Bauwerk

Festspielhaus der Tiroler Festspiele Erl
DMAA - Erl (A) - 2012

Ikonen am Berghang

Konkurrenz für Bayreuth: Einer „Verrücktheit“ verdankt sich die Entstehung des neuen Festspielhauses in Erl. Über das Zusammentreffen von Rauheit und Perfektion in der Tiroler Landschaft.

5. Januar 2013 - Christian Kühn
Auffällig war dieser Punkt in der Landschaft schon immer, als hätte jemand mit einem Stift eine aufsteigende Kurve in den Hang gezeichnet und dann mit Deckweiß nachgearbeitet. Die meisten hielten das Gebäude aus der Ferne für eine Kirche, und das war nicht ganz falsch: Hier hatten 1959 die alle sechs Jahre stattfindenden Erler Passionsspiele ein festes Haus für 1500 Zuschauer bekommen. Der Entwurf stammte vom Architekten Robert Schuller, der damit eine Ikone der Tiroler Nachkriegsarchitektur schuf, eine einprägsame Figur mit wenigen Elementen: eine gekrümmte, weiß verputzte Wand, die vor dem Hang zu schweben scheint und Zuschauerraum und Bühnenturm miteinander verbindet; darunter ein konzentrischer Ring rauer Sichtbetonscheiben, zwischen denen die Besucher das Haus betreten; und schließlich eine Menge kleiner, in die Wand des Bühnenturms getupfter quadratischer Öffnungen, die das Haus wie einen großen Lautsprecher erscheinen lassen, aus dem etwas in die Landschaft verkündet wird.

Ende der 1990er-Jahre entdeckte der Musiker und Dirigent Gustav Kuhn dieses Passionsspielhaus für sich und gründete hier die Tiroler Festspiele Erl, die seit 1997 jedes Jahr im Sommer stattfinden, mit Ausnahme der Jahre, in denen das Haus für Passionsspiele belegt ist. Unter Kuhns Leitung entwickelten sich die Festspiele zu einem international beachteten Ereignis mit einem Schwerpunkt auf der Musik Richard Wagners, das begann, Bayreuth Konkurrenz zu machen.

Das Passionsspielhaus ist für den Opernbetrieb eine Herausforderung. Für die Osterzeit ausgelegt, fehlt ihm die Wärmedämmung, wodurch es im Sommer oft heiß und im Winter unbenutzbar ist. Da es keinen Orchestergraben gibt, spielen die Musiker an der Rückwand der Bühne, was in Verbindung mit dem breit gelagerten Zuschauerraum allerdings eine außergewöhnliche Nähe zwischen Sängern und Publikum erlaubt. Die raue, einfache Gestaltung des Raums mit offenem Holzdachstuhl, einem Bühnenportal aus Sichtbeton mit eingelassener Orgel und die Bestuhlung mit Sperrholzsesseln ergeben eine besondere Atmosphäre, die in keinem anderen Opernhaus der Welt zu finden ist.

Man könnte das alte Passionsspielhaus als Musikinstrument mit einer Guarneri vergleichen, deren einzigartiger Klang im Gegensatz zu den Violinen des anderen großen Geigenbauers aus Cremona, Guiseppe Stradivari, angeblich nicht absoluter Perfektion zu verdanken ist, sondern einer genialen, nicht immer regelmäßigen Bearbeitung der Innenflächen des Resonanzkörpers.

Rauheit gegen Perfektion: So könnte auch die aktuelle architektonische Entwicklung um das Festspielhaus charakterisiert werden. Auf den Erfolg der Festspiele folgte bald der Ruf nach einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Das alte Haus aufzurüsten hätte dessen Charakter zerstört und bestenfalls durchschnittliche Bedingungen geschaffen.

Die Erweiterung um eine komplett neue Spielstätte ist das Ergebnis einer „Verrücktheit“, die den in Wörgl geborenen Industriellen Peter Haselsteiner nach seinem ersten Besuch der Festspiele 2004 erfasste. Er erkannte in Gustav Kuhn einen Seelenverwandten: Bayreuth zu übertreffen ist in der kulturellen Arena ein ähnliches Ziel wie in der wirtschaftlichen größter Baukonzern Europas zu werden. Mit der Zusage einer Finanzierung des Projekts mit Nettobaukosten von 13 Millionen Euro konnte 2007 ein Wettbewerb ausgeschrieben werden, an dem einige der besten österreichischen und internationalen Architekten teilnahmen, unter anderem Zaha Hadid, Dietmar Feichtinger und Marte.Marte. Am Ende betrugen die Gesamtkosten 36 Millionen, von denen 20 von Haselsteiner stammen.

Das Siegerprojekt von DMAA (Delugan Meissl Associated Architects) war das einzige, das die Idee des alten Passionsspielhauses weiterdachte und neben die Ikone des Jahres 1959 eine Ikone des Jahres 2007 setzte, ebenfalls mit wenigen klaren Linien in die Landschaft gezeichnet. Formal greifen DMAA auf ein Repertoire zurück, das sie ähnlich bereits beim Porsche Museum in Stuttgart und beim Filmmuseum in Amsterdam benutzt haben. Das Muster passt hier freilich perfekt, und wer dem spitzen Dachwinkel Formalismus vorwerfen möchte, müsste das auch beim Schwung des alten Passionshauses tun. In beiden Fällen liegt der Unterschied zwischen formalistischer Kulisse und Architektur in der Bewältigung des Übergangs zwischen außen und innen, und da bewähren sich die beiden Spielstätten in Erl auf ihre jeweils eigene Art. Das großzügige Foyer des Neubaus verbindet mit seinem leicht geneigten Boden zwei Zugangsniveaus und bietet präzise gefasste Ausblicke in die Umgebung, sowohl von der Eingangsebene als auch von einem Außenbalkon auf dem Niveau der Galerie.

Der Saal, der mit seiner gefalteten Holzvertäfelung die Motive des Baukörpers weiterführt, ist flexibel. So gibt es etwa kein fixes Bühnenportal, wodurch er sich für Konzerte in einen allseits holzvertäfelten Raum verwandeln lässt. Die Sichtbedingungen sind optimal, und die Akustik, für die Karl-Bernd Quiring verantwortlich zeichnet, ist in den ersten Kritiken als hervorragend eingestuft worden. Das Haus für Mozart, das man sich für Salzburg immer gewünscht hat, steht jetzt in Erl.

Für DMAA ist das Projekt ein weiterer Schritt in der Entwicklung einer Formensprache, die sie inzwischen mit höchster Virtuosität bis ins Detail beherrschen. Mit einem ähnlichen, noch stärker ins Skulpturale gesteigerten Entwurf für das Victoria & Albert Museum in Dundee sind sie 2010 in der zweiten Runde eines Wettbewerbs an Kengo Kuma gescheitert, der unter der Ansage des „Anti-Objects“ erfolgreich einen eigenen, diffuseren Formalismus propagiert. Ob die Zukunft der Architektur in noch höherer Perfektion liegt oder in der Fähigkeit, Störungen aufzunehmen und sie in eine positive Kraft zu wenden? Stradivari oder Guarneri: Man darf gespannt sein, wie DMAA sich in diesem Match in Zukunft positionieren.

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