Bauwerk

Neue Nationalgalerie
Ludwig Mies van der Rohe - Berlin (D) - 1968
Neue Nationalgalerie, Foto: Barbara Staubach / ARTUR IMAGES
Neue Nationalgalerie, Foto: Jürgen Henkelmann / ARTUR IMAGES

Die Neue Nationalgalerie ist ein Sanierungsfall

Nach 40 Jahren Bespielung ist die schleichende Verwahrlosung der Neuen Nationalgalerie unübersehbar. Das Meisterwerk der Moderne erhält längst nicht die Zuwendung, die ihm zusteht, statt dessen werden Dauerprovisorien zur schlechten Gewohnheit.

2. November 2006 - Paul Kahlfeldt, Andres Lepik
Die Neue Nationalgalerie von Mies van der Rohe ist der bedeutendste Bau des 20. Jahrhunderts in Deutschland. Die verglaste Halle sei zur Präsentation von Kunstwerken ungeeignet, war allenthalben zu hören, als das Haus eröffnet wurde. Doch die Ausstellungen und Inszenierungen der letzten Jahre belegen, dass dieser universelle Raum zeitübergreifend nutzbar ist. Für Künstler, Architekten und Kuratoren stellt er mit seinen monumentalen Dimensionen und seiner einzigartigen Offenheit eine extreme, aber auch faszinierende Herausforderung dar. Die Neue Nationalgalerie ist ein Raum der Renaissance und der Aufklärung wie kein anderer, der im 20. Jahrhundert diesem Geist nachempfunden wurde. Die Symbiose zwischen der ungerichteten Tragstruktur und der subtilen Transformation des Grundrissprinzips von Schinkels Altem Museum erzeugt räumliche Spannung. Selbst die Lüftungsschächte werden in einem solchen Universalraum zu notwendigen Gliederungselemen­ten innerhalb der Enfilade von Eingang, seitlichen Treppen, Garderoben und dem quer gerichteten Ausstellungsbereich.

Verwahrlost, beschädigt, entstellt: Die Liste der Mängel ist lang, Provisorien werden zur Gewohnheit

Aber immer wenn es darum ging, diese Halle, in der nach dem Wunsch von Mies alles möglich sein sollte, zu bespielen, tat sich die Direktion des Hauses schwer. Wir erinnern uns an die ans Absurde grenzenden Versuche, den Raum mit Stellwänden und Wandteilern herunterzudimensionieren, um ihn vorgeblichen Notwendigkeiten von „Kunstpräsentation“ anzupassen, anstatt die heroische Dimension und den Anspruch dieser Architektur als Herausforderung für die Kunst und ihre Inszenierung zu begreifen.

Die Neue Nationalgalerie erhält längst nicht die Aufmerksamkeit und Pflege, die ihr zusteht. Ob Außenanlagen und Umfeld, Garten, Inneneinrichtung, Beschilderung, Mobiliar: nach 40 Jahren Dauerbespielung mit mehreren Millionen Besuchern ist die schleichende Verwahrlosung des Gebäudes unüberseh­bar. Die Liste der Mängel ist lang, am schlimmsten ist der Zustand der Verglasung in der oberen Halle. Bedingt durch Zwängungen und Materialermüdung sind mittlerweile mehr als die Hälfte der über 600 kg schweren Originalscheiben gesprungen. Die Befestigung ist zur Aufnahme der auftretenden Spannungen nicht mehr geeignet. Weil so große Scheiben nicht mehr hergestellt werden, erfolgt der Ersatz durch mittig gestoßene Gläser, deren Fuge mit Silikon geschlossen wird. Die Glasindustrie produziert auf ihren Anlagen Floatglas von fast beliebiger Länge, jedoch nur bis zu einer Höhe von 325 Zentimetern. Die benötigten 345 Zentimeter lassen sich angeblich nur noch in einem in Japan zwar noch existierenden, aber stillgelegten Becken herstellen. Der wesentliche Gedanke von Mies, die Idee des monumental gerahmten Ausblicks an einer diaphanen Raumgrenze, wird gestört. Während sich modernistische Architektur mit bunten, geätzten und bedruckten Gläsern einer sich innovativ verstehenden Industrie zufriedengibt, geht ein Jahrhundertbau der Moderne langsam zugrunde. Da eine Sanierung der Neuen Nationalgalerie bis auf weiteres nicht vorgesehen ist, behilft man sich mit inakzeptablen Provisorien, die zur schlechten Gewohnheit werden. Die Teilung der Gläser erzwang wegen ihrer fehlenden Gesamtstabilität eine größere Dicke der Glasscheiben und somit den Austausch der ursprünglichen Halteleisten. Sie wurden breiter und plumper. Die elegante graue Farbigkeit der originalen Gläser wurde durch einen grünlichen Ton ersetzt. Die Kosten einer angemessenen Wiederherstellung dieser Glasfassade sind gegenwärtig noch vergleichsweise gering, daher wäre eine Abwägung mehr als wünschenswert. Wenn man auf der Museumsinsel die kleinsten Reste erhaltener Substanz mit maximalem finanziellen und planerischen Aufwand restauriert, wäre es sicher angemessen, zur gleichen Zeit das wichtigste Monument der Moderne mit ähnlicher Sorgfalt und Zuwendung zu behandeln.

Die Schäden auf der äußeren Terrasse und den Stufen, die die Skateboardfahrer anrichten, sind schon jetzt irreparabel, denn den schlesischen Steinbruch, aus dem der Granit ursprünglich stammte, gibt es nicht mehr. Die auf der Terrasse aufgestellten Skulpturen, die von den Jugendlichen bei der Ausübung ihres „Sports“ immer wieder beschädigt wurden, hat man abgeräumt und eingelagert. Inzwischen vergeht auch fast keine Woche mehr, ohne dass Eventveranstalter und Partyagentur­en mit Zeltpilzen und Plastikmöbeln anrücken und die Mies’sche Architektur als Hintergrund für ihre fragwürdigen Spektakel missbrauchen.

Vom erhabenen Raum zur Eventhalle

Originale Substanz und Mies’sche Ästhetik gehen verloren. Die Farbgebung der Stahlträger und -rahmen entspricht nicht mehr der ursprünglichen Fassung, der von Mies verdeckt angeordnete Taubenschutz in den Dachkassetten ist durch handelsübliche Netze ersetzt, deren Befestigungen das Ordnungssystem des Daches empfindlich stören. Die nur für eine befristete Ausstellungszeit konzipierte Installation von Jenny Holzer hängt nun schon seit Jahren an der Decke, weil man zwar das Geld für den Ankauf aufbringen konnte, nicht aber für die regelmäßige Demontage, Einlagerung und Wiederinstallation. In ihrer betonten Ost-West-Ausrichtung verändert diese Installation selbst im ausgeschalteten Zustand massiv die Raumsymphonie und die sublime Ästhetik der allseits ungerichtet verlaufenden Deckenkonstruktion. Die Kritik von Julius Posener anlässlich der Eröffnung des Hauses, es wirke wie eine „Krambude“, scheint sich angesichts dieser zunehmenden Sedimentierung von Ausstellungsresten unheilvoll zu bestätigen. Doch damit nicht genug. Die von Mies wunderbar austarierte Beziehung zwischen Baukunst und bilden­der Kunst, weit entfernt vom Unsinn einer „Kunst am Bau“, ließ die Aufstellung von Skulpturen nur an präzise festgelegten Orten auf der Terrasse und im Garten zu. Die jüngste Aufstellung einer Ausstellungskopie von Barnett Newmans „Broken Obelisk“ genau vor der Hauptansicht des Hauses ist mehr als fragwürdig. Die Verwilderung und die Unzugänglichkeit des Gartens im Basisgeschoss wird mit Gleichgültigkeit akzeptiert.

Im Innern sieht es nicht besser aus. Bereits vor Jahren opferte man den originalen Kassentisch einem dem heutigen Museumsbetrieb geschuldeten Buchladentresen. Von dem Mies-Möbel blieben nur das Detailblatt im MoMA-Archiv und ein einziges Foto. Zerstört ist das Raumerlebnis der frei stehenden Treppen, schreitet man hinab, riecht es nach Mikrowellenfood aus der aufgerüsteten Cafeteria. Das Raumkontinuum im unteren Geschoss war nur für wenige Tage nach dem Austausch des Teppichbodens erfahrbar. Dem Mobiliar der Erbauungszeit, den Wandpaneelen und den furnierten Bürotischen ergeht es wenig besser. In den Toiletten wurden die Armaturen durch Billigware aus dem Baumarkt ersetzt. Wie tief der Verlust einer Sensibilität für die Gestaltungskraft von Mies reicht, zeigt sich auch am typografischen Erscheinungsbild des Hauses, an Hinweisschildern und Beschriftungen. Die eigens von Mies für die Neue Nationalgalerie entwickelte Typografie wird durch Klebebuchstaben und WC-Standardschilder ersetzt.

Der ehemalige Graphikraum muss als zusätzliches Depot herhalten und wird immer wieder als Museumsshop zweckentfremdet. Dabei wäre die von Mies geplante Hülle ohne architektonische Beeinträchtigung auch für weitere Nutzungen durchaus belastbar. Mit weiser Voraussicht hatte er Raumreserven unter der Eingangsterrasse für eine vernünftige bauli­che Erweiterung vorgehalten, die heute nur freigelegt werden müssten. Es gäbe also genug Platz für Depoträume, Vortragsräume, Shops und was auch immer.

Kunstausstellungs-Blockbuster wie „MoMA in Berlin“ haben die Architektur des Hauses in der öffentlichen Wahrnehmung auf einen hinteren Platz verwiesen und degradieren ein Meisterwerk der Architektur des 20. Jahrhunderts zur Eventhalle. Bedürfte es nicht erneut einer Initiative wie jener von Ulrich Conrads, als er anlässlich des 75. Geburtstages von Mies in der Bauwelt den Entwurf eines Gebäudes des Architekten für Berlin einforderte? Heute ginge es allerdings darum, das damals initiierte Gebäude zu schützen und vor der Verwahrlosung zu retten.

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