Bauwerk

Simmons Hall
Steven Holl - Cambridge (USA) - 2002

Monumentale Wohnmaschine

Ein Hauptwerk der neuen US-Architektur in Cambridge

Die amerikanische Campus-Landschaft ist eines der letzten Refugien innovativer Architektur in den USA. Der New Yorker Steven Holl, ein Hauptvertreter der mittleren Architektengeneration, hat nun auf dem Gelände des MIT in Cambridge bei Boston ein monumentales Studentenwohnhaus errichtet, das neue Massstäbe setzt.

4. Juli 2003 - Roman Hollenstein
Die Zeiten sind schwierig, auch in den USA, wo selbst schwache Aufwärtsbewegungen der Börsenindizes in breiten Bevölkerungsschichten mit Erleichterung zur Kenntnis genommen werden. Dessen ungeachtet erlebt das Land - ganz offensichtlich kaum gebremst durch die Katastrophe des 11. Septembers - einen Bauboom. Rund um den farblich und formal etwas hysterisch geratenen Hotelturm von Arquitectonica beim Times Square und um die gläsernen «Twin Towers» von SOM am Columbus Circle schiessen in New York derzeit Wolkenkratzer, zu denen sich bald das Times-Hochhaus von Renzo Piano gesellen dürfte, wie Pilze aus dem Boden. Spannender als diese Spekulationsbauten sind aber neue architektonische Statements, wie sie sich in Manhattan bisher erst in einigen trendigen, die neusten Strömungen reflektierenden Lokalen manifestieren: etwa dem jüngst realisierten Flagship Store von Asymptote im ebenso fashionablen wie übel riechenden Meat Packing District.


Halb Schwamm, halb Bienenwabe

Auch wenn nun voraussichtlich Diller & Scofidio, die nicht mehr ganz jungen Shootingstars der amerikanischen Architekturszene, welche sich als Expo-Wolkenbauer von Yverdon einen Namen machten, mit dem Eyebeam-Projekt das wohl seit langem bedeutendste Gebäude von New York verwirklichen können, muss man interessante Bauten weiterhin in der Provinz suchen: Vor wenigen Wochen konnte auf dem Campus des Bard College Frank Gehrys Fisher Center for the Performing Arts und Anfang Juni Zaha Hadids Contemporary Arts Center in Cincinnati (NZZ 2. 6. 03) eingeweiht werden. In der «Hexenstadt» Salem wurde dann Mitte Monat Moshe Safdies Erweiterung des über grandiose Ostasiatica- und Americana-Sammlungen verfügenden Peabody Essex Museum eröffnet; und zwanzig Kilometer südlich von Salem, an Bostons Outer Harbor, soll demnächst ein ins Hafenbecken auskragendes Museum für zeitgenössische Kunst - wiederum von Diller & Scofidio - entstehen. Bereits im letzten Herbst konnte auf dem Campus des Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge bei Boston nach vier Jahren Planungs- und Bauzeit die monumentale Wohnmaschine der Simmons Hall von Steven Holl bezogen werden.

Geht man auf der den Charles River querenden Harvard Bridge von Bostons viktorianisch noblem Back-Bay-Viertel hinüber zum nüchtern- industriell anmutenden MIT-Campus, so nimmt man hinter Alvar Aaltos langgezogenem Baker House drei wabenartige Türme wahr, die mit ihren vielen Öffnungen geradezu gigantisch wirken. Der Eindruck wird nicht lieblicher, wenn man sich auf der schier endlos langen Vessar Street diesem architektonischen Konglomerat weiter nähert, das sich allmählich als eine zusammenhängende Megastruktur entpuppt: Die Grösse dieser futuristisch anmutenden vertikalen Stadt lässt sich nur schwer schätzen, täuscht doch der aus über 5000 Öffnungen bestehende Fensterraster des porösen, an einen industriell gefertigten Schwamm erinnernden Baukörpers zunächst ein dreissigstöckiges Haus vor. In Wahrheit aber sind es nur zehn Geschosse, denn jeweils drei übereinander liegende Fensterreihen bilden zusammen ein Stockwerk. Grosse Ausstanzungen in der Gebäudescheibe verleihen dem Bau etwas Enigmatisches. Sie lassen von weitem nicht nur den Eindruck von drei gestaffelten Türmen entstehen, sondern erinnern auch an das unbequeme, aber ganz dem amerikanischen Architekturdiskurs der letzten Jahre verpflichtete Wettbewerbsprojekt für Ground Zero von Holl, Richard Meier und Peter Eisenman. Dessen völlig abstrakte doppelte H-Form wurde entschieden von Steven Holl, dem 1947 geborenen Vordenker der mittleren New Yorker Architektengeneration, geprägt.


Hybride Architektur

Mit seiner «Pamphlet Architecture» hatte sich Holl schon vor 25 Jahren als Streiter für eine neue architektonische Kultur, die sich gegen ein immer kommerzieller werdendes Bauen richtete, exponiert. Überzeugten seine bisher bekanntesten Bauten, das Kiasma-Museum in Helsinki und die Ignatius-Kapelle in Seattle, als komplexe skulpturale Inszenierungen von Licht und Raum, so scheint die Simmons Hall mit ihrer aus grauen aluminiumverkleideten Betonelementen bestehenden Fassade auf den ersten Blick einem streng minimalistischen Neuklassizismus verpflichtet zu sein. Doch die Rigorosität der tragenden Gebäudehülle wird gemildert durch amöbenartige Durchbrüche, die innenräumliche Verwandlungen nach aussen dringen lassen, und durch farbige Fensterlaibungen. Diese schillern - je nach den Kräften, welche die tragenden Betonelemente aushalten müssen - von Rot bis Blau und vereinen auf diese Weise naturwissenschaftliche Anschaulichkeit mit künstlerischer Kreativität. Neben dieser fast schon didaktischen Visualisierung eines ingenieurtechnischen Aspektes finden sich auch architektonische Bezüge - etwa zum vor 20 Jahren vollendeten, von einer quadratischen Öffnung durchbrochenen Apartmenthaus «Atlantis» von Arquitectonica in Miami und mehr noch zu Holls eigener Nexus-World-Wohnsiedlung in Fukuoka, die bereits 1991 mit aluminiumverkleideten Fassaden und Auskerbungen überraschte.

Die «hybride» Architektur der Simmons Hall, in der sich japanische Kargheit, Minimalismus und Expressivität, Blockhaftigkeit und organische Form, revolutionäre Rhetorik und baukünstlerische Freiheit zu einem faszinierenden Amalgam vereinen, bietet einen bemerkenswerten Kontrast zur lyrisch geschwungenen Fassade des 1948 für eine ähnlich grosse Studentenzahl konzipierten Baker House von Alvar Aalto. Dennoch scheint sich Holl in Cambridge ausser mit Le Corbusiers Idee der Wohnmaschine auch mit Aaltos Humanität auseinandergesetzt zu haben, findet man hier doch beide Einflüsse eng verflochten.


Dreidimensionales Labyrinth

Betritt man das Gebäude an seiner Südostecke, so erweist sich die fast schon bedrohliche Megastruktur im Innern geradezu als sanft. Die kleine Lobby wandelt sich sogleich in eine zweigeschossige Architekturlandschaft: Hinter einer schräg gewellten, fleckig mit Zement verputzten Wand verbirgt sich ein Mehrzwecksaal mit 125 Plätzen, während geradeaus eine gut zwei Meter breite interne Strasse durch das 100 Meter lange Gebäude führt - vorbei an Aufenthaltsbereichen und einem Restaurant. Eine Treppe schlängelt sich vom Eingang aus hinauf in den ersten Stock, wo der sich über neun Etagen ausbreitende Wohnbereich der Studenten beginnt. Die 155 Einzel- und 95 Doppelzimmer, die jeweils über eigene Toiletten und Bäder verfügen, muten wegen der aus einem «Gitter» von drei mal drei beziehungsweise drei mal sechs Öffnungen bestehenden Fensterfronten wie Zellen an. Der spartanische Eindruck dieser Räume, in denen nur gearbeitet und geschlafen werden soll, wird noch unterstützt durch graue Betonwände, helle Sperrholzmöbel und Kajütenbetten. Umso grosszügiger wirkt dagegen der gemeinschaftliche Bereich: Überbreite Flure weiten sich immer wieder zu mehrgeschossigen, höhlenartigen Gemeinschaftsbereichen, die sich durch unregelmässige Fensteröffnungen auf der Fassade abzeichnen. Das labyrinthartige Ineinanderfliessen orthogonaler Geschossebenen und organischer Zwischenräume, welches durch die äusseren Einkerbungen noch verstärkt wird, soll die aus wissenschaftlicher und sozialer Sicht erwünschten zwanglosen Begegnungen unter den Studenten fördern.

Fand Holl in den letzten Jahren von anfänglich noch stark neokubistisch inspirierten zu weicher fliessenden Raumsequenzen, so zeugen die heiter beschwingten, an die Ohrmuscheln eines Riesenwesens erinnernden Gemeinschaftsbereiche der Simmons Hall von einem wachsenden Interesse an computergenerierten Formen, wie sie von Greg Lynn oder Hani Rashid, zwei Hauptexponenten der zurzeit modischen Blob-Architektur, propagiert werden. Holl spielt hier aber auch - ähnlich wie Gehry, der seinem Berliner Bankenkubus am Pariser Platz ein geheimnisvoll verformtes Interieur einverleibte - äusserst geschickt mit dem Gegensatz von Innen- und Aussenwelt.

Gleichwohl ist die Grossform der Simmons Hall weit entfernt von Bauten wie Gehrys Stata- Center, das zurzeit am zentralen Kendall Square entsteht. Während Gehrys wirbelnde Baukörper aus Klinker, Zinkblech und zurzeit noch sichtbaren Verschlingungen aus rostigen Stahlträgern den Eindruck eines leicht frivolen Déjà-vu vermitteln, hat Holl ein architektonisches Bild geschaffen, das ganz neu und unverbraucht wirkt. Es bleibt deshalb zu hoffen, dass die Finanznöte, die mittlerweile auch das renommierte MIT quälen, nicht zur Sistierung von Holls Projekt für weitere Studentenhäuser an der Vessar Street führen werden - wie dies unlängst schon mit dem Entwurf des japanischen Altmeisters Fumihiko Maki für eine Erweiterung des Media-Lab-Gebäudes geschehen ist. Denn nicht nur der Ruf nach mehr Wohnmöglichkeiten auf dem MIT-Campus, wo gerade einmal 40 Prozent der Studierenden logieren können, wird immer lauter: Die Eliteschule könnte durchaus auch etwas mehr Alltagsleben vertragen.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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