Bauwerk

Neuer Traversina-Steg
Conzett Bronzini Partner AG - Rongellen (CH) - 2005
Neuer Traversina-Steg, Foto: Wilfried Dechau
Neuer Traversina-Steg, Foto: Wilfried Dechau
Neuer Traversina-Steg, Foto: Wilfried Dechau

Sicherer Aufstieg

Die Nachfolgerin einer durch Steinschlag zerstörten ersten Brücke nahe der berüchtigten Via Mala überspannt als hängende Treppe die 70 Meter tiefe Schlucht und überwindet dabei eine Höhendifferenz von 22 Metern. Sie vereinigt vielfältige konstruktive Überlegungen, die auf Effizienz und Sparsamkeit abzielen.

4. Februar 2006 - Rahel Marti
Schroff ist das Tobel, zierlich seine Überwindung. So fein wie Spinnenfäden wirken die Seile, an denen Jürg Conzett und sein Mitarbeiter Rolf Bachofner ihre Holztreppe abhängten. Die Treppe verbindet die Flanken des Traversiner Tobels, eines kurzen, steilen Seitentals der Viamala, wenige Kilometer oberhalb von Thusis. Schon einmal hatten die Churer Ingenieure diese Flanken verbunden, doch den ersten Traversiner Steg (siehe db 5/1998) zertrümmerte im Jahr 2000 ein Steinschlag. Der Verlust der Brücke war ein herber Rückschlag für den Verein Kulturraum Viamala, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die einst bedeutende Handelsstraße Via Spluga wieder zu beleben und so die Viamala abseits der lärmenden Straßen begehbar zu machen.

Der erste Steg hatte fast zuhinterst im schluchtartigen Tal gesessen und leicht geneigt von der nördlichen zur südlichen Moräne geführt. Um Kosten zu sparen, mussten die Strecke und damit die Konstruktion so kurz wie möglich sein. 47 Meter betrug die Spannweite der Tragstruktur, einer Kombination aus einem gespreizten Dreigurt-Fachwerkträger und einem Überbau mit dem gut einen Meter breiten Gehweg. Die Geländer waren vollwandig ausgeführt, um das Sicherheitsgefühl beim Überqueren zu stärken. Wer sich auf dem Steg befand, fühlte sich geborgen wie in einer Wanne. Von außen sah der Steg jedoch feingliedrig, ja federleicht aus, wie der wundersame, stets zwischen Grazilität und Robustheit changierende Körperbau eines Insekts. Hatten der Verein und die Konstrukteure zuerst erwogen, die neue Brücke am selben Platz zu errichten und sie mit Steinschlagverbauungen zu schützen, entschieden sie sich schließlich für einen neuen, sicheren Standort weniger als hundert Meter »talauswärts«. Hier standen Jürg Conzett und Rolf Bachofner vor der Frage, wie sie die Höhendifferenz von 22 Metern zwischen den Enden des Wanderwegs am elegantesten, aber auch am effizientesten verbinden konnten. In einer Machbarkeitsstudie schlugen sie vier Varianten vor: eine horizontale Brücke auf der Höhe der Moränenkuppen, eine Treppe als Spannband und eine abgehängte Treppe an einem Seilfachwerk, wahlweise mit und ohne Podest. Da auch der zweite Steg nur privat finanziert werden sollte und sich der Verein erneut auf Geldsuche machen musste, gaben schließlich die Kosten den Ausschlag und man wählte die vierte Variante der an Seilen abgehängten Treppe; sie versprach einen kurzen Gehweg und damit niedrige Material- und Erstellungskosten.

Schritte in die Luft

Den ersten Überlegungen nach sollten über die Moränenkuppen, die nur wenige Meter Höhenunterschied aufweisen, zwei Hauptseile gelegt und dahinter in betonierte Widerlager eingeführt und so verankert werden. Im Abstand von 1,10 Metern sollten an diesen Hauptseilen mit Seilklemmen Diagonalstäbe befestigt und von diesen wiederum der einfache Gehweg aus drei Brettlagen und aufgeschraubten Trittleisten abgehängt werden. Die Geländer bestanden schlicht aus einem Handlauf und Geländerseilen, beide direkt an den Hängeseilen befestigt.

Bis das Geld beisammen war, verstrichen vier Jahre. In dieser Zeit überarbeiteten Conzett und Bachofner das Projekt stark; unter anderem tauchten Bedenken auf, der Benutzerkomfort sei nicht gewährleistet, viele Wanderer könnten den Steg nicht begehen, weil sie sich auf der minimalen Konstruktion zu ausgesetzt fühlen würden. Die Ingenieure, laut denen das Einschätzen des Benutzerkomforts zu den angspruchsvollsten Arbeiten am Projekt gehörte, erhöhten in der Folge auf geschickte Weise die Behaglichkeit beim Begehen der Treppe. Sie verstärkten den Unterbau des Gehwegs: Dessen Hauptträger – Stahlprofile HEA 120 – liegen im Abstand von 3,60 Metern quer zur Laufrichtung in den Hängeseilen. Auf diesen Querträgern liegen beidseits fünf Brettschichtholzträger aus Lärchenholz. Diese haben mehrere Aufgaben: Sie verteilen durch ihre Steifigkeit die punktuellen Einzellasten, dienen im Seilfachwerk als druckbelastete Untergurte, bilden zusammen mit den Querträgern und den diagonalen Zugstäben unter dem Gehweg einen Windverband zur seitlichen Stabilisierung und verhindern zudem den Blick in die Tiefe. Durch die äußere Angliederung von acht Trägern steht dem gut einen Meter breiten Gehweg eine Konstruktion von über 2,50 Metern Breite gegenüber. Ähnlich wie beim ersten Steg fördert die in die Breite gedehnte Konstruktion die Behaglichkeit, da die Wanderer so nicht senkrecht neben dem Geländer direkt ins Tobel blicken können, sie schauen lediglich auf den Holzverband der Längsträger. Auch die horizontal eingefügten Geländerbretter leisten dazu einen Beitrag.

Die Brettschichtholzträger allein sorgen bereits für eine ausreichende Steifigkeit der Konstruktion. Im Verbund mit den Diagonalseilen (Spiralseile 1/19, Ø 10 mm) wird die Steifigkeit noch erhöht, überdies tragen die Vorspannung der Hauptseile (Spiralseile 1/61, Ø 36 mm) und die daraus folgende Druckbelastung dazu bei, dass Schwingungen klein gehalten werden.

Für ein Kribbeln in den Knien ist dennoch gesorgt; von Norden kommend steht der Wanderer mit einem Mal im imposanten Tor des Widerlagers, vor sich der rasante Schwung in die Tiefe. Von Süden kommend nimmt die Steigung mit jedem Tritt zu, und je höher man steigt, umso direkter blickt man zwischen den Trittstufen auf die senkrechte Felswand.

Anders als beim ersten Steg, der vorgefertigt angeflogen und auf die Widerlager gesetzt worden war, entstand die Treppe fast vollständig vor Ort. Dennoch verlangte der Bau der Treppe keine Straße, der Wanderweg und eine temporäre Materialseilbahn genügten. Zuerst wurden die Widerlager betoniert. Ins nördliche bezogen die Ingenieure einen etwa 60 Tonnen schweren Findling ein, indem sie ihn mit Bewehrung und Beton ummantelten. Auf der Südseite überdeckten sie die Grundplatte mit Erde. Beide Widerlager bestehen oberirdisch aus zwei Pfeilern, in welche die Hauptseile eingezogen wurden. An diese wurde das Fachwerk der Hängeseile geknüpft. Dann legten Kletterspezialisten vorfabrizierte Elemente aus Quer- und Brettschichtholzträgern ins Fachwerk ein; schließlich wurden Tritte und Geländer aufgesetzt. Die Montage von Seilen und Holzteilen dauerte gut einen Monat.

Die Ingenieure achteten auf eine robuste Materialisierung. So vermieden sie – außer bei den Tritten – horizontale Flächen und Vertiefungen, in denen Wasser stehen bleiben könnte. Sämtliche Teile an dem feingliedrigen Gestänge und Gestäbe können vor Ort ausgewechselt werden – am einfachsten die 176 Tritte, die auch am raschesten verbraucht sein dürften.

Jürg Conzett und Rolf Bachofner haben die an diesem Ort einleuchtende Idee einer Hängetreppe reizvoll verfeinert. Sie formten aus den großen Kräften eine filigrane Konstruktion. Die hohe Ästhetik vereinigt unzählige konstruktive Überlegungen, die auf Effizienz und Sparsamkeit abzielen: Von der Materialisierung – das Holz stammt aus nahe gelegenen Wäldern – bis zum vor Ort abgewickelten Bau. Was Idee und Realisierung betrifft, ist die Konstruktion also angemessen, aber nicht verhalten, nicht bescheiden, wie man es zwischen den schroffen Tobelflanken vielleicht erwartete. Der zweite Traversiner Steg, 70 Meter über dem Bachbett hängend, ist eine ebenso schillernde Figur wie der erste. Seine Gestalt wechselt mit dem Blickpunkt des Betrachters von beweglich bis steif, von zart bis kräftig, von aufgelöst bis kompakt, je nach Blickdistanz. Diese Brücke will eine Attraktion sein, und dies gelingt ihr.

[Im April 2006 erschien ein großformatiger Bildband mit etwa siebzig Fotos vom Bau des Traversinersteges. Wilfried Dechau hat die Arbeiter mit der Kamera begleitet und das allmähliche Werden der Brücke protokolliert. »Traversinersteg - Fotografisches Tagebuch 14. April - 16. August 2005« Mit Texten von Rolf Sachsse, Jörg Schlaich, Ursula Baus und Wilfried Dechau. 27,6 x 38,2 cm, 108 Seiten. Die auf 500 Exemplare limitierte Auflage ist nummeriert und signiert. 78 Euro / 120 sFr.]

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

Akteure

Tragwerksplanung

Bauherrschaft
Verein Kulturraum Viamala

Fotografie