Bauwerk

Seebad Kaltern
tnE Architects - Kaltern (I) - 2006
Seebad Kaltern, Foto: Lukas Schaller
Seebad Kaltern, Foto: Gerhard Hagen / ARTUR IMAGES
Seebad Kaltern, Foto: Lukas Schaller

Hier tanzt der Beton

Technisch komplex, formal ambitioniert: ein Schwimmbecken als schwebende Betonskulptur. Das Freibad im Südtiroler Kaltern - von den Wiener Architekten Marie-Therese Harnoncourt und Ernst Fuchs.

5. August 2006 - Christian Kühn
Die kleine Gemeinde Kaltern in Südtirol ist bekannt für guten Wein und landschaftliche Schön heit. Wer vom Norden über den Brenner hierher kommt, spürt, dass er die Alpen hinter sich hat und dass es endlich nach Süden zu riechen beginnt. Die Berge, weniger beherrschend als im Norden, aber immer noch imposant, bilden den Hintergrund einer abwechslungsreichen Kulturlandschaft, die ihre Qualität jahrhundertlanger liebevoller Pflege verdankt. Der Kalterer See, nach dem die bekannteste Weinsorte der Region benannt ist, liegt ein wenig außerhalb des Gemeindezentrums inmitten von sanften Hängen, auf denen Weinstöcke und Obstbäume wachsen.

Am schönsten Badestrand des kleinen Sees - er lässt sich zu Fuß leicht in zwei Stunden umrunden - hat die Gemeinde als Erweiterung des bestehenden Lidos ein neues Freibad errichtet, mit Sport- und Kinderbecken, einer Bar und einer Tribüne für Veranstaltungen. Ursprünglich hätte hier ein Hallenbad entstehen sollen, für das im Jahr 2002 ein Wettbewerb ausgeschrieben wurde, aus dem die Wiener Architekten Marie-Therese Harnoncourt und Ernst Fuchs - die zusammen unter dem Namen „the next ENTERprise“ firmieren - als Sieger hervorgingen. Ein wenig hatte die Gemeinde bei diesem Projekt ins Schweizerische Vals geschielt, das sein internationales Renommee und seine touristische Attraktivität durch die von Peter Zumthor geplante Therme beträchtlich steigern konnte. Aus dieser Perspektive war die Wahl des Entwurfs von next ENTERprise eine kluge Entscheidung. Das Projekt war so außergewöhnlich, dass es bereits 2003 in Graz in der an Spektakulärem nicht gerade armen, von Zaha Hadid und Patrik Schumacher kuratierten Ausstellung über „Latente Utopien“ auffiel. Während die Mehrzahl der Beispiele dort eher nebulos als Vorahnungen neuer Technologien und einer neuen Formensprache der Architektur posierten, zeigten next ENTERprise eine reifes Projekt, das technisch komplex, formal ambitioniert und vor allem konkret war.

Auch bei der Architekturbiennale in Venedig 2004 konnte man einem Modell des Projekts begegnen, das sich inzwischen allerdings vom Hallenbad zum Freibad verwandelt hatte. Verantwortlich dafür waren lokalpolitische Auseinandersetzungen, die in dem Kompromiss geendet hatten, das Projekt nur in reduzierter Form zu verwirklichen. Das Grundkonzept des Entwurfs blieb trotz dieser Reduktion erhalten. Um das Grundstück möglichst wenig zu verbauen, ist das Bad auf mehreren Ebenen organisiert. Auf Seeniveau liegen die Umkleidekabinen und kleine, in der tragenden Konstruktion verborgene Räume mit Wasserspielen und Erlebnisbecken. Darüber liegt das „Sonnendeck“, eine weit ausladende Plattform mit den großen Schwimmbecken, auf der ein leichter, transparent wirkender Holzkiosk Bar und Shop aufnimmt. Der freie Blick auf den See bleibt damit von der Seepromenade fast vollständig erhalten.

So einfach dieses Konzept klingt, hat es doch eine Konsequenz, aus der next ENTERprise die Qualität ihres Entwurfs entwickelt haben. Da die Oberkante der Schwimmbecken rund fünf Meter über dem Boden liegt und dieser eigentlich nicht bebaut werden soll, stellt sich die Frage, wie man das Wasser in Schwebe halten kann, ohne den Raum darunter mit einer Stützkonstruktion zu verstellen. Die Architekten haben das gelöst, indem sie diese Konstruktion in eine Betonskulptur verwandelt haben, die nur an wenigen Stellen aus dem Boden herauswächst, das Gewicht des Wassers aber mit weit ausladenden Gesten auffängt. Besonders beeindruckend sind die Räume unter den Schwimmbecken mit ihren präzise gefalteten Decken. Zwei verglaste, kreisrunde Öffnungen im Boden des Sportbeckens erlauben einen Blick auf die Schwimmer und bringen zusätzliches Licht nach unten. Weitere Verbindungen zur Oberwelt öffnen sich aus den kleinen Räumen, in denen der Whirlpool und ein „Regenraum“ mit Wasserspielen untergebracht sind. Sie verengen sich trichterförmig nach oben und durchdringen die Wasseroberfläche, wo sie wie Inseln aus dem Wasser aufragen. Mit Edelstahl verkleidet, wirken sie wie kleine Modelle der Bergspitzen in der Umgebung.

Beton derart zum Tanzen bringen, wie es hier mit der Beckenkonstruktion vorgeführt wird, ist konstruktiv keine geringe Leistung. Das statische Konzept für das Tragwerk stammt vom Wiener Büro der Ingenieure Bollinger und Grohmann, die Tragwerksplanung von Bergmeister und Partnern aus Vahrn. Die Herstellung von Stahlbeton für Formen dieser Komplexität gleicht dem Gießen einer Skulptur, bei dem genau geplant werden muss, wie beim Einbringen des Betons die Luft aus den spitzen Winkeln der Gussform entweichen kann und welche Betonmischung für welchen Abschnitt die richtige ist. Die Ingenieure haben das Anliegen der Architekten, das Erscheinungsbild eines homogenen Gusskörpers zu erzeugen, bis ins Detail mitgetragen. Die Schalung ist perfekt, die Kanten scharf, und kein Spannanker hat Spuren des Herstellungsprozesses in der Oberfläche hinterlassen. Die Betonkörper enthalten Hohlräume, in denen die aufwendige Technik für die Versorgung der Becken untergebracht werden konnte.

Von solchen Anstrengungen merken die Besucher nichts. Sie genießen den Blick vom Sonnendeck, finden es praktisch, dass Bar und Shop nicht nur vom Bad, sondern auch von der Promenade aus benutzt werden können, und wenn sie nach Betriebsschluss vorbeiflanieren, wird ihnen vielleicht auffallen, mit wie viel Raffinesse die Architekten das leidige Thema der Abzäunung des Areals gelöst haben. Einige Elemente müssen noch Patina ansetzen, etwa die breiten hölzernen Handläufe der Reling auf dem Sonnendeck, die zu den Betonflächen passen werden, sobald sie ihre Farbe von gelb auf grau gewechselt haben. Und manches wird man vielleicht noch verbessern, etwa die Garderobekästchen, die nicht ganz an die einzigartige Atmosphäre des Raums herankommen, in dem sie aufgestellt sind.

Sicherlich hätte man das alles auch viel einfacher haben können, wie unzählige Freibäder beweisen, die aus nichts anderem bestehen als aus einem im Boden eingelassenen Becken und einer Baracke für die Umkleidekabinen. Aber es hängt wohl mit dem liebevollen Umgang mit der Landschaft zusammen, mit der über Jahrhunderte gewachsenen Kultivierung des Raums, dass man sich hier nicht mit einer solchen Lösung zufrieden geben wollte. Das Freibad ist in Kaltern nicht das einzige Beispiel dafür, dass diese Kultivierung nicht in der guten alten Zeit abgeschlossen wurde. Schräg gegenüber findet sich das grandiose Seehotel Ambach von Othmar Barth aus dem Jahr 1973, und in den letzten Jahren hat sich Kaltern mit dem Manincor-Weingut von Walter Angonese, Rainer Köberl und Silvia Boday, dem Weinhaus Punkt von Hermann Czech und dem Weincenter der Kellerei Kaltern von feld72 zu einer ersten Adresse für Architekturinteressierte entwickelt.

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