Bauwerk

Stadionüberdachung ´Ernst-Happel-Stadion´
Erich Frantl - Wien (A) - 1986
Stadionüberdachung ´Ernst-Happel-Stadion´, Foto: Margherita Spiluttini
Stadionüberdachung ´Ernst-Happel-Stadion´, Foto: Margherita Spiluttini
14. September 2003 - Az W
„Hochschaubahn“, „Gasometer“, „grösster Regenschirm von Wien“ – so und ähnlich hatte heimischer Sprachwitz das neue Dach des Ernst-Happel-Stadions schon getauft. Vom üblichen, liebevoll schnoddrigen Benennungsritual abgesehen, zählt diese elegante, in Rekordbauzeit errichtete Konstruktion jedoch zu den erfreulichsten und wichtigsten Leistungen österreichischer Ingenieurskunst in der Gegenwart.

Dieses Projekt unterscheidet sich aus mehreren Gründen von dem in letzter Zeit bei Brückenbauten, Kraftwerken und anderen technischen Grossbauten gewohnten Niveau: Es ist außerordentlich ökonomisch, es ist innovativ, es reagiert überzeugend auf den gegebenen Baubestand und es hat in der Summe dieser Eigenschaften über die rein rechnerische Rationalität, über die ingenieursmäßige Regelhaftigkeit hinaus auch ingeniösen „Esprit“. Als die Stadt Wien den Bauauftrag 1985 ausschrieb, war nur eine Überdeckung der Längsseiten des Tribühnenovals vorgesehen. Die Voest-Hebag bot mit dem elliptischen Dachring aber eine Vollüberdachung weit billiger an, als die Konkurrenten die Teilüberdachung. Diese Lösung hatte gegenüber der ausgeschriebenen weiters den Vorteil, dass keine zusätzlichen Stützen und Verstärkungen am bestehenden Bau notwendig waren, so dass die typische Skelettstruktur des Stadionrunds unverändert erhalten werden konnte.

Die angewendete Technologie beruht auf zwei einander ergänzenden Neuentwicklungen. Ingenieur Erich Frantl konstruierte einerseits ein als Patent angemeldetes Tragsystem, eine Stabwerksschale, welche die Belastung durch Eigengewicht, Schnee und Winddruck aufnimmt. Bei solchen extrem leichten und weitgespannten Hängekonstruktionen – das Stadiondach ragt um fünfzig Meter weit heraus – waren bisher immer aufwendige Abspannungen nötig, um bei größeren Windgeschwindigkeiten die Sogkräfte, die oft weit stärker als das Eigengewicht sind, abzufangen. Andererseits wurde die von Frantl, Hofstätter und Zemler + Raunicher erfundene Knotenverbindung der Stahlstäbe mit Betonpfropfen weiterentwickelt, so dass die 1800 Rechteckrohre in nur sieben Tagen zum vollständigen Netzwerk verbunden werden konnten.

Vereinfacht gesprochen funktioniert dieses Dach wie ein umgekehrter Deckel, der einem Topf aufgesetzt wird und aus dem in der Mitte ein großes Loch ausgeschnitten ist. Der äussere Rand dieses Deckels – mit dem Topf (dem Betonrund) verbunden – bildet dann den „Druckring“, der innere Rand den „Zugring“, wobei dieser, da die Deckelfläche als in gewissem Ausmaß elastisches Liniennetz ausgebildet ist, frei beweglich sein wird und die durch Schneelast oder Wärmedämmung auftretenden Spannungen ausgleichen kann.
So entstand auch die charakteristische geschweifte Linie des inneren Dachrands allein durch die Tatsache, dass an den flachen gekrümmten Längsseiten des Ovals größere Zugkräfte herrschen und die Konstruktionen dort um mehr als drei Meter weiter nach unten „hängt“ als im Bereich der enger gekurvten Radien. An diesem inneren Ring sind nun auch die Flutlichtscheinwerfer und Flaggenstangen montiert.

Zur Verfeinerung der Kontrolle wurde die statische Berechnung in Wien und Graz parallel mit verschiedenen Computerprogrammen durchgeführt. Ein Modell 1:400 wurde im Windkanal der Arsenalwerkstätten getestet. „Die gesamte Planung dieser hängenden Stabwerkskonstruktion, die mit einer Ausdehnung von 277 x 233 Metern weltweit zu den grössten ihrer Art zählt, besteht aus zehn Zeichnungen – und einer Lastwagenladung Computerausdrucken“, antwortete Frantl auf die Frage, wie dieses kühne Unternehmen mit einem sehr kleinem Team in so kurzer Zeit bewältigt werden konnte.

Auch die Montage erfolgte auf ungewöhnliche Weise. Von vier Kränen aus, ohne jede Gerüstung, wurden alle Bauteile in nur zehn Monaten versetzt. Beim Fixieren der rund 900 Knoten des Stabwerks hat man die nachträgliche Belastung durch die in die stählernen Knotenformen eingegossene Betonmasse mit abgehängten Wassersäcken simuliert. Während des Betonierens wurde dann das Wasser jeweils simultan abgelassen.

Frantls grazilies elastisches Stahldach besticht nicht nur durch die technischen Leistungen, sondern auch durch die formale Konsequenz, mit der es sich vom Betonunterbau abhebt und ihn strukturell zugleich fortsetzt. Das Stadion besteht heute aus drei konzentrischen Schichten: dem Kernbau (1929 – 1931) von Otto Ernst Schweitzer – eine damals vielbeachtete, anspruchsvolle Eisenbetonkonstruktion; aus der Ummantelung (1957 – 1959) von Theodor Schöll, als der Rhythmus der Betonrahmen einfach ringsum weitergeführt und ein dritter Rang angefügt wurde; und schließlich dem aufgesetzten Dach, das die Grundidee und die Gesamtstruktur des Gebäudes in einem ganz anderen Material aufnimmt und überhöht.

Nach längerer Dominanz der, wie man früher meinte, „pflegeleichteren“ Betontragewerken hat der in Wien mit sehr strengen Baunormen belastete Stahlbau hier wieder ein kräftiges Lebenszeichen gegeben. Seit Jahren wird von „intelligenten Produkten“ gesprochen, mit denen sich unsere Wirtschaft und Industrie profilieren und international behaupten sollte. Das Stadion-Dach erfüllt diese Forderung in jeder Hinsicht, sein Bauprinzip ist vielseitig verwendbar, und es bestehen bereits Anfragen aus dem In- und Ausland für ähnliche Aufgaben. Bauliche Großprojekte und eindimensional verselbständigte Großtechnologie stoßen heute zu Recht immer wieder auf massive Kritik. Umso bemerkenswerter, dass beim Stadion die Realisierung einer völlig unpathetischen, sorgfältig durchgebildeten „High-Tech“-Lösung gelang und dass nach langer Zeit wieder ein technischer Bau als kultureller Beitrag, als Architekturbeispiel gewürdigt werden kann. (Text: Otto Kapfinger)

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Architekturzentrum Wien

Ansprechpartner:in für diese Seite: Maria Welzigwelzig[at]azw.at

Akteure

Architektur

Bauherrschaft
KIBA

Tragwerksplanung

Fotografie