Bauwerk

Lycée Maritime Anita Conti
Jacques Etienne - Fécamp (F) - 1997
Lycée Maritime Anita Conti, Foto: Jean Marie Monthiers
Lycée Maritime Anita Conti, Foto: Jean Marie Monthiers
Lycée Maritime Anita Conti, Foto: Jean Marie Monthiers
Lycée Maritime Anita Conti, Foto: Jean Marie Monthiers

Cohabitation im Fischerhafen

1. Juni 1998 - Roman Hollenstein
Vornehm unterkühlt gefällt sich Frankreichs neue Architektur. Doch neben den Prestigebauten Mitterrands, die ganz der Rhetorik der Grande Nation verpflichtet sind, begegnet man auch «bescheideneren» Werken. Es handelt sich dabei vor allem um sensibel auf den Kontext bezogene Umbauten und Erweiterungen kostbarer Denkmalschutzobjekte oder alter Strukturen, die ihrer einstigen Funktion beraubt wurden. So hat etwa im Grossraum Lille, der Stadt, die sich rund um den TGV-Bahnhof einem urbanistischen Grosseingriff unterzog, ein Meister des Dekonstruktivismus, der Lausanner Bernard Tschumi, mit seinem Medienzentrum in Tourcoing bewiesen, dass sich auch ausgediente Bausubstanz in aufsehenerregende Architektur verwandeln lässt.

Etwas im Schatten dieses Grossereignisses hat in Fécamp, einem an der Kanalküste zwischen Le Havre und Dieppe gelegenen Fischerstädtchen, der 56jährige Architekt Jacques Etienne aus Rouen, der sich mit einem Internat in Fécamp und mehreren Schulbauten in der Normandie bereits einen Namen machte, das Lycée Maritime Anita Conti, eine Berufsschule für angehende Fischer, gebaut. Die Schule - zuvor in einem Altbau untergebracht, dessen bedenklicher Zustand gleichsam die Krise des lokalen Fischereigewerbes spiegelte - sollte ein optimistisches Zeichen des Neuanfangs setzen in Frankreichs bedeutendstem Zentrum des Kabeljau-Fischfangs.

Als Bauplatz zur Verfügung stand am Fuss eines steilen, aus den Klippen hervorgewachsenen Hügels ein altes, «la boucane» genanntes Gebäude, das einst eine Fischräucherei beherbergt hatte, und darüber - auf einer Gartenterrasse thronend - ein Haus von Guy de Maupassant. An diesem bedeutungsvollen Ort, an dem sich Fécamps Wirtschaftsgeschichte mit Frankreichs Hochkultur vereint, versuchte Etienne - ganz ähnlich wie Tschumi in Tourcoing - die Spuren der Vergangenheit mit Hilfe heutiger Architektur systematisch herauszuarbeiten und neu zu interpretieren.

Urbanistisch geschickt verwandelte er den Platz vor der «boucane» durch die Anfügung zweier Neubauflügel in einen Hof. Den schlecht erhaltenen Bau liess er teilweise abtragen, als Schulgebäude für den technischen Unterricht rekonstruieren und darauf ein pavillonartiges Panoramarestaurant setzen - mit Aussicht auf die Stadt und die bergseitige Terrasse. Deren einstige Exponiertheit wurde dadurch zu einem intimen Gartenhof geschlossen, der nun vom restaurierten Maupassant-Haus beherrscht wird. Dieses transformierte Etienne in eine Bibliothek und erweiterte es nach Osten um einen in die dahinterliegende Terrasse integrierten Mehrzwecksaal.

Eine Treppenkaskade, die die Topographie suggestiv betont, führt über zwei Terrassen hinunter zum Eingangshof - vorbei am kubischen Ostflügel. Dieser in Nordsüdrichtung transparente Solitär aus Beton, Stahl und Glas dient dem Studium der grossen Meereskarten. Treppen, Relings und ein als minimalistischer Schiffsmast gestalteter Kamin aus Beton machen das Gebäude zu einer maritimen Metapher, während die holzverkleideten Seitenwände die von der «boucane» evozierte Hafenatmosphäre diskret unterstützen.

Der aus der ehemaligen Räucherei herauswachsende Westflügel präsentiert zum Quai Guy-de-Maupassant hin ebenfalls eine Maske aus Holz. Dadurch wird dieser weit vorspringende Annex, das Kernstück der Anlage, fest mit der bestehenden städtebaulichen Textur verwoben. In ihm befindet sich die grosse Eingangshalle, zu der eine Brücke vom Hof her über einen Abgang führt. Auf diesem können die vom Fischfang zurückkehrenden Studenten direkt in die Umkleideräume und Duschanlagen im Untergeschoss gelangen. Ein nach oben sich verengendes, durch Oberlicht erhelltes Treppenhaus stellt von hier aus die Verbindung mit der Eingangshalle her sowie mit den darüberliegenden Theorieräumen und dem Mensa-Restaurant auf der fünften Ebene.

In dieser Anlage, die von der architektonischen Umsetzung, den Abläufen und Stimmungen her überzeugt, gehen Alt und Neu eine harmonische Cohabitation ein, ohne jedoch zur spannungslosen Einheit zu verschmelzen. So kommen hier seit letztem Herbst rund 100 Schüler im Alter von 14 bis 19 Jahren in den Genuss eines funktionalen Hauses, das mit seinen überraschenden Inszenierungen bald an das Leben auf einem Schiff, bald an die Eigenheiten des Orts erinnert. Diesem Baukomplex, der ganz Ausdruck unserer Zeit ist und trotzdem stolz die Tradition umklammert, eignet ein architektonischer Ausdruck, wie ihn zuvor nur Jean Nouvels Erweiterung des Hotels St. James in den Rebbergen von Bouliac bei Bordeaux erreicht hat.

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