Bauwerk

Swiss Re Tower
Foster and Partners - London (GB) - 2004
Swiss Re Tower, Foto: Hans Ege
Swiss Re Tower, Foto: Hans Ege
Swiss Re Tower, Foto: Hans Ege

Gurken und Eier

Londons neue Lust an architektonischen Zeichen

Trotz Terrorangst werden in London neue Wolkenkratzer errichtet. Mit Norman Fosters Swiss Re Tower erhält die kantige Skyline der City einen harmonisierenden Akzent, der aber bald durch neue Megastrukturen relativiert werden dürfte. Einen kritischen Kommentar zu diesem Höhenrausch gibt die Ausstellung «Superstudio» im Design Museum.

27. März 2003 - Roman Hollenstein
Wer vor nicht einmal zehn Jahren im Zusammenhang mit zeitgenössischer Baukunst London erwähnte, erntete höchstens ein mitleidiges Lächeln. Denn was gab es dort zu sehen ausser den High-Tech-Ikonen des Lloyd's Building und des Channel-Four-Gebäudes von Richard Rogers? Doch die Zeiten, als man für Neubauten englischer Architekten noch in die Provinz fahren musste, gehören der Vergangenheit an, seit mit der Peckham Library von Will Alsop und dem eiförmigen Medienturm im Lord's Cricket Ground von Future Systems zwei höchst eigenwillige Bauten entstanden sind - die allerdings ähnlich versteckt liegen wie die chromglitzernde Unterwelt der neuen Jubilee Line. Umso präsenter im Stadtbild sind die von Herzog & de Meuron in Giles Gilbert Scotts Bankside Power Station eingerichtete Tate Modern und die erst durch ihr Schwanken so richtig ins Gespräch gelangte Millennium Bridge von Ove Arup, Norman Foster und Anthony Caro. Über diesen eleganten Ingenieurbau pilgern heute die Kulturbeflissenen von St. Paul's Cathedral zum Musenkraftwerk der Tate, in dem zurzeit die 135 Meter lange und 35 Meter hohe Turbinenhalle wie verwandelt scheint durch eine ebenso gigantische wie enigmatische Arbeit von Anish Kapoor.


Organoide Formen

Dieses spektakuläre, von Kapoor wohl aufgrund seiner blutroten Kunststoffhaut nach Marsyas, dem von Apollon gehäuteten Satyr, benannte Werk - halb Venusfliegenfalle, halb Trompete - bringt als ingenieurtechnisches Mirakel das Gebäude mit der Kunst in einen Dialog. Gleichzeitig verweisen seine Haut und seine organische Form auf wichtige Positionen des gegenwärtigen Architekturdiskurses, die in der farbigen Hülle des unlängst eingeweihten Laban Dance Centre von Herzog & de Meuron oder in der ovalen Gestalt des im vergangenen Jahr nahe der Tower Bridge eröffneten Stadthauses der Greater London Authority von Norman Foster widerhallen. Dieses Zwitterwesen, halb Ei, halb schiefer Turm, zählt nicht zu Fosters Meisterwerken; und dennoch markiert es eine wichtige Zwischenstufe auf dem Weg hin zu dessen neustem Bau: dem gleich jenseits der Themse in der City sich erhebenden Swiss Re Tower. Beide Arbeiten sind kaum denkbar ohne den organoiden Cricket-Medienturm von Future Systems und mehr noch ohne deren leicht gekrümmten Riesenphallus eines Projekt gebliebenen Themsehochhauses.

Diskret wird der im Rohbau bereits vollendete Swiss Re Tower von den Londonern «The Gherkin», die Essiggurke, genannt, auch wenn der Turm mit seinen diagonalen Fensterbändern eher einem Tannzapfen gleicht. Seine geschmeidige Erscheinung, in welcher die heute gerne gegeneinander ausgespielten organischen und geometrischen Formen überzeugend zusammenfinden, verleiht der harten Skyline etwas Humanes. Gegenüber der leicht geblähten Körpermitte ein wenig eingezogen, macht der kreisrunde Grundriss aus dem Turmbau einen skulpturalen Solitär, der sich gut in die vertikale Stadtlandschaft eingliedert und auf Fussgängerebene einen in der dicht bebauten City höchst erwünschten Platzraum mit vielen Durchblicken schafft. Den Angestellten soll dereinst der nach neusten ökologischen Erkenntnissen errichtete Bau helle Büros und Grossräume mit Ausblicken auf die Stadt und quer durchs Haus bieten; und wo man jetzt in schwindelerregender Höhe noch Wind und Wetter ausgesetzt ist, wird in einem halben Jahr unter einer gläsernen Kuppe ein leider nicht öffentlich zugängliches Aussichtsrestaurant entstehen. Nach seinem vielgerühmten Hongkonger Bankenturm von 1986 beweist hier Foster erneut, dass auch im Hochhausbau, der sich allzu oft im Zusammenspiel von Ingenieurtechnik und Fassadendesign erschöpft, städtebaulicher und baukünstlerischer Mehrwert geschaffen werden kann.

Statt mit einem Höhenrekord aufzuwarten, versucht Foster mit dem 180 Meter hohen Neubau heilend auf die Skyline der Londoner City einzuwirken, deren kantige Hochhäuser schon vor Jahren Prinz Charles wie «Furunkel im Gesicht eines lieben Freundes» erschienen waren. Allerdings dürfte der ausgleichende Einfluss des Swiss Re Tower nur von kurzer Dauer sein, denn trotz verbreiteter Terrorangst sollen allenthalben neue und vor allem höhere Bauten entstehen, wie etwa das Heron Building der New Yorker Kommerzarchitekten Kohn Pedersen Fox, das 218 Meter hoch in den Himmel wachsen wird. Obwohl allen klar ist, dass sich die City mehr denn je gegenüber der neuen Bürostadt in den Docklands behaupten muss, will die Kritik an den neuen Wolkenkratzern nicht abklingen. Vor allem Renzo Pianos 300 Meter hoher London Bridge Tower, eine spitz zulaufende, schon jetzt abschätzig «Glasscherbe» genannte Pyramide, ist heftig umstritten. Würde der als zeichenhafte Erweiterung der City südlich der Themse geplante, von English Heritage als «London's greatest folly» bezeichnete Hochhauskeil in den Himmel getrieben, so bedeutete dies zweifellos eine erneute Verhärtung der Skyline.


«Kapitalistische Architektur»

Entfernt erinnert Pianos vertikale Megastruktur an die utopischen Projekte von Superstudio. Allerdings setzte diese 1966 in Florenz von Adolfo Natalini und Cristiano Toraldo di Francia gegründete Architektengruppe ihre Vision von minimalistischen weissen Gitterstrukturen, die Landschaften und Städte gleichermassen überwuchern, als Kritik an der «kapitalistischen Architektur» ein. Damit unterschied sie sich vom zeitgleich aktiven, aber bekannteren Londoner Team Archigram, dessen fortschrittsgläubiger Ansatz stark vom Pop und vom Metabolismus beeinflusst war. Gleichsam als Beitrag zur gegenwärtigen Londoner Architekturdebatte zeigt nun das Design Museum eine kleine Retrospektive von Superstudio. Die trocken präsentierte Schau wird der aus politischem Widerstand herausgewachsenen Sichtweise der Florentiner Theoretiker, die gegen die «Sterilisierung der Träume» durch eine Architektur der unbegrenzten Möglichkeiten kämpften, durchaus gerecht. Ihre ebenso radikalen wie ideologischen Ansichten machten sie in den sechziger und siebziger Jahren in Zeitschriften, Büchern, Ausstellungen und Filmen einem irritierten Publikum zugänglich. Mit ihren provokativen, von der Erkenntnis der Grenzen des Wachstums geprägten Vorschlägen wollten sie die massiven architektonischen Eingriffe in die Umwelt in Frage stellen. Denn ihr Fernziel war die Verwandlung von Architektur in Leben, ein Wunschtraum, der sich in der Turbinenhalle der Tate Modern - wohl eher zufällig - ein ganz klein wenig zu erfüllen scheint, zumal mit Hilfe von Kunstwerken wie Kapoors «Marsyas».


[Die Ausstellung Superstudio im Design Museum dauert noch bis zum 8. Juni. - «Marsyas» von Anish Kapoor ist noch bis zum 6. April in der Turbine Hall der Tate Modern zu sehen.]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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