Bauwerk

MuCEM
Rudy Ricciotti - Marseille (F) - 2012
MuCEM, Foto: Edmund Sumner / ARTUR IMAGES
MuCEM, Foto: Edmund Sumner / ARTUR IMAGES
MuCEM, Foto: Edmund Sumner / ARTUR IMAGES

Wie eine Makrone im Meer

Vor zwei Tagen wurde in Marseille das „Mucem“ eröffnet. Rudy Ricciottis Völkerkundemuseum zollt nicht nur der Historie Tribut, sondern auch der Gegenwart.

8. Juni 2013 - Wojciech Czaja
„Ein bisschen sieht das Gebäude aus comme un macaron de sardine, wie eine zarte Sardinenmakrone, nicht wahr? Bisschen dunkel, bisschen salzig, und wenn man reinbeißt, dann knackt es auf der Zunge!“ Rudy Ricciotti steht im Foyer, seine Augen fressen das Publikum auf, seine Hände gestikulieren wild, als sei er ein Pantomimekünstler, der wieder zur Sprache zurückgefunden hat.

„Und dann diese Farben! Sehen Sie nur, wie die Makrone schimmert, mit ihrer erotischen Knackigkeit, von Rot bis Blau und Schwarz! Doch dann, als wäre nur noch ein salziger Nachgeschmack da, ist sie plötzlich ganz durchsichtig und verschwindet wieder vor dem obskuren Horizont zwischen blauem Himmel und blauem, blauem Mittelmeer.“

Eine befreundete Architektin Ricciottis kann sich das Lächeln nicht verkneifen. Doch, doch, er sei ein großartiger Architekt. Und die Makrone, alles ganz wunderbar. „Aber er redet zu viel. Man sollte ihm einen Maulkorb verpassen.“ Bei aller Technik und Raffinesse, die das Gebäude zu bieten hat: Am besten erschließt sich einem das neue Mucem, das vorgestern, Donnerstag, in Marseille feierlich eröffnet wurde, schweigsam - ohne Rudy Ricciotti, ohne Worte, ohne Kommentar.

Anlässlich des Marseiller Kulturhauptstadtjahrs 2013, das über der Hauptstadt der Provence heuer mit einem umfassenden Kultur- und Stadtrevitalisierungsprogramm herniederprasselt, beschloss man, direkt neben dem Fort Saint-Jean, einer historischen Befestigungsanlage aus der Zeit des Sonnenkönigs Louis XIV, ein neues Völkerkundemuseum zu errichten. Das Musée des Civilisations de l'Europe et de la Méditerranée - kurz Mucem - versteht sich als Schwesterninstitution des 2006 eröffneten Pariser Musée du Quai Branly (Architekt: Jean Nouvel) und konzentriert sich auf die Kulturanthropologie der Mittelmeerregion.

Die Geschichte dieses Projekts reicht fast so weit zurück wie die im Museum ausgestellten Exponate. 2002 bereits wurde ein städtebaulicher Wettbewerb ausgeschrieben, der hier, im Blickfeld des militärischen Forts und der alles überstrahlenden Cathédrale de la Major, eine völlige Neuorganisation des Ufers vorgesehen hat: Die Straße wurde teilweise unter die Erde gebannt, die alten Docks wurden umfunktioniert und zu neuem Leben erweckt, und ein paar Schritte weiter schließt ein neues Kulturviertel mit revitalisierten Lagerhäusern an. Das von Rudy Ricciotti geplante Mucem auf der Joliette 4 ist die Krönung dieser neuen Hafenpromenade.

„Sardinenmakrone“ aus Beton

Von weitem sieht es aus wie ein eckiger, kantiger Schwamm. Die schwarze Fassade wirkt porös, wie vom aggressiven, regelmäßig durch Marseille wütenden Mistral zerfressen. Erst beim Nähertreten beginnt sich hinter der fein ziselierten Betonstruktur das eigentliche Gebäude, eine Glasbox mit drei Ebenen, abzuzeichnen.

Jetzt versteht man, warum Ricciotti von einer „Sardinenmakrone am Mittelmeer“ spricht. Während das Haus von weitem dunkel und abweisend erscheint, wird es mit jedem Schritt wohlschmeckender, mit jedem Schritt besser. Fast wie eine Schmuckschatulle steht es da und kokettiert mit den neugierigen Blicken der Besucher. Technisch betrachtet handelt es sich bei der schwarzen Hülle um eine Matrix aus hochfestem Beton, sogenanntem Ultra-High Performance Concrete (UHPC).

Im Gegensatz zu herkömmlichem Stahlbeton besteht UHPC nicht aus Sand, sondern aus Mikrosilikaten und Quarzmehl und ist mit Millionen von feinen Stahlspänen bewehrt. Damit ist UHPC rund zehnmal belastbarer. Zur Veranschaulichung in Zahlen: Die Tragfähigkeit beträgt drei Tonnen pro Quadratzentimeter. Vorteil an der Sache: Das Material kann entsprechend schlanker dimensioniert werden. Beim Mucem ist die Fassade gerade einmal zehn Zentimeter dick.

„Die Fassade ist nicht nur wunderschön, sondern hat auch einen wunderbaren Zweck“, sagt Tilman Reichert, Mitarbeiter im Büro Ricciottis und Projektleiter des Mucem. Den Charme hat er von seinem Chef. „Die Fassade dient als Verschattung für die dahinterliegenden Ausstellungsräume.“ Unterm Strich beträgt die Verschattung, wie vom Bauphysiker gefordert, rund 50 Prozent. Das wiederum schützt die von Adeline Rispal in Szene gesetzten Exponate auf den Podesten und in den Vitrinen.

„Kommen Sie! Fassaden schauen können Sie später auch noch!“ Herr Reichert drängt mit heimatländlicher Pünktlichkeit ins Innere des Museums. „Und ich kann Ihnen versichern: Beton gibt's hier noch viel zu bewundern.“ Das Versprechen wird sofort eingelöst. Kaum hat man das Foyer betreten, steht man in einem geometrischen Wald aus sich hochwindenden und hochrankenden amorphen Baumstützen. „Nicht schlecht, was?“ Der Journalist blickt fragend um sich, streichelt die babypopoglatten Säulen. Etwa schon wieder UHPC? Herr Reichert grinst.

„Aber auch hier ist die Lösung nicht nur wunderbar, sondern auch zweckdienlich“, erklärt der Projektleiter. Durch das hochfeste Material habe man Gewicht einsparen können, was sich vor allem auf die Konstruktion ausgewirkt hat. In manchen Teilen des Hauses ist sie so schlank, dass es scheint: Ein kleiner Mistralhauch nur, und das Ding wäre dahin. „Das ist das erste Gebäude der Welt, das komplett aus UHPC errichtet wurde“, sagt Reichert stolz. Der mentale Eintrag ins Buch der Rekorde hat seinen Preis: 55 Millionen Euro.

Museum mit Wind und Klima

Weiter geht es in die beiden Ausstellungsgeschoße. Als Besucher hat man die Wahl. Entweder klassisch über Stiegenhaus und Lift. Oder aber man geht hinaus an die frische Luft und erklimmt die oberen Stockwerke mittels einer der beiden Rampen, die sich wie eine Doppelhelix ums Haus winden und dramatisch zwischen Glasbox und Schwammfassade eingespannt sind.

Die Konstruktion ist ein dreidimensionaler Wahnsinn aus Edelstahl und Glas. Es kommt nicht oft vor, dass junge Mütter ihren Kleinkindern eine Lektion in Sachen Architektur erteilen. Doch hier tun sie's. Deuten mit dem Zeigefinger auf einen der vielen Detailknoten und dann: „Schau mal! Siehst du diese Schraube da?“

Die Sonnenstrahlen (in Marseille sind sie bereits angekommen) sickern durch die schwarze Gitterfassade und sorgen für tausende Lichtspiegelungen im Glas. Man weiß nicht mehr, wo Norden und wo Süden ist. Und dann der Wind, der durch die Löcher pfeift. Alles gewollt. „Das war von Anfang an mein Plan“, sagt Rudy Ricciotti. „Wenn man schon am Mittelmeer ist, in diesem feuchten, windigen Territorium, der einem manchmal die Luft zum Atmen raubt, dann muss man das auch spüren. Schließlich ist das Klima Teil der mediterranen Identität und somit auch Teil dieses Museums.“

Oben auf dem Dach gibt es ein Restaurant. Der Ausblick auf das Fort Saint-Jean und das gegenüberliegende Fort Saint-Nicolas, die wie ein steinernes Tor den alten Marseiller Hafen fassen, entlohnt für Wind und Hitze. Wie von Geisterhand gehalten verläuft von hier aus eine schlanke, fast schwerelos wirkende Passerelle zum alten Fort. 130 Meter lang ist der Weg von A nach B, und das alles ohne Pfeiler und ohne Stütze. Auf der - dank UHPC - nur unglaubliche acht Zentimeter dicken Fußgängerbrücke zieht man wieder von dannen und sagt leise Adieu.

„Ich gebe zu, wir sind mit diesem Projekt haarscharf an der Grenze der technischen Machbarkeit vorbeigeschrammt“, sagt der Architekt, der zu viel spricht. „Aber in gewisser Weise ist ja auch Architektur Teil der Kulturanthropologie, nicht wahr? Und schauen Sie sich nur einmal die schlanke, schwarze Brücke an, die wie eine süße Vanilleschote auf der salzigen Makrone balanciert. Eines Tages werden die Anthropologen auf dieses Gebäude schauen und werden sich denken: Unglaublich, diese Konstruktion! Ein echter Ricciotti!“

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