Bauwerk

Lugnersteg
Bulant & Wailzer - Wien (A) - 2005
Lugnersteg, Foto: Rupert Steiner
Lugnersteg, Foto: Rupert Steiner

Barbie, Pink und Mörtel

Dass die Stadt, statt geplant zu werden, sich selbst plant, soll vorkommen. Und trotzdem: Auch so kann ein Stück Architektur entstehen, das es mit Otto Wagner aufzunehmen vermag. Neues vom Wiener Neubaugürtel.

1. Oktober 2005 - Christian Kühn
Vor wenigen Jahren noch, da gehörte der Gürtel den Autos, der Stadtbahn und dem Rotlichtmilieu - ein breiter, grauer Straßenraum mit ein paar verstaubten Bäumen, geteilt durch die Stadtbahn mit ihren markanten, von Otto Wagner geplanten Stationsgebäuden, Bögen und Brücken. Im Bereich des Neubaugürtels, wo die Bahn in Tieflage geführt ist, waren davon nur die kleinen Pavillons mit den Abgängen auf die Bahnsteige zu sehen.

Wer heute hier Richtung Westbahnhof unterwegs ist und die Burggasse kreuzt, begegnet einem völlig veränderten Bild. Fast sieht es aus, als hätte die Shopping City Süd eine Dependance eröffnet: Wagners Stationsgebäude duckt sich vor der Stirnseite der Wiener Hauptbücherei, die breitbeinig über die Bahntrasse stelzt. Rechter Hand hat die Lugner-City den Sprung auf den Gürtel geschafft und lockt Besucher in ihr neues Kinocenter mit angeschlossener Großgastronomie, 1600 Sitzplätze in 26 Restaurants. Aus dem Kinocenter, einem Stück anspruchsloser Kommerzarchitektur, ragt eine verglaste, in der Nacht hell beleuchtete Brücke quer in den Gürtel. Kurz bevor sie die Stadtbibliothek erreicht, wendet sie sich, einen Kurzschluss zwischen Kommerz und Kultur vermeidend, zurück in die Längsrichtung des Gürtels und entlässt das Publikum über Rolltreppen auf eine Verkehrsinsel mit Anschluss an Stadtbahn und Bus.

Die Vorgeschichte dieses Ensembles ist ein Lehrbeispiel dafür, dass eine Stadt heute nicht mehr geplant wird, sondern sich gewissermaßen selbst plant. Die Geschichte beginnt mit einer typisch funktionalistischen Planervision. Dem ehemaligen Vizebürgermeister Hans Mayr wird die Idee zugeschrieben, den ungenutzten Raum über der Stadtbahn mit Parkgaragen zu füllen: Wo viel Verkehr ist, kann mehr Verkehr nicht schaden. Diese Idee hätte den Gürtel als Stadtraum endgültig ruiniert und verschwand dankenswerterweise in der Versenkung. Mit geänderter Nutzung tauchte sie jedoch Mitte der 1990er-Jahre wieder auf. Von Hans Mayr inspiriert, schlug der Baumeister und Betreiber des nahen Shopping-Centers, Richard Lugner, eine Überbauung des Stationsbereichs mit einem eingeschoßigen Gebäude vor, das Geschäfte und Restaurants aufnehmen und ganz nebenbei eine direkte Anbindung des Shopping-Centers an die Station erlauben sollte. Das Projekt scheiterte am Einspruch des Wiener Fachbeirats für Stadtplanung und Stadtgestaltung, der sich nach wie vor gegen jede Verbauung der Innenzone des Gürtels aussprach.

Erst die Idee, den Schwung der EU-Förderungen aus dem Urban-Plus-Programm zu nutzen und die Hauptbücherei als kulturelle Nutzung hierher zu verlegen, konnte diese stadtgestalterischen Argumente ausstechen. Seit 2003 thront die Bücherei breit und behäbig im Gürtelraum, in der äußeren Erscheinung eine klare Themenverfehlung, aber mit angenehmem Inneren und nicht zuletzt deshalb ein durchschlagender Erfolg beim Publikum. Lugner versuchte lange, eine Anbindung seines Shopping-Centers an die Bibliothek zu erreichen, stieß mit dieser Idee aber auf keine Gegenliebe. Für eine Brücke über den Gürtel, die Passanten direkt beim Stationsausgang abholt, fand sich aber schließlich ein zwingender Grund: Bereits ohne die Besucherströme aus dem Kinocenter kam es hier einmal pro Monat zu einem Unfall mit Personenschaden. Und so bekam Lugner am Ende fast geschenkt, wofür er noch vor ein paar Jahren inklusive Stationsüberbauung ein Vielfaches investiert hätte: Einen Werbeträger quer über den Gürtel, nachts märchenblau und barbiepink beleuchtet.

Dass diese Brücke zugleich das einzige Bauwerk in weitem Umkreis ist, das es architektonisch mit Otto Wagners Stadtbahnstation aufnehmen kann, ist ein Zufall, der gut zu einer derart verwickelten Geschichte passt. Lugner hatte ursprünglich eine unförmige Betonkonstruktion mit mehreren, die Rolltreppe tragenden Stützen vorgelegt, folgte dann aber einer Empfehlung der für Stadtgestaltung zuständigen Magistratsabteilung 19 und beauftragte die Architekten Aneta Bulant und Klaus Wailzer mit der Planung. Bulant und Wailzer, die mit eleganten, international ausgezeichneten Glasbauten aufgefallen waren, schlugen vor, das Tragwerk in Stahl zu konstruieren, auf überflüssige Stützen zu verzichten und die Brücke über zwei Stahlkabel vom Kinocenter abzuhängen.

Das Besondere an der Brücke ist die raffinierte Beziehung zwischen Tragwerk, Baukörpergeometrie und Hülle. Die Seitenflächen der Brücke sind nicht parallel, sondern leicht gegeneinander verschwenkt, wodurch sich im Inneren ein eigenwilliger, perspektivisch veränderter Raumeindruck ergibt. Zugleich haben Bulant und Wailzer die Rasterung der Außenhaut auf einem rechtwinkligen Liniennetz aufgebaut, das nur auf der Innenseite des Brückenknies mit der Baukörpergeometrie übereinstimmt, sich von dort aus aber einfach über die restlichen Oberflächen wickelt. Einzelne Rasterfelder werden dadurch über die Kanten gebogen, was konstruktiv nicht unaufwendig ist und eine große Exaktheit in der Herstellung erfordert. Die kontrapunktische Überlagerung der Systeme von Baukörper und Hüllenraster hat aber einen besonderen Reiz, den die Besucher auch dann spüren, wenn sie ihn gar nicht bewusst wahrnehmen.

Der Erfolg einer derartigen, nur auf den ersten Blick einfachen Idee hängt wesentlich davon ab, dass der Bauherr das Konzept versteht und bei der Umsetzung keine Abstriche macht. In diesem Fall war die Kooperation zwischen dem Bauherrn, dem Tragwerksplaner Lothar Heinrich aus dem Büro Vasko und den ausführenden Firmen Waagner-Bíro und Eckelt mit den Architekten durchwegs produktiv, was man dem Produkt in der Detailqualität auch ansieht. Man darf hoffen, dass die Architekten bei ihrem nächsten Projekt, einer weiteren Brücke mit Otto-Wagner-Berührung - dem Sky-Walk zwischen 9. und 19. Bezirk - mit der Stadt Wien als Bauherrn ähnlich viel Glück haben.

Bleibt die Frage, ob der traditionelle Stadtraum des Gürtels durch die diversen Einbauten am Ende nicht doch ruiniert wurde. Sicher hätte es kultiviertere Alternativen gegeben, den alten grauen Gürtel aufzuwerten. Aber wir leben in einer Zeit, in der die Mörtelfamilie Lugner mit angeschlossenem Spice-Girl auf dem letzten Opernball der Möbel-Lutz-Werbefamilie begegnen konnte. Und da soll es am Gürtel kultiviert zugehen?

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