Bauwerk

Neue Monte Rosa-Hütte
Studio Monte Rosa, Bearth & Deplazes - Monte Rosa (CH) - 2009
Neue Monte Rosa-Hütte © VELUX

Neue Monte Rosa Hütte

11. Juli 2010 - newroom
Neue Monte Rosa-Hütte SAC – Bemerkungen zur Architektur
Problemstellung
Prägend für den Status der Neuen Monte Rosa-Hütte ist ihre Autonomie inmitten einer sensiblen
Landschaft, in einer extremen Klimaregion, fernab bequemer, zivilisatorischer Versorgungsnetze –
in „splendid isolation“ auf über 2'800 m ü. M. An diesen Ort führt keine Strasse, an diesem Ort gibt
es gibt keinen Strom, kein fliessendes Wasser, keine Kanalisation; nur Fels, Schnee und Eis. Von
diesen Umständen betroffen sind die Produktion, die Logistik der Baustelle, die autarke
Infrastruktur und der Betrieb der Hütte.
Die Aufgabe, an diesem isolierten Ort eine Gaststätte, eine Herberge, zu realisieren bedeutet, die
ungezähmte Natur des Ortes und die gewissermassen urbane Kultur des Programms in einer
Baute zusammen zu führen. Diese Aufgabe stellt höchste Anforderungen an die Technik, die
Konstruktion und die Architektur.
Architektonisches Konzept
Das architektonische Konzept basiert auf einem kompakten, punktförmigen Baukörper, der auf
einem leicht abfallenden, kräftigen Felsrücken sitzt. Das Gebäude erscheint je nach Standpunkt
gedrungen und kantig, einem erratischen Block oder Findling ähnlich. Dann wieder funktioniert
das Objekt als Orientierungspunkt, als zeichenhafter Markstein in der Landschaft, und weist dem
müden Wanderer den Weg. Hinter der hermetischen, harten Schale vermutet er Schutz und
Geborgenheit. Die Konturen der Körpers sind facettiert, sie scheinen von Wind und Wetter geformt
und geschliffen zu sein. Gegen Süden prägt ein markantes, quadratisches Feld mit schillernden
Solarzellen die Figur. Ein spiralförmiges Fensterband windet sich wie ein Einschnitt um den ganzen
Baukörper herum.
Im Inneren des punktförmigen Hauses wird die Einsamkeit und Einzigartigkeit der Lage sozusagen
kondensiert, der Besucher wird in das fiktive Zentrum der naturgewaltigen Landschaft versetzt. Die
innere Raumstruktur ist radial aufgebaut und orientiert sich gleichwertig nach allen Seiten. Der
Essraum und die peripher geführte Kaskadentreppe präsentieren dem Besucher, durchs ganze
Gebäude führend, ein nahtloses Landschaftspanorama. Die Schlafplätze befinden sich unter dem
dicken Schutzmantel der Fassaden in geborgenen Kammern mit kleinen Guckfensterchen.
Die Form der Neuen Monte Rosa-Hütte basiert auf einer Reihe geometrischer Operationen. Im
Entwurfsprozess sind dabei sowohl kontextuelle, programmatische, strukturelle, konstruktive wie
auch energetische Faktoren verhandelt worden. Erst aus dem Wechselspiel aller dieser Einflüsse
kristallisierte sich die endgültige architektonische Form heraus.
Die Tragstruktur basiert auf einem fünfgeschossigen, segmentförmig aufgebauten
Holzrahmenwerk. Der computergestützte, maschinelle Fertigungsprozess ermöglichte dabei
beispielsweise, traditionelle Konstruktionsweisen wie den Fachwerkbau mit seinen geometrisch
komplexen Holzverbindungen wieder aufzugreifen und umzusetzen.
Das Konzept der hoch gedämmten Fassade entspringt einer Mischung aus Energiespar- und
Energiegewinnstrategie. Die facettenartige, metallische Hülle wird auf der Südfassade mit
schillernden Photovoltaikpaneelen besetzt, die das Gebäude aktiv mit der notwendigen
Betriebsenergie (Strom) versorgen. Um das ganze Gebäude herum windet sich ein spiralförmiges
Glasband. Es folgt der Sonne, sodass im Essraum und im Raum der peripher ansteigenden
Kaskadentreppe passiv einstrahlende Sonnenwärme anfällt, die im Gebäude mittels
Ersatzluftanlage verteilt werden kann.
Studio Monte Rosa
Für die Planung und Ausführung der Neuen Monte Rosa-Hütte ist im Rahmen des Jubiläums 150
Jahre ETH Zürich am Departement Architektur das Studio Monte Rosa eingerichtet worden.
Während vier Semestern wurden Studierende zu einem wechselnden Entwurfsteam formiert. Das
Angebot des Projektunterrichts umfasste die Planung von der Konzeption bis zum provisorischen
Bauprojekt. Besonderes Gewicht wurde auf die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Spezialisten
und Fachplanern gelegt. Das didaktische Konzept basierte auf der Schaffung einer künstlichen
Notlage, das Resultat zielte auf eine autarke Insellösung. Zentrale Fragestellungen beim Entwurf
waren zum Beispiel:
– die Transportlogistik: Wie und in welcher Form wird das Baumaterial oder werden die Bauteile
auf die Baustelle transportiert? Welche Bedingungen werden durch die gewählte Logistik an die
Konstruktion gestellt? Und inwiefern beeinflusst die Logistik über die Konstruktion letztlich die
Architektur?
– Topographie und Struktur: Wie und in welcher Form gründet man in dieser ungezähmten,
naturgewaltigen Felslandschaft? Wie reagiert man auf die extremen äusseren Lasteinwirkungen
durch Wind, Schnee und Erdbeben? Welche Einwirkungen leiten sich daraus auf die Architektur ab?
– die Typologie des Hauses: Wie und in welcher Form siedelt man an einem Ort, wo es keine
gebaute Nachbarschaft, keine Infrastruktur, keine Zonen- oder Baulinienpläne gibt? Welche
Baukultur ist diesem Ort angemessen?
– Energie- und Wasserhaushalt: Wie und in welcher Form wird die Energie und das Wasser
gewonnen? Und was bedeutet Energie und Wasser in der Sprache der Architektur?
In den Diskussionen zeigte sich, dass die Aufgabe – überraschenderweise – durch die Abwesenheit
aller uns vertrauten zivilisatorischen Rahmenbedingungen letztlich vielmehr grundlegende,
urbane Problemstellungen in sich birgt, als man gemeinhin vermutet hätte.
Nach einem zweijährigen, evolutionären Entwurfsprozess wählte eine namhafte Jury das nunmehr
ausgeführte, prägnante Projekt zur Umsetzung aus.
Das Studio Monte Rosa stellte eine neue prototypische, auf die Praxis ausgerichtete Form der
Wissensvermittlung und -aneignung dar, was im Studienplan des Departements Architektur
seither Eingang gefunden hat unter dem Begriff „Entwurf mit integrierten Disziplinen“. Das Studio
Monte Rosa war sinngemäss so etwas wie ein „architektonischer Flugsimulator“, in dem die
nächste Generation bereits an Lösungen für die Herausforderungen der Zukunft arbeitet.
Fazit
Die Neue Monte Rosa Hütte ist ein „case study project“ an der Schnittstelle zwischen Umwelt und
Stadt. Erst in der Isolation wird die ungeheure Sensibilität sowohl der natürlichen wie der urbanen
Lebensgrundlagen offensichtlich.
Es geht hier also nicht einfach um eine nachhaltig gebaute oder energieeffiziente Berghütte,
sondern vielmehr um das Bewusstsein dieser kritischen Abhängigkeiten, sowohl in Richtung eines
schonenden Umgangs mit natürlichen Ressourcen in einer doch endlichen Landschaft als auch der
Übertragbarkeit der vor Ort gewonnenen Erkenntnisse auf die globale Stadt und ihre künftige
Entwicklung schlechthin.
High tech oder low tech? – In der Architektur findet oft beides zusammen. Gebäude, die über viele
Generationen bestehen konnten, zeigen exemplarisch, dass Fortschritt nicht nur an die
Entwicklung immer neuer Technologien gebunden ist. Der Erfahrungsschatz vieler Generationen
übersteigt in jedem Fall die Möglichkeiten eines einzelnen Menschenlebens – eine heute oft
unterschätzte Tatsache, gerade auch im Umfeld der ETH.
Die Macht der Verführung mittels digitaler Medien und globalem Marketing ist frappant, vor
allem, wenn am Anfang nur ein oberflächlich visualisiertes „Luftschloss“ steht: Vom „Kristall in den
Alpen“ war sofort die Rede. Wir vergleichen die Neue Monte Rosa-Hütte und den Begriff der
Nachhaltigkeit, für den sie steht, vielmehr in Analogie zum komplexen Bau und Organismus einer
Termitenpopulation, wo erst Bauwerk und Population gemeinsam ein emergentes System zu
bilden imstande sind.
Credits
Studio Monte Rosa (Konzeptphase):
Prof. Andrea Deplazes
Marcel Baumgartner, Oberassistent
33 Studierende des Departements Architektur, ETH Zürich
Ausführungsplanung (Realisierungsphase):
Bearth & Deplazes, Architekten, Chur und Zürich
Daniel Ladner, Gesamtleitung
Mit Studio Monte Rosa:
Prof. Andrea Deplazes
Marcel Baumgartner, Projektleiter
Kai Hellat, Mitarbeit

Konstruktion
Fundation 40 Felsanker, Punktfundamente aus Beton
sternförmiger Montagetisch aus Stahl
Montagebau 6-geschossiger, digital vorfabrizierter Holzelementbau
raumseitig sichtbare Rahmenkonstruktion
offenes Fachwerk im Erdgeschoss
Fassade Aluminiumfassade mit mineralischer Dämmung
Fensterband als Pfosten-Riegel-Konstruktion mit Dreifachverglasung
Photovoltaik als fassadenintegrierte Pfosten-Riegel-Konstruktion
Dachflächenfenster
Innenausbau Schreinerarbeiten
massgefertigtes Mobiliar

Energie- und Gebäudetechnik
Autarkiegrad Energie 90 %
Photovoltaikanlage 84 m²
Peak-Leistung Photovoltaik 16 kW
Thermische Solarkollektoren 60.5 m²
Notstromaggregat (BHKW) elektrische Leistung: 12 kW
thermische Leistung: 27 kW
Volumenstrom Lüftungsanlage 4'300 m³/h
Wasserspeicher Felskaverne mit 200 m³ Speichervermögen
Abwasseraufbereitung mikrobiologische Kläranlage
Grauwasser für Toilettenspülung
Meteostation Klimadaten für intelligentes Energiemanagement
Flächen nach SIA 416
Nutzfläche (NF) 698 m²
Verkehrsfläche (VF) 127 m²
Funktionsfläche (FF) 74 m²
Konstruktionsfläche (KF) 255 m²
Geschossfläche (GF) 1’154 m²
Gebäudevolumen nach SIA 416
Gebäudevolumen (warm) 3’369 m³
Gebäudevolumen (kalt) 330 m³
Gebäudevolumen total 3’699 m³
Fassadenflächen
Fassadenfläche Aluminium (warm) 786 m²
Fassadenfläche Fensterband 128 m²
Fassadenfläche Photovoltaik 122 m²
Fassadenfläche Aluminium (kalt) 72 m²
Fassadenfläche total 1’108 m²
Gewicht
Gewicht Rohbau ca. 280 t

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