Bauwerk

Jugendnotschlafstelle ´Chill Out´
Rainer Köberl - Innsbruck (A) - 1999
Jugendnotschlafstelle ´Chill Out´, Foto: Lukas Schaller
Jugendnotschlafstelle ´Chill Out´, Foto: Lukas Schaller
14. September 2003 - Az W
Nach einem Jahr intensiver Suche und Besichtigung von über vierzig Lokalitäten waren die Leute von DOWAS erfolgreich. Als idealen Standort für das „Chill Out“ fanden sie am Südrand des Stadtkerns ganz nahe am Bahnhof ein Mietobjekt, das auch von der Substanz her einiges mitbrachte und sogar in Friedrich Achleitners Architekturführer aufscheint: ein 1969 von Siegbert Haas an gründerzeitlichen Altbestand angedockter, zweigeschossiger Pavillon für einen inzwischen wieder abgesiedelten Elektro-Großhandel. Im kleineren, westlichen Altbauteil war die Grundstruktur durch massive Wände weitgehend vorgegeben. Im etwas größeren, nach drei Seiten offenen Neubau bestanden die einzigen grundrisslichen Fixpunkte in den zwölf Stahlstützen des Erdgeschosses, in den Fluchten der Außenhaut und der Positionierung von Liftschacht und Treppe. In einer Kombination aus Alt- und Neubau galt es, eine geeignete Adaptierung für die zweipolige Struktur des „Chill Out“ vorzunehmen, sodass die Anlauf- und die Notschlafstelle getrennt voneinander und zugleich durchlässig zueinander funktionieren können.
Durch die Planung von Köberl/Tschapeller kommt diese spezielle Verschränkung vor allem im Erdgeschoss zum Tragen: einerseits die zentrale Anlaufstelle - eigentlich ein sehr offener, intensiv mit der Straße kommunizierender „Cafe“-Raum mit ein paar Tischen, Sesseln, Theke und Lümmelbord - verbunden mit den Büroräumen der Beratungsstelle im Altbau, und andererseits hinter diesem „Cafe“ die Gemeinschaftsräume des Notschlafbereiches: Foyer, Küche und Wohnzimmer, die sich zum südseitigen Hof hin öffnen. Der Haupteingang, zum „Cafe“ der Anlaufstelle, liegt an der Heiliggeiststraße. Die Notschlafstelle wird ums Eck vom sogenannten Schulgassl aus erschlossen.
Im Obergeschoss sind die Einzel- und Doppelzimmer für die Jugendlichen, Sanitärbereiche sowie ein Raum für die Nachtdienstmitarbeiter:innen. Im Keller finden sich Freizeitraum, Waschküche, Schließfächer, Lager- und Maschinenraum. Diese drei Ebenen verknüpften die Architekten mit einer neu in die Deckenöffnungen gefügten Treppe, erweitert durch einen eigenen Sanitärblock (mit Dusche und zwei WC), auf halber Höhe zwischen Erdgeschoss und Keller eingeschoben. Sieben Stufen unter das Niveau des „Cafe“ reichend ragt diese körperliche „Erste-Hilfe-Box“ mit ihrer Decke als meterhohes Sitz- und Liege-Podest aus dem neuen Gussasphaltboden heraus, ist wie die Treppe mit lackierten MDF-Platten verkleidet und setzt im Zentrum dieses nur durch minimale Tektonik strukturierten Raumes einen ganz starken, skulpturalen und fokussierenden Akzent.
Diese Treppe ist sowohl vom Eingang im Schulgassl als auch vom „Cafe“ aus zugänglich, kann durch eine Schiebetür aber vom „Cafe“-Bereich abgeschirmt werden. Auch im Obergeschoss ist der Mädchentrakt mit eigener Sanitäreinheit durch eine Schiebetür klar vom übrigen separierbar.
Die Aspekte des Übergangs vom öffentlichen Raum nach innen, der Orientierung bzw. der Kommunikation zwischen den Gebäudezonen und -ebenen ist deshalb so ausführlich beschrieben, weil sie aus sehr komplexen Überlegungen resultieren, die sozialtherapeutisches Wissen in ein Raumkonzept umsetzen. Ein Großteil dieser Jugendlichen hat bereits prägende, negative Erfahrungen mit anderen Wohlfahrtseinrichtungen, mit Heimen u. dgl. hinter sich; Skepsis und extremes Distanzbedürfnis zu „Institutionen“ herrschen vor. Deshalb ist der Anlaufbereich so offen, übersichtlich, transitorisch wie möglich gehalten. Nur eine Glasscheibe steht zwischen außen und innen. Auch von innen bleibt der Blickkontakt zur Straße rundum präsent, zugleich werden aber „verortende, vertrauensbildende“ Elemente zurückhaltend und doch sehr klar angeboten - Theke, Tische, filigrane Sessel mit frischen Farben, Treppen-Podest, gefilterter Blick zur Gemeinschaftsküche. Für diese Elemente ist ein unterschwelliger Farb- und Materialcharakter signifikant, der sozusagen „Nähe“, provisorisches „Ankommen“ andeutet, jenseits aller „heimeligen“ Klischees.
Köberl ersetzte die ursprünglich hinter den Stahlstützen liegende Fassade im Erdgeschoss durch ein außen liegendes, umlaufendes Glasband, nur unterbrochen durch die kaum merklich zur Straße hinaus geneigten, kleinen Windfänge der beiden Eingänge, ausgeführt ebenfalls in MDF-Paneelen.
Die Zimmer sind ebenso reduziert gestaltet, die abgehängten Hochbetten sparen Raum und verbinden die Situation von Rückzug und temporärem Schutz mit dem Gefühl von Überblick und „Aufgehobenheit“ - ein nochmals geschützter und simultan offener Raumteil im bereits geschützten Raum. Die Verkleidung der Sanitärbereiche mit grauem Eternit ist billig, robust - signalisiert Anonymität, aber eben nichts Klinisches.
Nur vier Materialien - Glas, Asphalt, MDF-Platten, Eternit (auch geschliffen als Tischplatten!), dazu ein bisschen Metall und minimale Leuchten von Halotech - das riecht nach flotter, gestylter Reduktions-Ästhetik, ist hier aber ganz das Gegenteil: meisterhafte Beherrschung von minimalen Ressourcen, ein Raum mit fast nichts, der aber ein Höchstmaß an wirklicher „Moderne“ leistet, die in nichts anderem besteht als im anstrengungslosen, völlig ausbalancierten Komfort des Ungezwungenen. (Gekürzter Text von Otto Kapfinger)

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Für den Beitrag verantwortlich: Architekturzentrum Wien

Ansprechpartner:in für diese Seite: Maria Welzigwelzig[at]azw.at

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