Bauwerk

Europan - Wohnanlage
Leopold Dungl - Wien (A) - 1996
Europan - Wohnanlage, Foto: Rupert Steiner

Soll man da boshaft sein?

Maßstabsprengende Wohnbauten auf der grünen Wiese, schlechte Anbindung an den öffentlichen Verkehr, keine Infrastruktur: Bei der Stadterweiterung werden heute alle Fehler der siebziger Jahre wiederholt. Ein Augenschein in Wien-Eßling.

15. Juli 1997 - Liesbeth Waechter-Böhm
Stadterweiterung ist ein schlimmes Wort. Es meint Wohnbauten, die weit vom Zentrum entfernt, auf der grünen Wiese errichtet werden, ohne daß von dieser „grünen Wiese“ am Ende der Bautätigkeit noch irgend etwas Nennenswertes übrig wäre; es meint eine dichte Ansammlung von Häusern, ohne daß damit Stadt gebaut wäre; es meint eine schlechte Anbindung an den öffentlichen Verkehr; es meint im Grund eine bebaute Gegend, in der es keine infrastrukturellen Einrichtungen gibt und in den öffentlichen Bereichen nichts passiert. Wer's nicht glaubt, der braucht sie nur in Augenschein zu nehmen, die neuen Stadterweiterungsgebiete Wiens: den Leberberg, die Erzherzog-Karl-Stadt, Eßling

Dabei hätte gerade Eßling insofern eine Ausnahme von dieser traurigen Regel sein können, als es sich hier um Neubaugebiete handelt - es sind zwei, eines im Umfeld der Schule von Günther Domenig, ein zweites, das sogenannte Europan-Gebiet, auf der anderen Seite des alten Eßling - , die um einen zwar transformierten, aber intakten historischen Ortskern herum angesiedelt sind. Das heißt, infrastrukturell geht den neuen Bewohnern hier nichts ab, weil jede Menge Lokale und Geschäfte vorhanden sind, weil es eigentlich alles gibt. Man hätte sich also auf das konzentrieren können, was ohnehin das einzige ist, um das es in Stadterweiterungsgebieten geht: auf das Wohnen. Trotzdem ist das Ergebnis furchtbar ausgefallen.

Nehmen wir nur das Europan-Gebiet: Da türmen sich Geschoßwohnungsbauten in einer Dichte auf, die jeder Beschreibung spottet. Und da steht natürlich wieder, wie in jedem Neubaugebiet, das elegante städtische Wohnhaus (von Albert Wimmer) neben der architektonischen Banalität, neben dem gestalterischen Unikum. Und da trifft man auf Abstrusitäten, die wirklich jeder Beschreibung spotten: kleine Mietergärten zu ebener Erde etwa, durch die mitten hindurch ein Zaun läuft; man begreift es zunächst gar nicht, was dieser teilende Zaun zu bedeuten hat, bis man eine Außentreppe in den Oberstock des Hauses - zu einer zweiten Wohneinheit - bemerkt. Da hat sich doch tatsächlich ein Architekt etwas Besonderes einfallen lassen. Denn er hat einen Mietergarten bescheidener Größe in zwei grüne Mini-Miniaturen geteilt und allen Ernstes dem Bewohner vom Oberstock eine Treppe ins vordere Quadrat'l gebaut: Es soll dessen Mietergarten sein - monströs, kriminell.

Aber auch wenn man von solcher Roßtäuscherei absieht, wird man der neuen Wohnanlage nicht froh. Sie liegt unmittelbar an der Stadtgrenze, wenn man den Blick schweifen läßt, sieht man das Glashaus einer Gärtnerei und Landschaft, sonst nichts. Es wäre also naheliegend gewesen, diesem Umstand mit einer niedrigen Bebauung Rechnung zu tragen, auf den Grünraum überzuleiten.

Aber nein, Geschoßwohnungsbau türmt sich hier auf, hier wird „städtische Straße“ gespielt, die doch nur Abstellfläche für Autos zwischen hermetischen Wohnhäusern ist. Und diese falsche Rhetorik, die manche der Wohnhäuser an den Tag legen! Sie trumpfen mit einer Wuchtigkeit auf, die hier, am äußersten Rand der Stadt, wahrhaftig nichts verloren hat - unangemessen, maßstabsprengend. Die Frage ist wirklich angebracht, warum jemand so weit hinausziehen soll, wenn er dann eine solche Umgebung vorfindet, wenn er dann so systematisch um die Vorteile dieser Grünlage gebracht wird.

Man muß schon sehr suchen, um in diesem gebauten Wald den Baum überhaupt wahrzunehmen. Aber es gibt ihn, es gibt ihn tatsächlich. Und irgendwie möchte man erleichtert aufatmen, wenn man von Norden kommend der drei niedrigen, schlichten, ruhigen Wohnzeilen von Leopold Dungl ansichtig wird. Es stimmt der Maßstab, der sich mehr auf den alten, dörflichen Ortskern von Eßling sowie auf die Gärtnerei und die freie Landschaft im Süden bezieht als auf die unmittelbare Umgebung; es stimmt die formale Lösung, die nicht mit aufgesetztem gestalterischem Aufwand operiert; und das wichtigste dabei: Es stimmt das inhaltliche Konzept.

Dungls Wohnzeilen bestehen aus jeweils fünf Häusern und sind nach Süden, Richtung Gärtnerei, orientiert. Der Haustyp, den der Architekt für seine Bebauung entwickelt hat, sieht im Erdgeschoß jeweils eine Wohnung mit einem 50 Quadratmeter großen Garten vor und im Obergeschoß eine Wohnung mit einer 15 Quadratmeter großen Terrasse, wobei die Wohnungen jeweils umgekehrt orientiert sind. Das brachte den Vorteil, daß sich der Mieter im Erdgeschoß von oben uneingesehen in seinem Garten aufhalten kann; und es brachte den Vorteil, daß sich im Erdgeschoß zwischen Eingangssituation und Wohnbereich eine Raumschicht mit den Sekundärräumen einschieben ließ, was atmosphärisch ohne Zweifel etwas bringt.

Bei den Wohnungen im Obergeschoß denkt Dungl dieses Konzept konsequent weiter: Hier ist die Schicht der Sekundärräume zur Gartenseite hin orientiert, der L-förmige Grundriß mit dem plastischen, scheinbar hermetischen Wohnraumkubus an der Eingangsseite umschließt eine Terrasse. Genau gegenüber dieser Terrasse, bei der nächsten Häuserzeile, ist ebenfalls ein solcher plastischer, hermetischer Wohnraumkubus situiert. Der Clou dabei: Dungl hat durch das leichte Versetzen von geschlossenen Kuben und offenen Terrassen Intimräume geschaffen, man sieht sich nicht direkt gegenseitig in die Terrasse hinein, es gibt nur eine diagonale Sichtverbindung, also eine Sicht auf Distanz. Natürlich pflastern die Bewohner die gläsernen Terrassenbrüstungen trotzdem mit Schilfmatten unterschiedlicher Höhe zu. Aber der Architekt hat inzwischen eine relativ preisgünstige, etwas spezifischere und flexible Sichtschutzvariante gefunden, die bei aller farblichen Individualität doch eine gewisse Einheitlichkeit bringen würde, und die versucht er nun nachträglich noch anzubieten.

Dungl geht auch an der Gartenseite strategisch vor. So wie die Terrassen an der Eingangsseite schauen hier die Gärten zueinander. Sie sind durch einen nur 1,20 Meter breiten Wirtschaftsweg getrennt.

Leicht vorspringende, wiederum versetzt plazierte Gerätehäuschen schieben sich dabei schützend vor die Terrassen, sodaß auch hier der direkte Einblick verwehrt ist. Die schlichte Stülpschalung der Zäune und der Gerätehäuschen besteht aus unbehandeltem Fichtenholz, das schon anfängt, einen schönen silbrig-grauen Farbton anzunehmen.

Dungls Konzept ist zweifellos rigoros. Er spielt mit seinen kleinen weißen Baukörpern ein System durch und versucht erst gar nicht, diese Tatsache zu verschleiern. Aber es wird einem nicht langweilig, dieses System, weil durch das Versetzen der signifikanten Wohnraumkuben eben doch Spannung aufkommt. Außerdem geben die schmalen Einschnitte zwischen den Baukörpern - mit dem Stiegenaufgang und der ganzen technischen Infrastruktur - einen ganz eigenen Rhythmus vor. Diese Einschnitte sollten ursprünglich nur mit Glasschuppen gedeckt, also relativ offen sein; das sind sie jetzt zwar nicht, aber auch mit geschlossenem Glasdach bleiben sie hell und freundlich und ein transparenter, dematerialisierter Kontrapunkt zwischen den Baukörpern.

Gerade an diesen Eingangsbereichen merkt man übrigens, daß die Sorgfalt des Architekten dem Detail galt, man könnte auch sagen: der Schadensbegrenzung. Jeder Eingang ist durch eine Scheibe markiert, die Beleuchtung, Hausnummer und Briefkasten aufnimmt, wodurch die Beunruhigung durch allzu selbständige Accessoires wirksam vermieden ist.

Hier, zwischen den Häusern, ist auch der Ausstieg für den Rauchfangkehrer. Er erfolgt über einen leicht auskragenden Balkon und über eine Leiter hinauf auf eine Brücke, die die Dächer verbindet - auch das ist sehr reduziert gelöst, aber so formuliert, daß der signifikante Schlitz zwischen den Häusern einen adäquaten Abschluß findet.

Das sind wirklich Häuser, die man anschauen und die man komfortabel bewohnen kann. Denn das größte Problem solcher Neubaugebiete, diese relative Dichte, diese Nähe der Wohnungen zueinander, die den möglichen Vorteil eines Freiraumangebotes wieder zunichte macht, das hat Dungl raffiniert entschärft.

Außerdem stimmt bei diesen Häusern einfach der Maßstab: So muß die Dimension sein, um an der äußersten Peripherie, am Übergang zur Landschaft Angemessenheit zu bewahren. Vier- oder gar fünfgeschoßige Wohnbauten haben in einer solchen Lage einfach nichts verloren. Das sollte zwar eine Lektion sein, die wir nach jahrzehntelangen Wohnbau-Diskussionen beherrschen müßten, aber man sieht es nahezu überall, wo neuer Wohnbau in Wien passiert: Gebaut wird entgegen dieser Einsicht.

Und insofern braucht man sich auch nicht zu grämen, daß unheimlich viel Geld in diese Stadterweiterungsgebiete hineingepumpt wird, aber die Wohnungen schwieriger und immer schwieriger loszuwerden sind, wie das Beispiel des Leberberges beweist, wo sich sogar ohne den berüchtigten Vormerkschein keine Abnehmer finden wollen.

Soll man boshaft sein? Soll man sagen: Geschieht denen ganz recht, die all die Fehler der siebziger Jahre heute wider besseres Wissen wiederholen? Oder fängt eine neue Wohnbau-Debatte an - getreu dem Motto: Immer zwei Schritte vor und dann drei oder vier zurück.

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