Bauwerk

Justizzentrum Leoben
Hohensinn Architektur - Leoben (A) - 2004

Frei hinter Gittern

Vor genau zwei Jahren wurde die Justizanstalt Leoben bezogen. Hat sich das innovative Modell bewährt?

3. März 2007 - Wojciech Czaja
Vor zwei Jahren hatte die Justizanstalt Leoben ihre Pforten geöffnet - beziehungsweise geschlossen. Je nach Sichtweise der Dinge. Das völlig unorthodoxe Gefängnis von Architekt Josef Hohensinn, der als Sieger aus einem EU-weiten Wettbewerb hervorgegangen war, geisterte durch alle Zeitungen, Lifestylemagazine und TV-Sender. Die Rede war vom Designerhäfen, Architektenknast und Fünfsternehotel. Doch was ist wirklich dran am „Schöner Sitzen“ - wie seinerzeit ein Bericht in der Wochenzeitung profil betitelt wurde?

Zeit für eine Zwischenbilanz nach 24 Monaten Betrieb. Besonders in der Architektur hinter Gittern ist jede Diskussion obsolet, wenn sie nicht aus der alltäglichen Praxis genährt werden kann, sind doch die Häftlinge dazu verdonnert, wider Bestreben eine Langzeitbeobachtung ihres einstweiligen Wohnens zu machen. Zu den gängigen Fragen des Ästhetischen, Technischen und Funktionalen gesellt sich die nicht unwesentliche Komponente des Sozialen.

Man möge es als eine geistige Entwicklung des Menschen betrachten, dass die Zeiten des unwürdigen Einkerkerns schon lange vorbei sind. Heute ist hinlänglich bekannt, dass Inhaftierung und Alltagsentzug zu folgenreichen Haftschäden führen. Nicht selten haben ehemals Inhaftierte mit enormen Resozialisierungsproblemen zu kämpfen. Die Gründe dafür liegen in der Art und Weise des Inhaftierens: „In der Regel werden Häftlinge an den Pranger gestellt und entmündigt“, erklärt Architekt Josef Hohensinn, „doch unabhängig ihrer Geschichte hat man immer noch mit Menschen zu tun und muss ihnen ermöglichen und zubilligen, aufrechte Haltung zu wahren.“

Hohensinn stellte daher nicht nur ein fesches Haus auf die Beine, sondern setzte sich auch mit der Geschichte und Kultur des Bestrafens auseinander: „Erst seit den Siebzigerjahren ist es in Österreich nicht mehr gestattet, physisch - also beispielsweise durch Nahrungsentzug oder Dunkelhaft - zu strafen. Das heißt, dass das Justizsystem vor dreißig Jahren neu überdacht wurde“, so Hohensinn, „doch die Architektur ist nach wie vor die gleiche.“ Und tatsächlich ist in Österreich in den vergangenen vierzig Jahren kein Gefängnisneubau mehr erfolgt.

„Schöner Sitzen“ in Leoben - das beinhaltet reichlich Kunst am Bau, vor allem aber helle und luftige Räume mit einem eigenen WC und einer Dusche innerhalb der Zelle sowie Möbel, die nicht nach Justizanstalt riechen, sondern den unbeschwerten Eindruck von Ikea, kika und Leiner versprühen. Letzteres ist übrigens ein Kunstbeitrag von Flora Neuwirth; sie wollte Standardmöbel eingesetzt wissen, die man womöglich auch von zu Hause kennt.

Doch den radikalsten Eingriff ins österreichische Justizsystem heckte Hohensinn mit den so genannten Wohngruppen aus - und hatte dabei vollste Unterstützung von Justizministerium, Anstaltsleitung und Vollzugszentrum. Als Ergänzung zum Normalvollzug, in dem sich die Insassen 23 Stunden am Tag in ihrer Zelle aufhalten müssen, gibt es in Leoben zusätzlich einen Wohngruppenvollzug, in dessen Rahmen sich die Häftlinge innerhalb ihrer Gruppe mit 14 anderen Wohnkollegen frei bewegen können. Zu den Gemeinschaftsbereichen innerhalb einer solchen Riesenzelle gehören Wohnküche, Wohnzimmer und eine Loggia, die es ermöglicht, selbst im Knast an die frische Luft zu treten. Dass die Loggia, wie alles andere auch, vollends vergittert ist, versteht sich von selbst.

Nach zweijährigem Betrieb lässt sich feststellen, dass der Strafvollzug bisher ohne Blessuren über die Bühne ging. Anstaltsleiter Manfred Gießauf erklärt: „Es überrascht uns sehr, dass es innerhalb der gesamten Zeit in den Wohngruppen keine Streitereien und Eskalationen gegeben hat.“ Zwar obliege es letztlich der Gefängnisleitung, wer in Einzelhaft und wer in Wohngruppen untergebracht wird, doch können die Häftlinge Wünsche äußern. „Einige werden von uns auch gegen ihren Willen zu einer Unterbringung in der Wohngruppe forciert, vor allem dann, wenn das Ende der Inhaftierungszeit naht und wir die Leute auf ihre Resozialisierung vorbereiten müssen.“

Viele Menschen seien von diesem lockeren Vollzugssystem überrascht, zumal es in Österreich einmalig und in Europa in dieser Form immer noch einzigartig ist. „Der Wunsch nach einer solchen Anstalt reicht schon fast 25 Jahre zurück, doch ohne persönliches Engagement wäre die Realisierung niemals zustande gekommen“, erklärt Gießauf, „mein Amtsvorgänger Josef Adam ist für seine Liberalität bekannt und hat einen wesentlichen Schritt in diese Richtung gesetzt.“ Gelegentlich komme es vor, dass konservativere Gefängnisdirektoren Leoben besuchen und sich über die vorgefundene Lockerheit alterieren. Ein Gefängnis sei schließlich immer noch ein Gefängnis, nicht wahr? So solle es doch bitteschön sein.

Doch Architekt und Direktor können aus zwei Jahren Erfahrung schöpfen: „Die Außensicherung dieser Anlage ist perfekt und entspricht dem technischen Stand der Dinge. Es spricht nichts dagegen, den Ablauf innerhalb dieser Mauern für alle Beteiligten so angenehm wie möglich zu gestalten.“ Der Freiheitsentzug strafe bereits zu Genüge. Daher gelte es, innerhalb dieser ohnehin eingeschränkten Umstände Anstand zu wahren.

Das entspricht auch einem in die Gefängnismauer gemeißelten Satz, der einen Bestandteil von „Kunst am Bau“ ausmacht - ein Projekt von Eugen Hein. Zitiert wird der „Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte“ aus dem Jahre 1966: „Jeder, dem seine Freiheit entzogen ist, muss menschlich und mit Achtung vor der dem Menschen innewohnenden Würde behandelt werden.“

Den hieb- und stichfestesten Beweis, der für das Leobener Modell spricht, liefert eine Studie des Institutes für Strafrecht und Kriminologie der Universität Wien. Im Auftrag des Justizministeriums startete Ireen Friedrich, ihres Zeichens wissenschaftliche Assistentin, eine empirische Untersuchung in zwei Schritten. „Zunächst haben wir eine Erhebung im alten Dominikanerkloster gemacht“, erklärt Friedrich, „nach fünf Monaten haben wir mit den Insassen und Justizwachbediensteten die gleiche Prozedur im Neubau wiederholt.“

Auf einen Aspekt dürfe man in der Diskussion jedoch nicht vergessen: Den 200 Häftlingen stehen rund 60 Bedienstete gegenüber. Auch sie sitzen innerhalb der Gefängnismauern, auch sie sehen den ganzen Tag Stacheldraht. Der Job sei nicht zu unterschätzen. Ireen Friedrich bringt das Ergebnis ihrer Studie, die im Juni dieses Jahres veröffentlicht wird, auf den Punkt: „Die präventiven Maßnahmen im gelockerten Strafvollzug haben gegriffen, zwischen Insassen und Personal hat sich im Verhältnis zum alten Gefangenenhaus ein überaus entspanntes Verhältnis eingestellt, und die Vandalismusrate ist drastisch gesunken.“

Und was sagen die Häftlinge? Zwei Drittel aller Inhaftierten bewerten die neue Anlage mit der Note „sehr gut“, im Dominikanerkloster hatte sich gerade einmal eine einzige Person zu einem „sehr gut“ überwinden können. Die Hälfte der Befragten zeigt sich sehr erfreut über Kunst und Architektur, 43 Prozent sind sogar der Meinung, an der Anstalt müsse nichts geändert werden. Der Preis für dieses überaus positive Zeugnis: 46 Millionen Euro. Damit liegen die Baukosten für ein Gefängnis dieser Größenordnung im internationalen Durchschnitt.

Doch auch abseits aller statistischen Werte ist die Stimmung innerhalb der Justizanstalt angenehm entspannt. Anstaltsleiter und Häftlinge plaudern, nehmen einander aufs Korn und haben gelernt, hierarchielos miteinander zu kommunizieren. Ganz kurz muss man schmunzeln und lachen. Die Architektur ist hier ihrer ureigensten Aufgabe nachgekommen: Sie hat den Lebensraum des Menschen schön und würdevoll geformt. Das ist der kleine Beitrag, den sie leisten kann. Zu nicht mehr und nicht weniger ist Architektur imstande.

Und den populistischen Skeptikern dieses mit Applaus zu begrüßenden und sichtlich erfolgreichen Modells, jenen Nörglern, die mit Begriffen wie Luxusknast und Fünfsternehotel um sich werfen, sei gesagt: Knast bleibt Knast - ganz gleich, wie viele bunte Ikea-Stühle es vom Himmel regnet. Q

In Kürze wird die Bundesimmobiliengesellschaft (BIG) einen EU-weiten Wettbewerb für das Justizzentrum Wien Mitte ausloben. Der Neubau in der Baumgasse wird Gericht und Gefängnis beherbergen. Vielleicht lassen sich die teilnehmenden Architektinnen und Architekten vom Erfolgsbeispiel inspirieren. Siehe auch: Justizanstalt Innsbruck von Architekt Dieter Mathoi.

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