Bauwerk

mei Wohnbau Meissauergasse - Bauteil B
GERNER GERNER PLUS. - Wien (A) - 2006

Freiraum für Soziales

Nur eine rentable Idee ist auch eine gute Idee. Das ist die wichtigste Spielregel in der Massenware Wohnbau. Mit einem beispielhaften Projekt in Wien-Donaustadt belehren Bauträger und Architekten eines Besseren

21. Oktober 2006 - Wojciech Czaja
Dunkler Schatten bedroht Anrainer!", heißt es im Mai 2004 in fetten Lettern auf der Titelseite des Donaustädter Bezirksjournals. „Wir hätten nie gedacht, dass wir es einmal auf die Titelseite einer Zeitung schaffen würden“, witzelt die betroffene Architektin Gerda Gerner, gegen die hier unter anderem die Fäuste erhoben werden. Mit großer Neugier schlägt man das Blatt auf, wo sich inzwischen eine regelrechte Revolution zusammengebraut hat: „Bürger protestieren gegen Monsterbau!“ Das ist sie, die Krux der Politik und der nicht unparteilichen Medien, die alles Neue in den Boden stampfen und unentwegt versuchen, der Bevölkerung das Hirn auszusaugen.

Entgegen der medialen Hetzkampagne entpuppt sich der vermeintliche Monsterbau in der Meißauergasse als fröhliches Ding mit gelbem Hut, den der Ostwind wie ein Schlagobershäubchen einmal heftig zur Seite geblasen hat. Dass das vornübergebeugte Haus überhaupt steht, ist nicht nur der Statik, sondern auch den überaus zufriedenen Anrainern zu verdanken, die sich vom gar dunklen Schatten offensichtlich gar nicht so bedroht fühlten, wie man ihnen ursprünglich unterjubeln wollte. Bei der Bauverhandlung gab es keinen einzigen Einspruch. Sehr zum Leidwesen der kleinformatigen Presse, möchte man meinen.

Insgesamt 147 Wohnungen wurden hier - in unmittelbarer Nähe der nunmehr verlängerten U1 - aus dem Boden gestampft. Früher lärmte an dieser Stelle ein altes Industrieunternehmen, heute wird eifrig umgezogen und gewohnt. Die Hälfte der Einwohner bezog den zipfelbemützten Bauteil der Architekten gerner°gerner plus, die anderen den etwas klassischeren Bruder nebenan, für den die s & s architekten verantwortlich zeichnen. Weggegangen seien die Wohnungen in beiden Fällen wie die warmen Semmeln, ist vom Bauträger Gesiba zu vernehmen, „selbst die letzten Wohnungen sind schon seit Monaten vergeben“.

Eine breite Rampe sticht ins Haus hinein. Man steht zwischen zwei Bauteilen, mitten in einer städtischen Schlucht, die ein bisschen an die engen Gässchen von Napoli erinnert. Gelegentlich öffnet sich eine Tür, Silhouetten mit Einkaufstaschen gehen ein und aus, Kindergeschrei füllt den Raum. Die Wäscheleinen, die von einer Wand zur nächsten gespannt sind, fehlen in diesem Bilde noch, gewiss werden sie bald folgen. Dass dieser Freiraum selbst bei Regenguss und Schneegestöber trocken bleibt, liegt an der Tatsache, dass sich das Dachgeschoß waghalsig hinauslehnt und die Schlucht überdeckt.

Warum so eine überbordende Geste? „Der Bauträger wollte dieses offene Konzept mit uns durchsetzen, als Kompromiss hat er jedoch gefordert, einen Teil der Terrassen und Laubengänge zu überdachen“, erklärt Architektin Gerda Gerner. Damit könne man auf kostspielige Schneeräumung verzichten und spare langfristig einen Teil der Betriebskosten ein.

Hundertzwanzig Meter misst der Wohnriegel in der Länge. Hofseitig dient der erste Stock ausschließlich dem sozialen Zusammenleben der Bewohner. Hier ist - wie es bei der Gesiba in den Außenbezirken in der Regel praktiziert wird - eine Betreuungseinrichtung untergebracht, hier wird mit Blick in den Hof Wäsche gewaschen, hier können Kindergeburtstage gefeiert werden. „Natürlich hätten wir statt der Gemeinschaftsräume auch Wohnungen unterbringen können“, was - wenn man einzig und allein die Rendite vor Augen gehabt hätte - der ungleich sinnvollere Weg gewesen wäre. Doch Halt! Wohin dieser kurzsichtige und schmale Pfad der maximalen Wertschöpfung führt, hat die Vergangenheit schon zur Genüge aufgezeigt. Nämlich zu jenen glorreichen Massenwohnbauten, zu jenen stolzen Aushängeschildern moderner Stadterweiterung, die dann zwanzig Jahre später als asoziale Gettos verteufelt werden.

Kein Grund zur Sorge. Der Wohnbau Meißauergasse steht unter keinem bösen Stern. Bauherr und Architekten bewiesen insofern Konsequenz und Weitsicht, als hier die räumlichen und sozialen Qualitäten nicht allein für eine Hand voll zusätzlicher Wohnungen aufs Spiel gesetzt wurden. Mehr noch wurde das Gebäude so konzipiert, dass sich im vierten Obergeschoß eine riesige Gemeinschaftsterrasse ergeben hat. Und damit greift die Partnerschaft von Gerner'scher Architektur und bauherrlicher Gesiba jenes Prinzip auf, das Architekt Harry Glück mit seinen Wohntürmen in Alt-Erlaa schon vor 30 Jahren vorexerzierte. Glück hatte damals richtig erkannt, dass sich die Bewohner zum sozialen Austausch und zur Kommunikation gerne auf den Dächern seiner Häuser versammeln. Das läge am Ausblick, an der frischen Luft und an der Entfernung zu den Autos und zum Lärm.

Die Gefahr, dass diese Terrasse eines Tages - wenn der allererste Reiz verflogen sein wird - zu einem öden Raum verkommen wird, besteht jedenfalls nicht. Denn hier wird Mehrwert mit Notwendigkeit verknüpft: Ein Dutzend Wohnungen wird über diesen hoch liegenden Freiraum erschlossen.

Am Ende der Terrasse wird es eng, die breite Fläche verjüngt sich dann zu einem schmalen Laubengang, der noch zu der einen und anderen Wohnung führt. Blickt man nach unten, sieht man die Kagraner Bevölkerung aus der Vogelperspektive, Autos werden klein, Hunde winzig. Blickt man nach oben, stülpt sich in bedrohlicher Gebärde die gelbe Zipfelmütze über einen drüber. „Nicht von ungefähr haben die Bauarbeiter dieses Eck der Baustelle Messnersteig getauft“, sagt Gerda Gerner. Das hat seinen guten Grund, richtig gemütlich ist es hier nicht.

Der Bau ist bezugsfertig und gereinigt, die Hochglanz-Fotos sind geschossen, jetzt gehört der Bau den Bewohnern. Und so füllt sich die Straße mit Lkws, auf denen kika, Michelfeit und Möbel Ludwig draufsteht. Umzugskartons stapeln sich vor den Wohnungstüren, mühsam werden Sitzlandschaften hindurchgepresst. Am Ende aller Tage wird der Kraftakt des Massenumzugs überwunden sein. Dann darf man gespannt sein, welchen Stellenwert die vorerst undefinierten Flächen und Räume einnehmen werden.

In seinem Essay Zukunft bauen hält der große Architekturschreiber Manfred Sack ein Plädoyer für eine „schöne“ Architektur. Das anonyme Wohnen hingegen verpönt er als „eine Architektur von armseliger Gestalt, Massenware, nicht mehr bestimmt vom Gestaltungsanspruch ausdrucksbesessener Architekten, sondern inzwischen von den Finanzabteilungen der Wohnbaugesellschaften“. Mancher Bauträger wird sich an den Kopf greifen und sich wundern, wie man so wertvolle Rendite-Flächen nicht zu Geld machen kann. Wie wird man ihm in einer wirtschaftlichen Tiefkonjunktur, die sich ganz und gar dem Sparen verschrieben hat, den Aspekt des Mehrwerts beibringen können?

Nicht jeder Wert lässt sich in Euro ausdrücken, manche Wertigkeit bleibt maßstablos. Fakt ist: Räumt man dem Sozialen nicht genügend Freiraum ein, dann droht der Kollaps eben jenes Systems, das sich sozialer Wohnbau nennt. Manfred Sack: „Verloren der soziale Anspruch des Ästhetischen - ebenso wie die ästhetische Qualität des Sozialen.“

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