Bauwerk

Wohnüberbauung Lokomotive
Knapkiewicz & Fickert - Winterthur (CH) - 2006

Wohnung für die Existenzvielfalt

Zwei Themen geht die Überbauung ‹Lokomotive› Winterthur von Knapkiewicz & Fickert auf den Grund: dem industriellen Ausdruck und der Wohnung für die Existenzvielfalt. Die Härte und Direktheit der Baukörper erinnert an die Fabrik. Die Wohnungen mit ihren ungewohnten Grundrissen sind eine Antwort auf die demografischen Tatsachen.

7. Dezember 2006 - Benedikt Loderer
Man muss zweimal hinschauen um herauszufinden, was neu und was alt ist. Die Schweizerische Lokomotivenfabrik neben dem Sulzer Stammareal in Winterthur, die es längst nicht mehr gibt, lebt hier tapfer weiter. Sie hat sich in Wohnungsbau verwandelt, aber die Direktheit und die Härte der Industrie sind geblieben, genauer, anders geschaffen worden. Das neue Ensemble macht den Eindruck, es sei seit den Fünfzigerjahren in verschiedenen Etappen entstanden. Die vier parallelen Hauszeilen haben nur eine Strassenfassade, diejenige an der Agnesstrasse; sie ist aus Sichtbackstein. Hier präsentiert sich der Stolz einer prosperierenden Fabrik und dieses Gebäude ist auch eine der Schauseiten des geschlossenen Industrieareals. Die drei weiteren Zeilen liegen nicht an Strassen, sondern an aus dem Fabrikareal ausgegrenzten Zwischenräumen. Man geht herum und ist etwas eingeschüchtert, Winterthur, die Arbeiterstadt, wird hier als Stimmung nochmals lebendig. Ist es eine kritische Rekonstruktion? Ein Wiederaufbau ist es jedenfalls nicht. Nur die Halle ist im Kern alte Bausubstanz, mit neuem Dach allerdings. Die übrigen Gebäude sind neu, genauer, neualt.

Die Bauten sind in verschiedenen Etappen hingestellt, wie vom Baubüro der Lokomotivenfabrik entworfen. Wie wenn man sie damals pragmatisch in eine freie Ecke des Fabrikareals gestellt hätte. Damals hätte man Wohnraum für die Fremdarbeiter gebraucht. Die Fabrikstimmung liegt in den kargen Zwischenräumen, den Fassaden mit den hellen Putzstreifen, den langen, parallelen Zeilen. Ein Ensemble, das sei nicht verschwiegen, das eine gewisse Beklemmung auslöst, allerdings nur bei denen, die die Fabrik von früher als unwirtlichen Ort kennen lernten.

Diese sorgfältige Weitererzählung der Fabrikgeschichte stützt sich auf die heutige industrielle Umgebung. Was aber geschieht, wenn die Industriebauten in der Umgebung durch Fachmärkte oder Technopärke ersetzt werden? Wenn die nächsten Architekten in Blech, Glas und Tagesmode weiterbauen? Die Wohnbauten von 2006 werden als Erinnerung an die Industrie von 1950 wie eine Insel dastehen, ein Denkmal aus zweiter Hand. Die 120 Wohnungen allerdings stammen nicht aus den Fünfzigerjahren, sondern sind von heutiger Grosszügigkeit. Von der Zweieinhalb- bis zur Sechseinhalbzimmerwohnung ist vieles zu haben, genauer, ist zum grössten Teil schon vermietet. Es gibt Wohnungen mit Dachterrassen, aber auch solche mit Vorgärten, es gibt Geschosswohnungen und Maisonettes. Für die Liebhaber der Grundrisskunde ist bemerkenswert, dass je nach Zeile mit sehr kleinen, aber auch mit sehr grossen Bautiefen operiert wurde. Alle Grundrisse können auf der Website studiert werden. Zwei Wohnungen seien stellvertretend hier besprochen. Die Maisonette im Haus Agnesstrasse 8 (der Sichtbacksteinbau) und die Hallenwohnung Agnesstrasse 12b mit dem tiefsten Grundriss.
Die Maisonette blickt auf der einen Seite in die Halle, auf der anderen zur Quartierstrasse. Man betritt sie von der Halle aus über eine Treppe durch einen leuchtend grünen ‹Eingangsschrank›. Der Weg macht eine Wendung und man steht im doppelhohen Raum der Galerie. Die Öffnung ist bescheiden, die Wirkung gross. Die Maisonette, wie ein Häuschen, überrascht durch die Grosszügigkeit, die trotz dem knapp geschnittenen Grundriss darin herrscht. Die Höhe der Zweigeschossigkeit macht aus einem simplen Reihenhaus ein Raumerlebnis.

Eigentlich ist die Hallenwohnung nicht zu vermieten, wie jeder Immobilienfachmann weiss. An diese übergrosse Halle sind zwei gefangene Zimmer angeschlossen! Eine vernünftige Tag-Nachtzonierung gibt es nicht, was helfen da die Doppltüren? Zugegeben, es gibt eine geräumige Loggia und eine (fast) abgeschlossene Küche. Schon wieder ein Architektengrundriss, schnaubt der Immofachmann. Wer noch Beispiele sucht, die das Ende der Familienideologie im Wohnungsbau beweisen, dann findet er sie hier. Die Hallenwohnung ist nicht länger nach dem Abzählvers ‹Mami, Papi und drü Chnöpf› entworfen, obwohl sie auch dafür geeignet wäre. Es sind nicht Arbeiterfamilien, die hier einziehen, sondern die Konkubinats-, Rumpf- und Neukombinationshaushalte; Seniorenrückzugsgebiet und Arbeitsplatz-zu-Hause-Gebiet sind hier. Wohnungen für die Existenzvielfalt. Knapkiewicz & Fickert liefern die passenden Grundrisse. Dass die neuen den alten gleichen, jenen der bürgerlichen Wohnungen um 1900, ist kein Zufall. Deren Qualitäten hat man oft beschworen, jetzt ist es Zeit geworden, die Lehren daraus zu ziehen.

Für die Bauherrschaft war die Überbauung Lokomotive Winterthur ein Wagnis. Die industrielle Härte ist nicht ein Anliegen der Investoren; gegen die Fülle der Grundrisse und deren ungewohnter Zuschnitt sind sie normalerweise skeptisch. Hier sprang ein Investor über seinen Schatten: Risiko kann auch mit ‹die Möglichkeit, intelligent zu sein›, übersetzt werden. Denn die Lage in Winterthur ist nicht besonders attraktiv. Das Ungewöhnliche ist auch eine Antwort darauf. Das Neue entsteht im Problemgebiet, nicht an der Goldküste.

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Für den Beitrag verantwortlich: hochparterre

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