Bauwerk

Sächsisches Hauptstaatsarchiv
Schweger & Partner - Dresden (D) - 2008

Ein Gehäuse für das kollektive Gedächtnis

Sächsisches Hauptstaatsarchiv in Dresden

Mit ihrem Erweiterungsbau für das Hauptstaatsarchiv Dresden schufen die Architekten einen Speicher, der konsequent aus der Funktion des Lagerns und des Zurverfügungstellens entwickelt ist. Mit der bereits begonnenen Sanierung der benachbarten Altbauten werten sie den Denkmalbestand auf und verhelfen ihm zugleich zu mehr Funktionalität.

4. Juni 2009 - Arnold Bartetzky
Als trutziger Palast von himmelsstürmender Höhe bietet sich das Hauptgebäude des Sächsischen Staatsarchivs in Dresdens Neustadt dar. Die Schaufassade an der Albertstraße zeigt über einer rustizierten, zweigeschossigen Sockelzone mächtige, kannelierte Pilaster in Kolossalordnung, die sage und schreibe sieben Obergeschosse übergreifen. Zwischen den beiden Pilasterpaaren fassen Wandvorlagen von gleicher Höhe die mittleren drei Achsen ein, die durch ausbuchtende, senkrechte Fensterbahnen mit applizierten Dekorationen aus Kupferplatten betont sind. Über der Traufe des weit vorkragenden Mansarddachs sind zwei weitere Geschosse angeordnet. Auch die übrigen Fassaden des auf einem fünfeckigen Grundriss errichteten, einen Innenhof umschließenden Großbaus geben sich pompös, allerdings nimmt ihre Instrumentierung mit Würdeformen proportional zum Schauwert ab.

Mogelbau des Späthistorismus

Der vom Dresdner Architekten Karl Ottomar Reichelt entworfene, 1915 fertiggestellte Bau ist eine grandiose Mogelpackung des Späthistorismus. Hinter der zwischen einem modernisierten Neoklassizismus, Neobarock und zaghaften Reflexen des Jugendstils schwankenden Pracht der Gebäudehülle verbergen sich fast ausschließlich normierte Magazinräume von rein funktionalem Zuschnitt. In der Sockelzone der Schaufront ist, wie es sich für einen Palast gehört, durch große Maueröffnungen eine repräsentative Eingangssituation angedeutet, doch tatsächlich ist das Gebäude von dieser Seite überhaupt nicht zugänglich. Durch Abstufungen des Dekorapparats wird von außen eine Hierarchisierung der Bauteile vorgenommen, die ein ähnlich differenziertes Raumprogramm vermuten lässt, aber im Innern keine Entsprechung findet: Mit Ausnahme des Kartensaals befinden sich die wenigen Repräsentationsräume des Staatsarchivs nicht im Hauptgebäude, sondern in dem an der Archivstraße angrenzenden, zeitgleich entstandenen Verwaltungsbau, der zwar ebenfalls opulent daherkommt, aber allein schon durch seine von der Albertstraße zurückgesetzte Lage und sein deutlich geringeres Volumen dem Magazinbau untergeordnet ist.

Für hundert Jahre sollten die Lagerkapazitäten des Staatsarchivs reichen. Schon seit der Errichtung von Reichelts Bauten wurde aber auf einem benachbarten Grundstück eine Reservefläche für einen Erweiterungsbau vorgehalten. Durch starken Zuwachs an Archivalien in der Nachwendezeit platzte der Magazinbau bereits etwas früher aus allen Nähten. Zugleich schritt der Verfall der beiden denkmalgeschützten, jahrzehntelang vernachlässigten Altbauten voran. Deshalb lobte der Freistaat Sachsen 2004 einen Architektenwettbewerb aus, der sowohl die Errichtung eines Neubaus als auch die Sanierung des Altbaubestands umfasste. Als Sieger wurde das im Bauen im Bestand erfahrende Büro Schweger Associated Architects gekürt.

Kontrapunkt der zweiten Moderne

Mit ihrem Magazinneubau an der Ecke von Archiv- und Erich-Ponto-Straße, der nach knapp zweijähriger Bauzeit im vergangenen Sommer eingeweiht wurde, setzen die Architekten einen Kontrapunkt zu Reichelts Erstbauten, wie er deutlicher kaum sein könnte. Denn während jene um der repräsentativen Außenwirkung willen die Funktion freizügigst negieren, ist dieser mit seltener Konsequenz aus seiner Funktion entwickelt.

Da ein Speichergebäude möglichst streng mit seinen Flächen und Volumina haushalten muss, entschieden sich die Architekten für die kompakte, raumsparende Form eines Quaders. Durch diesen Mut zur Reduktion schufen sie auf nur 6200 Quadratmetern Hauptnutzfläche – und damit 800 Quadratmetern weniger als in der Wettbewerbsausschreibung vorgesehen – Platz für die geforderten 32 Regalkilometer Archivgut und 460.000 Landkarten. Die fast vollständig geschlossenen Fassaden ermöglichen nicht nur die optimale Raumausnutzung durch Vergrößerung der Stellflächen, sondern erleichtern auch den Schutz der Archivalien vor Tageslicht wie vor klimatischen Schwankungen und vereinfachten, dank Reduzierung der Wärmeverluste, die im Wettbewerb geforderte Einhaltung des Passivhausstandards.

Das gut 15 Millionen Euro teure Gebäude ist einfach organisiert: Auf sechs oberirdischen und drei unterirdischen Geschossen gruppieren sich in der Regel vier große, rechteckige Räume um einen Erschließungskern, der Treppe, Aufzug und Installationsschächte aufnimmt. In jedem zweiten Geschoss wird die Raumdisposition gegenüber dem Kern um neunzig Grad gedreht – ein Prinzip, das an den Fassaden durch eine versetzte Anordnung der wenigen Fenster ablesbar ist. In den nur 2,38 Meter hohen Magazinräumen sind platzsparende Rollregalanlagen installiert, die einen schnellen Zugriff auf die Archivalien ohne Zuhilfenahme von Leitern erlauben. Mächtige Unterzüge tragen die Decken, deren zulässige Lasten etwa dreimal höher sind als im Bürobau. Dicke Stahltüren sollen im Brandfall die Ausbreitung des Feuers verhindern, die im Normalbetrieb nicht zu öffnenden Fenster die Entrauchung sicherstellen. Die Raumtemperatur beträgt konstant 18 Grad, die Luftfeuchtigkeit 51 Prozent. Einzig das Erdgeschoss weicht mit drei Metern Raumhöhe und einer großzügigeren Durchfensterung von dem spartanischen Regime des Baus ab, denn hier befinden sich die Restaurierungswerkstätten des Archivs und damit auch dauerhafte Aufenthaltsorte seiner Mitarbeiter. Ein unterirdischer Gang verbindet den Neubau mit dem Verwaltungs- und Magazinaltbau, wo die Archivalien künftig den Nutzern zugänglich gemacht werden.

Der Speicherfunktion des Erweiterungsbaus entspricht auch dessen äußere Erscheinung. Mit seiner Kantigkeit und den geschlossenen Mauerflächen strahlt er die Massivität eines in sich ruhenden, bergenden Gehäuses aus, das durch nichts erschüttert werden kann. Schwer und abweisend wie ein Bunker wirkt dieser Quader auf den ersten Blick. Bei näherem Hinsehen aber zeigen die scheinbar minimalistischen klinkerverkleideten Fassaden mit ihren wenigen Fenstereinschnitten nicht nur eine sorgfältig ausbalancierte Gesamtkomposition, sondern auch Hingabe an das Detail. Hier gibt es viel zu entdecken: Man bemerkt die unterschiedlichen Formate der im »Wilden Verband« vermauerten Vollklinker, ihr dezentes, zwischen Creme- und Sandtönen changierendes Farbspiel und die feine Reliefbildung, die sich durch die Unebenheit der Ziegel ergibt. Durch leicht eingerückte Ziegelreihen entstehen außerdem, gleichsam als Negativform eines Gesimses, umlaufende Linien, die, mit der erwähnten paarweisen Geschossanordnung im Innern korrespondierend, jeweils zwei Stockwerke zusammenfassen. Und wer ganz genau hinschaut, wird im Verlauf dieser Linien und in der Mitte der von ihnen gebildeten horizontalen Zonen offene vertikale Fugen ausmachen, die den Hohlraum zwischen der Stahlbetonkonstruktion des Gebäudes und seinem Klinkergewand belüften und zugleich kaum merklich jedes Einzelgeschoss akzentuieren.

Bei einem genaueren Blick stellt man auch fest, dass der Neubau bei all seiner Eigenständigkeit nicht als totaler Ignorant oder gar Provokateur seiner Nachbarn auftreten will. Leicht aus der Bauflucht der Archivstraße gedreht, verweigert er sich zwar einer linearen Fortsetzung der Gebäudereihe von Magazinaltbau und Verwaltungsbau. Durch die Drehung fügt er sich aber in die Flucht der Erich-Ponto-Straße ein und bemüht sich damit um einen Bezug zum benachbarten Neorenaissancebau des Sächsischen Justizministeriums. Und dennoch: Ganz ohne Konflikt geht es in dieser Kohabitation nicht zu. Vor allem das programmatische Flachdach des Neubaus lässt sich in dem von kaiserzeitlicher Architektur geprägten Umfeld kaum sozialisieren. Funktionalistische Konsequenz geht hier zulasten gutnachbarlichen Miteinanders.

Respektvolles Weiterbauen am Denkmalbestand

Der Konflikt wird sich allerdings wohl ein wenig entschärfen, sobald der Magazinaltbau und der Verwaltungsbau saniert sind. Zumindest farblich wird der Quader dann, wie von den Architekten beabsichtigt, mit den von Dreckschichten freigelegten Sandsteintönen der Nachbargebäude harmonieren. Neben der Restaurierung des Bestands, darunter auch der mit kostbaren Holz- und Keramikverkleidungen dekorierten, bemerkenswert gut erhaltenen Repräsentationsräume, sind bis zum Winter 2010/11 einige alles in allem denkmalverträgliche Umbauten geplant. So entsteht etwa anstelle des simulierten Eingangs an der Schauseite des Magazinaltbaus der neue Haupteingang, der in das durch einen Deckendurchbruch geschaffene Foyer führt. Dahinter öffnet sich ein großzügiges, fast die gesamte Gebäudehöhe einnehmendes Atrium, das durch eine Stahl-Glas-Überdachung des Innenhofs entsteht. Dieser imposante Raum wird als Besucherzentrum dienen, um das sich die künftigen Lesesäle gruppieren. So wird der Magazinaltbau schließlich doch noch zum repräsentativen Mittelpunkt des Archivensembles, und die großen Gesten seiner Fassaden erhalten nachträglich ihren Sinn.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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