Bauwerk

Haus Tugendhat
Ludwig Mies van der Rohe - Brünn (CZ) - 1930

Mies und Onyx in Brünn

Es war kein „Ausstellungswohnen“ in jenem Haus, wie es oftmals kolportiert wurde, sondern die Formulierung eines Ideals: des modernen Wohnens. Die Villa Tugendhat in Brünn nach ihrer Rekonstruktion.

25. Februar 2012
Der diskrete Charme der Brünner Bourgeoisie, sozusagen. Von der Straße sieht die Villa Tugendhat wie eine Tankstelle aus. Schon wegen der großen Garagenschiebetür. Es wird berichtet, dass hier immer wieder Menschen vorkommen, die herumirren auf der Suche nach dem berühmten Architekturdenkmal, obwohl sie an ihm gerade ein paar Mal vorbeigegangen sind. Achtlos für das Unauffällige, so sind wir eben. Wir sehen nur, was wir wissen. Von der Villa Tugendhat, die in den Hang direkt auf die Straße anschließend gebaut wurde, wird ja fast ausschließlich die Gartenseite auf Fotos abgebildet. Die ist tatsächlich monumental.

Unmittelbar bevor das Wohnhaus fertig war, im Dezember 1930, dachten die Anrainer in dem eher kleinbürgerlichen Wohnviertel ?erná pole, ob nun da, wo einst die Gartenlaube stand, der Fabrikant Alfred Löw-Beer nicht eine neue Textilfabrik errichten lässt, so ungewöhnlich erschien der Neubau. Ungewöhnlich sogar in einer Stadt, in der um 1930 die funktionalistische Architektur so alltäglich war wie etwa der Jugendstil in Wien um 1910. Funktionalismus war die Staatsbaukunst der neuen Tschechoslowakei: unverkennbar zweckmäßig, zukunftsorientiert, zumeist elegant, wiewohl ein wenig zu ernst. Mittlerweile hat sich der Fachbegriff „Brünner Funktionalismus“ auch international eingebürgert.

Die Menschen von Schwarze Felder, wie die Gegend auf Deutsch hieß, konnten sich nicht vorstellen, die Tochter einer der reichsten Familien der Stadt könnte in so etwas wohnen. Genial. Diese Diskretion. Diese öffentliche Zurückhaltung, fast Unsichtbarkeit. Innen war es ganz anders. Einer der ausländischen Kritiker, der französische marxistische Architekt Roger Ginsberger, befand 1931, das Haus sei „unmoralischer Luxus“. Angeben wollten Grete und Fritz Tugendhat nicht, weder mit Luxus noch mit Modernität. Sie galten ohnehin als links. „Wir stellten uns ein viel kleineres und bescheideneres Haus vor“, schrieben sie. Dann aber, scheint es, sind sie dem Furor des Bauens erlegen, einem Furor miesis, sozusagen, dem Charme des Architekten. Es wird berichtet, Ludwig Mies van der Rohe konnte kaum jemand widerstehen, wenn er, der eher als schweigsam galt, über seine Architekturvorstellungen zu reden begann. Man kann auch sagen, das Haus Tugendhat ist so passiert - und das ist gut so. Nachdem es öffentlich zugänglich gemacht wurde, in den 1990er-Jahren, ist es der attraktivste Anziehungspunkt der Stadt. Andere sehenswerte funktionalistische Bauten profitieren von der Popularität erheblich.

So passiert auch deshalb, weil Mies gleichzeitig am Ausstellungspavillon für Barcelona arbeitete, der als das radikalste gebaute Manifest der Moderne gilt. Das Haus sei geeignet bloß zum „Ausstellungswohnen“, vermuteten Kritiker, die es meist nur in schwarz-weißen Zeitschriftenfotos betreten hatten. Das Gegenteil traf zu, das sieht man nun nach der geradezu lustvoll peniblen Rekonstruktion besonders deutlich. Mies und das Ehepaar Tugendhat formulierten das Ideal des modernen Wohnens.
Volkstümliches Mausoleum

Erst jetzt, nach der tollen Renovierung, nach der totalen Als-ob-Wiederherstellung, stimmt das böse Wort vom Ausstellungswohnen. Alles ist so, wie es einst gewesen sein könnte, denn fast alles musste neu angeschafft werden, penibel präzise nach den vorhandenen und erforschten Vorlagen. Die Villa Tugendhat ist ein volkstümliches Mausoleum des großbürgerlichen Charmes geworden.

Als ob das Haus Tugendhat durch eine wunderbare Zeitmaschine in die Zeit zwischen dem Winter 1930, als die Tugendhats eingezogen waren, und Sommer 1938, als sie ihr Haus auf der Flucht vor den Nazis verlassen mussten, versetzt und die Familie nun nur kurz anderswohin gegangen wäre, so sieht es hier jetzt aus. Eine im Grunde zeitlose Inszenierung. Es sieht aus und riecht wohl auch genau so wie in den ersten Tagen nach der Fertigstellung im Dezember 1930. Alles ist neu oder wie neu, glänzend, alles perfekt, präzise Handwerker- und Technikerarbeit nach präziser wissenschaftlicher Grundlagenforschung. Beraten und überwacht von einer Gruppe ausländischer Experten unter dem Ehrenvorsitz von Daniela Hammer-Tugendhat, der Tochter von Grete und Fritz Tugendhat, selbst eine renommierte Kunsthistorikerin in Wien und die wohl beste Kennerin des Hauses. Geld gab es ausreichend für all die Notwendigkeiten, Wünsche, Sonderwünsche und Sonderanfertigungen, 180 Millionen Kronen, über sieben Millionen Euro, da konnte nichts schiefgehen. So viel ist es auch nicht, wenn man bedenkt, dass schwierige Fundierungsreparaturen erforderlich waren, weil das Haus auf dem Hang zu rutschen begann.

Die ideale Restaurierung ist zur Reinszenierung eines Ideals geworden. Man geht durch und staunt über all die glänzenden Leistungen. Manchmal denkt man sich, ob weniger nicht mehr gewesen wäre. Ob man auf die eine oder andere Anschaffung doch nicht hätte verzichten können, auf das nachgebaute Kinderbett im Schlafzimmer etwa oder den Oldtimer Tatra 57 in der Garage. Ob dann nicht jene Aspekte besser zu sehen wären, die architekturgeschichtlich wirklich wichtig sind, aber zu unauffällig, um in der geballten Wucht der lebensnahen, mitunter allzu nah gehenden Authentizität zu bestehen. Das Problem kennen wir bereits aus der Villa Müller von Adolf Loos in Prag, wo die Reinszenierung des neubürgerlichen Wohnideals vor rund zehn Jahren auf die Art der Bis-zum-letzten-Detail-Authentizität durchgeführt wurde. Mustergültig nun auch für die Villa Tugendhat und erkenntnisreich für alle weiteren Fälle, wo immer sie auftreten. Man nennt diese Moderne ja nicht ohne Grund Internationaler Stil.

Andererseits freut man sich als sogenannter Kenner fast kleinheimlich, es so vorzufinden. Tatsächlich gilt besonders in jenen Fällen, in denen es um derart ultimative Immobilien der klassischen Moderne geht wie das Looshaus in Wien, die Villa Müller in Prag, die Villa Tugendhat in Brünn oder das Haus Wittgenstein in Wien, wenn man A sagt, muss man auch B und auch C sagen und so weiter. Das Problem der in ihrer Gesamtheit dringend renovierungsbedürftigen Moderne ist leicht zu illustrieren: In einem barocken Ambiente stört ein neuer Schalter, ein neuer Radiator, selbst ein Möbelstück aus einem Kaufhaus kaum. In einem funktionalistischen wirken derartige Einbringungen verheerend. Klassische Moderne zu reparieren ist ein Fluch. Hinein!

Von der Straße sieht man nur das Obergeschoß. Da sind die fünf Schlafzimmer und zwei Badezimmer. Dazwischen befindet sich der Haupteingang, hinter ihm das Foyer. Man steigt über die Travertin-Stiege runter und betritt den Wohnbereich, 237 Quadratmeter groß, der berühmte, weil der erste „freie Grundriss“ in einem Wohnhaus, „fließende Raum“, auch ein Architekturerstling, zu dem die Möglichkeit gehört, das Innen und das Außen zu vermischen, indem die ganze vordere Wand, die aus zwei Glasscheiben besteht, versenkt werden kann - sodass man im Wohnzimmer an der frischen Luft sitzen kann, mit einem Ausblick auf die Altstadt. Die beiden neuen versenkbaren Glasscheiben wurden in Belgien in einem Spezialverfahren hergestellt und aufs Feinste geschliffen. So eine Glasoberfläche sieht man kaum mehr. Das Berühmteste, die Onyxwand, das wohl bekannteste Baudetail in der Geschichte der modernen Architektur, ist das „Herzstück des Hauses“. Es wird berichtet, Mies ließ in den Marmorsteinbrüchen im marokkanischen Atlasgebirge nach einem geeigneten Stück dieses Halbedelsteins suchen und bestimmte und überwachte selbst den richtigen Schnitt, damit die Maserungen des honiggüldenen transluziden Gesteins am eindrucksvollsten leuchten. Diese frei stehende Wand ist ein Altar, gar kein Zweifel. Eine Ikone und Ikonostase zugleich. Sie verleiht dem Wohnzimmer die Atmosphäre eines heiligen Ortes. Es wird berichtet, dass, als Mies sah, wie an einem Spätwintertag die Sonnenstrahlen durch die sieben Zentimeter dicke Wand durchdrangen und sie rot zum Leuchten brachten, er selbst überrascht und glücklich gewesen sei, weil er diese Schönheit fand und zur Geltung bringen konnte. Denn Ludwig Mies van der Rohe war auf seine Weise religiös. Ein Demiurg. Ein Priester des Bauens. Er las gern Thomas von Aquin und Augustinus und zitierte sie immer wieder. „Das Schöne ist der Glanz des Wahren.“ Auch der meistzitierte Satz von Mies, „Weniger ist mehr“, entspricht seiner eigenwilligen, mitunter metaphysischen Architekturscholastik.
Die Onyxwand gibt es immer noch

Der knappe Satz ist ein Dogma und die Onyxwand im Haus Tugendhat dessen architektonischer Ausdruck. Nichts belegt so eindeutig wie diese Wand, wie sehr Mies missverstanden wurde und wird, wie die banale Umkehrung seines Predigtwortes in „Weniger ist fad“ durch die Erfinder der Postmoderne. Das wahrlich Unbegreifliche an der wunderbaren Onyxwand ist aber, dass es sie noch immer gibt. Dass sie unverrückt und unbeschädigt geblieben ist, dass sie noch immer genau dort und so steht, wo und wie sie Ludwig Mies van der Rohe irgendwann im Herbst 1930 aufstellen ließ. Das Einzige wohl, was in dem Haus nicht zerstört, verändert, ersetzt und repariert werden musste, ist diese Wand.

Jene Menschen, die das Museum Villa Tugendhat besuchen wollen, sollen versuchen, einen Termin an einem späten Nachmittag, im Frühjahr oder im Herbst, wenn die Sonne besonders tief unterzugehen pflegt, zu buchen. Vielleicht werden sie Glück haben und erleben, was Transzendenz ist, und wie sie aussieht. Oculus non vidit, nec auris audivit. Architekt ist Baumeister mit Latein, pflegte Adolf Loos, der in Brünn als Sohn eines Steinmetzes geboren wurde, über sich zu sagen. Für Ludwig Mies van der Rohe, gebürtig aus Aachen, auch Sohn eines Steinmetzes, trifft es genauso zu.
Wer nach dem Besuch der Villa hungrig werden sollte, hungrig auch nach weiterem hervorragend renovierten Brünner Funktionalismus, der geht etwa zehn Minuten geradeaus ostwärts ins Café Era. Es wurde 1929 von Josef Kranz errichtet und gilt als ein hervorragendes Beispiel für den Einfluss des holländischen De Stijl in der Tschechoslowakei. Das Essen ist ausgezeichnet. Wer nicht genug vom Onyx hat, der geht auf einen Kaffee in das Café Onyx in der Altstadt, 2004 von Raw Architekten eingerichtet. Sie waren für die neuen Gestaltungen in der Villa Tugendhat zuständig. Das Café ist ein hervorragendes Beispiel für den Brünner Neofunktionalismus und den Mies-van-der-Rohe-Adolf-Loos-Kult in Brünn. Weniger Mies. Mehr Loos. Viel Onyx.

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