Bauwerk

Haus «Zum neuen Singer»
Artaria & Schmidt - Basel (CH) - 1928
Haus «Zum neuen Singer», Foto: Hubertus Adam
Haus «Zum neuen Singer», Foto: Hubertus Adam
Haus «Zum neuen Singer», Foto: Hubertus Adam

Ein Prunkstück des Neue Bauens

1. November 1998 - Hubertus Adam
Das Haus zum neuen Singer im Osten von Basel ist wohl der bedeutendste Bau des Architekturbüros Artaria & Schmidtt. Wie nur selten verbinden sich bei diesem Gebäude der damalige soziale Anspruch, die zweckmässige Form und die ästhetische Gestalt optimal. Ohne Zweifel zählt das Haus für alleinstehende Frauen zu den aussergewöhnlichen Leistungen des Neuen Bauens in der Schweiz. Das zeigt sich schon daran, dass es von Henry-Russell Hitchcock und Philip Johnson 1932 in ihre Publikation «International Style» aufgenommen wurde.

1927 hatten Artaria & Schmidt in einem Wettbewerb der Frauenzentrale beider Basel ihre Konkurrenten Ernst Friedrich Burkhardt und Hans Bernoulli ausstechen können. Ausschlaggebend für den Auftrag war nicht zuletzt, dass die Partner mit dem Haus Colnaghi in Riehen kurz zuvor das erste Stahlskelett-Wohnhaus der Schweiz errichten konnten und somit als Protagonisten des industriellen und damit kostengünstigen Bauens galten. Auch beim Haus zum neuen Singer in der Basler Speiserstrasse nutzten die Architekten eine Skelettkonstruktion, welche sich in kurzer Zeit erstellen liess. Ganze sechs Wochen benötigte man für die Montage des aus Doppel-T-Trägern errichteten Skeletts. Die Geschossdecken bestehen aus Rippendecken mit Hohlräumen, die in Bimsbeton ausgeführt wurden, damit sie leichter seien. Soweit möglich, verwendete man vorfabrizierte und in Serienfertigung erstellte Bauelemente.

Das Gebäude wirkt mit seinen 21 Kleinwohnungen zur Strasse hin wie ein dreigeschossiges Reihenhaus. Tatsächlich aber handelt es sich um einen winkelförmigen Baukörper. Gegen den Garten schliesst sich ein leicht zurückgesetzter Quertrakt an, der des Geländesprungs wegen ein Geschoss niedriger gehalten ist und dessen Dach als Terrasse genutzt wird. Auch der Eingang befindet sich im Norden, an der Gelenkstelle zwischen Strassen- und Gartenflügel.

Während die zur Strasse hin verdeckte, auf Grund der Hanglage vom Garten her jedoch als Vollgeschoss erkennbare Basisebene ursprünglich Gemeinschaftseinrichtungen sowie Wirtschafts- und Kellerräume beherbergte, waren die Geschosse darüber dem Wohnen vorbehalten. Die Kleinwohnungen des Strassenflügels bestanden aus einem Wohn- und einem schmaleren Schlafbereich, die je nach Belieben mit Hilfe einer Schiebewand getrennt oder verbunden werden konnten; die Wohnungen an der südlichen Gebäudestirn waren um ein zum Hof ausgerichtetes Zimmer erweitert.

An der Strassenfassade ist die innere Aufteilung durch den alternierenden Rhythmus von Balkon- und Fensterachsen ablesbar; das Stahlskelett erlaubte es, die geschlossenen Wandflächen auf schmale vertikale Pfeilerzonen sowie auf die horizontalen Brüstungen zu reduzieren. Die Balkons sind vom Wohnbereich her zugänglich, schieben sich jedoch vor die Schlafzimmer, so dass der Wohnbereich nicht verschattet wird. Die Struktur der Gartenfassaden weicht deutlich von jener der Ostseite ab. Schmale, von Pfeilern unterbrochene Fensterbänder bestimmen die Westansicht und verweisen auf die dahinterliegenden Korridore ebenso wie auf die Sequenz der Wohnungen; die Südfront zeigt mit ihren loggienartig ausgebildeten, von schottenartigen Querwänden getrennten Balkons eine plastische Gliederung.

Der Konkurs des Büros beendete 1930 die fünfjährige Partnerschaft zwischen den Architekten Hans Schmidt und Paul Artaria in Basel. Anschliessend eröffnete Artaria ein eigenes Büro. Schmidt übersiedelte noch Ende des Jahres 1930 in die Sowjetunion. Als Verfechter des industrialisierten Wohnungsbaus war er von Ernst May, dem vormaligen Stadtbaurat von Frankfurt am Main, in eine internationale Architektenequipe berufen worden, die sich der Planung von Industriestädten im Uralgebiet widmen sollte. Doch die Hoffnungen der Aktivisten, im Rahmen des sozialistischen Aufbaus ihre Konzepte des Neuen Bauens im grossen Massstab realisieren zu können, zerschellten an der sich verschärfenden Doktrin der stalinistischen Kulturpolitik. Als einer der letzten Teilnehmer der «Brigade May» kehrte Schmidt 1937 in seine Heimatstadt Basel zurück.

Die Standardisierung des niederländischen Volkswohnungsbaus, die Schmidt während eines Praktikums in Hilversum und Rotterdam kennengelernt hatte, liess ihn zu einem Verfechter des Funktionalismus und Konstruktivismus werden. Seine Überzeugung materialisierte sich nicht nur in Bauten, sondern fand auch schriftlich ihren Niederschlag. Er war Mitbegründer und Redaktor in Personalunion der Avantgarde-Architekturzeitschrift «ABC, Beiträge zum Bauen». Nicht einmal die Grundbedingungen für industrielles Bauen, die technische Klarheit und die Einheitlichkeit des Bauwerks, sei den Architekten bewusst, beklagte Schmidt darin im Jahr 1928.

Unglücklicherweise war es eine, nach heutigen Massstäben eher bescheidene, Fehlkalkulation, die das Büro Artaria & Schmidt 1930 in die Liquidation trieb. 50 000 Franken mehr als die veranschlagten 320 000 Franken kostete das Haus « Zum neuen Singer». Neben der architektonischen Gestalt galt auch das Nutzungskonzept des Hauses an der Speiserstrasse als vorbildlich. Ledigen Frauen des gehobenen Mittelstandes bot es autonome Wohnungen mit eigenen kleinen Küchenzonen und erlaubte zugleich die Nutzung von Gemeinschaftsräumen im Basisgeschoss. Die Bewohnerinnen konnten im Essraum essen, die Speisen liessen sich aber auch mit einem Lift in die einzelnen Geschosse befördern.

Artaria & Schmidt orientierten sich weniger an der Idee der Zentralversorgung, die im postrevolutionären Russland diskutiert wurde, als am Konzept eines Einküchen- oder Boarding-Hauses, das schon Hermann Muthesius in Berlin realisiert hatte. Das Haus zum neuen Singer erzwang keine Kollektivität. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden vergleichbare Projekte realisiert, vornehmlich in Dänemark, zum Beispiel die Kingohusene von Jörn Utzon, die in Helsingör stehen.

Das in Basel ebenso wegweisende wie emanzipatorische Konzept hatte nur kurzfristig Bestand. Schon 1956 wurden die Gemeinschaftseinrichtungen aufgegeben. Bei der Sanierung 1990 ersetzte man die filigranen, schwarzgrau gefassten Stahlrahmenfenster durch ungeschlachte weisse Kunststofffenster, die die einst wandbündige Anordnung negieren. Auch die transparenten Balkongitter und als Rankgerüste dienenden Seitenwangen sind nicht mehr vorhanden - an ihrer Stelle finden sich plumpe Eternitplatten. Das Gesicht des Hauses ist damit völlig entstellt. Ignoranz des Eigentümers und Nachlässigkeit der Denkmalpflege haben zur Zerstörung einer Inkunabel helvetischen Neuen Bauens geführt. Bleibt zu hoffen, dass ein zukünftiger Besitzer sich des bauhistorischen Wertes seines Hauses bewusst ist. Einer Rekonstruktion der zerstörten Fenster, Türen und Balkongitter in ihrer einstigen Farbigkeit stünde nichts im Wege.

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