Bauwerk

EXPO.02 - Schweizerische Landesausstellung
Diller Scofidio + Renfro, Extasia, Morphing Systems, Multipack, Coop Himmelb(l)au, Jean Nouvel, GLS Architekten AG - diverse Standorte (CH) - 2002
EXPO.02 - Schweizerische Landesausstellung, Foto: Walter Zschokke
EXPO.02 - Schweizerische Landesausstellung, Foto: Walter Zschokke
EXPO.02 - Schweizerische Landesausstellung, Foto: Walter Zschokke
EXPO.02 - Schweizerische Landesausstellung, Foto: Walter Zschokke

www.schweiz.ausstellen.ch

In jeder Generation leistet sich die Schweiz eine gesellschaftlich-kulturelle Standortbestimmung. Heuer mit der „Expo 02“ im nordwestschweizerischen Dreiseengebiet: überraschend vielfältig und angenehm unverklemmt. Eine Empfehlung.

6. Juli 2002 - Walter Zschokke
Was weiß man in der Schweiz über Österreich - und umgekehrt? Medial vermittelte Bilder eines Landes stimmen nur wenig mit dem persönlichen Augenschein überein. Sie werden in einer Art kollektiven Zwangs zu Ausnahmeereignissen wie zu Klischees permanent erzeugt und verdecken die viel breitere, differenziertere und weniger sensationelle Realität. Alternativ dazu bietet in diesem Jahr die Expo 02 eine Möglichkeit, eine selbstreflexive Schweiz zu entdecken, die in ihrer Vielfalt überrascht; die manchmal feinsinnig, manch- mal tapsig, zuweilen tiefgrün-dig, aber oft angenehm unverklemmt, eine gesellschaftlich-kulturelle Standortbestimmung vornimmt und den Augen, Ohren, Nasen, Händen und Füßen der Besucher zur Wahrnehmung anbietet.

Die regional verteilte Ausstellungslandschaft erstreckt sich in einer Zone der westeuropäischen Sprachgrenze, in Französisch und Deutsch sprechenden Städten, deren Ortstafeln zweisprachig sind. Nicht weniger als vier Standorte an den Ufern der drei mit Kanälen verbundenen, von der Aare gespeisten Mittellandgewässer Bieler-, Murten- und Neuenburgersee umfaßt diese vielseitige Schau, die nicht zu Ende geschaut werden kann und die ein bis drei Tage Zeit erfordert. In den Städten Biel-Bienne, Murten-Morat, Yverdon-les-Bains und Neuchâtel-Neuenburg sind als Blickpunkte künstliche Plattformen im See errichtet worden, die signifikante Gebäude oder gebäudeähnlich Gebilde tragen, deren Wesen und Formen über internationale Architektenwettbewerbe gefunden wurden. Sie heißen Arteplage.

Jede dieser Arteplages ist einem Oberthema gewidmet, das in einem halben bis knappen Dutzend Pavillons inhaltlich sowie ausstellungsdidaktisch unterschiedlich behandelt wird. Für Abwechslung ist damit ebenso gesorgt wie mit zahlreichen großen und kleinen Darbietungen und Veranstaltungen sowie mit Essen, Trinken. Von Arteplage zu Arteplage fahren große „Iris“-Schnellboote; etwas kürzer dauert es mit der Eisenbahn; gemütlicher, aber aus eigener Kraft geht es auf gemieteten Rädern oder gar Skates.

In Biel-Bienne lautet das Thema „Macht und Freiheit“. Das Wiener Architektenteam Coop Himmelb(l)au entwarf ein langes, schlank und schräg aufgestelztes Dach, das zwei Haken schlägt und dann noch einige Dutzend Meter in den See hinausspaziert. Über eine breite Rampe gelangt man vom Ufer auf die vom Dach beschattete Besucherplattform, wo sich vier Pavillons aufreihen. Zum See hin bildet das Dach einen offenen Winkel, aus dem drei Türme 40 Meter hoch aufragen. Sie werden von einer spiralig ansteigenden Rampe umkreist, die sich in einer Brücke fortsetzt, hoch über das Hafenbecken schwingt und auf festem Grund wieder den eingangs durchschrittenen Expopark erreicht, mit fünf Pavillons, zwei Veranstaltungsstätten und einem Vergnügungspark.

Die Bauten an diesem Rundweg sind für einen Sommer aufgebaut. Am Tag wirken die mit Textilbespannung in mittelgrauer Farbe versehenen Türme und das Dach durch ihre Volumen und den Schattenwurf. Abends und nachts dienen sie als Projektionsflächen für das Lichtspektakel und erstrahlen in wechselnden Farben. Unter den Pavillons sticht der mit Blattgold belegte Quader zum Unterthema „Geld und Wert - das letzte Tabu“ heraus. Bis zur Greifhöhe ist die Vergoldung bereits abgewetzt, Wartende haben unzählige Wörter und Namen hineingeritzt und -geschabt. Das Innere zeigt die in Partnerschaft mit der Schweizerischen Nationalbank entstandene umfangreiche Ausstellung, in der weder das Goldene Kalb fehlt noch die vielen Zahlungsmittel aus nahen und fernen Zeiten und Ländern.

Irritierend und faszinierend zugleich dann der Geldvernichtungsroboter, der mit spitzem Greifzeug eine ab dem Stapel vorbereitete neue 200-FrankenNote packt, genüßlich hochhebt, dem Publikum vor den Nasen herumschwenkt und es „gluschtig“ macht. Dann steckt der Roboterarm den Geldschein in einen Aktenvernichter, aus dem nur mehr Papierstreifen quellen, die sich zu Haufen kringeln. Natürlich geschieht das alles hinter festen Glaswänden. In der Ausstellung fehlen auch nicht Ansätze jener Gesellschaftsutopisten, die dem Tauschmittel „Geld“ die Schuld für alle Übel dieser Welt anlasteten, in der Verkennung menschlichen Realverhaltens aber scheiterten.

Neben derart dichten, klassischen Ausstellungen gibt es stimmungs- und anspruchsvolle Inszenierungen, wie den Pavillon „SWISH*“, in dem es um die Wünsche von Schweizerinnen und Schweizern, jungen und alten, weiblichen und männlichen und so weiter geht, der als geschlossener Wandelgarten aus unzähligen Brettern und Leisten über dem darunter befindlichen Seespiegel gestaltet ist. Oder man sucht sich durch den Irrgarten glatter Stämme des Pavillons „Grenzen (er)leben“ einen Weg ins obere Geschoß, wo eine Multimediashow das Thema künstlerisch umsetzt. Nicht wenige Pavillons weisen Erlebnischarakter auf mit viel Bewegung und Spaß, einige sind thematisch tiefer schürfend, andere locker und rasch konsumierbar.

Dazwischen finden sich Erholungszonen, wo man sich länger hinsetzen kann, etwa im Klangraum des einen Turms oder entlang der Besucherhauptströme in Gartencafés, wo man einer Lieblingsbeschäftigung der menschlichen Spezies frönen kann: anderen Menschen zuzuschauen.

In Murten-Morat, der mittelalterlichen Stadt hinter Mauern und Türmen, einer Zähringer Gründung wie die Stadt Bern, behandelt die Ausstellung das Oberthema „Augenblick und Ewigkeit“. Kein Geringerer als der für seine Inszenierungskunst bekannte französische Architekt Jean Nouvel hat hier die Regie übernommen und auch auf Details eingewirkt. Einerseits verlegte er Teile der Ausstellung in und an den mittelalterlichen Stadtkern, die alten Mauern mit teils angerosteten, Vergänglichkeit bedeutenden Schiffscon-tainern oder mit Baugerüst-konstruktionen konstrastierend. Andererseits ließ er entlang der Uferpromenade „Nicht-Gebäude“ wie Kieshaufen, Rundholzstapel und Hüllen aus Stahlplatten - rostenden natürlich - errichten, in denen verschiedene Inhalte wirksam aufbereitet wurden. Nicht zuletzt sind in Murten die Unterthemen „Landwirtschaft“ und „Sicherheitspolitik“ umfangreich dargestellt.

Höhepunkt und Signet dieser Arteplage ist der Kubus draußen im See, dessen Dimensionen (eines zwölfstöckigen Hauses) nicht zu fassen sind. Auf mit Sonnenenergie getriebenen Barken gleiten die Besucher hinaus zur schwimmenden Insel, legen am ebenfalls mit Stahlplatten beplankten Würfel an und gelangen in eine Wunderwelt dreier übereinander gestapelter riesiger Panoramen, deren Ebenen - wie im Warenhaus - über Rolltreppen erreichbar sind. Das erste Deck belegt eine Arbeit junger Medienschaffender, die unzählige Bilder und Ansichten der Schweiz elektronisch in Bewegung gebracht und zudem pfiffig verfremdet haben. Darüber befindet sich ein scheinbar leeres Geschoß, das in Augenhöhe einen breiten Streifen Lochblech aufweist, durch den das tatsächliche Panorama von See und Stadt zu sehen ist, das aber beim Nähertreten hinter der Lochblechstruktur verschwindet, weil die Sehwerkzeuge auf das Dahinterliegende nicht mehr scharfstellen können. Zuoberst steigt man zur Plattform in der Mitte eines kolossalen Rundgemäldes hoch, eines klassischen Panoramas des 19. Jahrhunderts, das die 1476 geschlagene Schlacht bei Murten in zeittypischer und aus der zweifachen Distanz durchaus ironisch gebrochen wiedergibt. Die Eidgenossen erbeuteten damals die überaus reiche Fahrhabe Karls des Kühnen, die aus Gobelins, edlem Tafelgeschirr, prächtigen Waffen und vielem anderen mehr bestand und als „Burgunderbeute“ in die nationale Geschichtsschreibung einging.

Der Standort Neuchâtel-Neuenburg wartet mit dem Oberthema „Natur und Künstlichkeit“ auf, dem Blick in die Zukunft moderner Roboter- und Biotechnologie sowie jenem auf die Nutzung natürlicher wie künstlicher Energieformen oder die entfesselte Wirkung ersterer in einem Wirbelsturm. Yverdon-les Bains, mit dem frappierenden Signet einer echten künstlichen Wolke, erfunden von den New Yorker Architekten Elizabeth Diller und Rick Scofidio, befaßt sich mit dem Thema „Ich und das Universum“, wobei die individuellen Gefühle nicht zu kurz kommen.

Alles zu sehen, muß man sich Zeit nehmen, wohl auch ein, zwei Mal in der Gegend übernachten.

Man kann selbst Bern oder eine der nahen Städte als „Basislager“ wählen, denn man bewegt sich schnell und leicht mit der Bahn (Autobahnen sind oft verstopft). Die Bahngesellschaften bieten kostengünstige Arrangements, sodaß zwischendurch ein Ausflug in kühlere Bergeshöhen in der Regel inbegriffen ist. Der Urbanisierungsgrad des schweizerischen Mittellandes ist mittlerweile so weit angewachsen, daß die SBB zur Metro der Schweiz geworden sind - weshalb ein Vergleich zu den ÖBB aus Strukturgründen immer hinkt. Aber wie dem auch im Detail sein mag, so leicht wie in diesem Jahr wird man eine differenzierte Sicht auf das nachbarliche Inselland mitten in der EU nicht so bald wieder bekommen können.

Die Expo 02 ist geöffnet bis 20. Oktober 2002, die Ausstellungen täglich von 9.30 bis 20 Uhr, Schlendern und Feiern im Juli und August täglich bis 2 Uhr früh. Informationen über Internet unter: www.expo.02.ch.

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Für den Beitrag verantwortlich: Spectrum

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