie erprobt worden war. Dazu kam nur die Variante mit Stahldeck in Frage, welches von beiden Ufern her sukzessive über die Betonpfeiler und die bis zu 180 Meter hohen, provisorischen Zwischenstützen eingeschoben wurde. Der Pylon und die Schrägseile des vordersten Feldes wurden bereits an Land montiert und zusammen mit dem Deck eingeschoben, so dass die Vorbauspitze sowohl als Vorbauschnabel diente als auch ermöglichte, auf eine überhohe Hilfsstütze im Tarn zu verzichten.

Da die nachfolgenden, noch nicht mit Pylonen und Abspannungen versehenen Felder Spannweiten von 170 Metern Länge zu überwinden hatten, aber nur 4,2 Meter Bauhöhe aufwiesen (Schlankheit L/h > 170/4.2 > 40), traten beim Taktvorschieben und beim nachmaligen Transport der 700 t schweren Pylone wie erwartet sehr große und für Uneingeweihte etwas beunruhigende Durchbiegungen auf. Die Stahlspannungen blieben dabei gerade noch im elastischen Bereich, und das Deck kam nach der Montage der Pylone und der Kabel genau in die Soll-Lage zu liegen. Man wird sich vielleicht fragen, wieso nicht gleich alle Schrägseilabspannungen beim Vorbau montiert wurden, was die temporären Durchbiegungen beträchtlich vermindert hätte. Dies war jedoch aufgrund von Terminschwierigkeiten bei der Lieferung der Pylone nicht möglich.

Schlussbemerkungen

Die in jeder Hinsicht gelungene Realisierung dieses imposanten Bauwerkes ist zweifellos ein technisches Meisterwerk erster Güte und auch ein Beispiel dafür, was erreicht werden kann, wenn Ingenieure und Architekten gegenseitig befruchtend zusammenarbeiten. Trotz der notwendigerweise sehr großen Abmessungen der Pfeiler wirken diese dank ihrer vom Architekten gewählten Querschnittsform schlank und elegant.

Die deutsche Firma Peri hat dazu ein raffiniertes Schalungssystem entwickelt, mit welchem sich die recht kompliziert geformten, variablen Querschnitte einwandfrei herstellen ließen. Besonderes Lob gebührt aber der Compagnie EIFFAGE, die den Mut und die Fachkompetenz hatte, für die Montage eine völlig neue Methode zu entwickeln und auch erfolgreich umzusetzen. Das von ihr erstellte Bauwerk besticht auch bezüglich seiner in allen Details hervorragenden Ausführungsqualität.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

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