Bauwerk

MISS SARGFABRIK
BKK-3 Architektur - Wien (A) - 2000
MISS SARGFABRIK, Foto: Hertha Hurnaus

Was sich daheim alles abspielt

Nicht nur das satte Orange der Fassade verbindet den Tochter- mit dem Mutterbau. „Miss Sargfabrik“ von BKK-3 hat sich inzwischen ebenso wie die „Missis“ als Synonym für gelungenen sozialen Wohnbau etabliert. Weiterer Nachwuchs dringend erwünscht!

8. September 2001 - Judith Eiblmayr
Leben im Industriedenkmal ist in Wien zur Zeit ein hochaktuelles Thema. Allerdings befürchtet die Betriebsgesellschaft eines solchen Projekts offensichtlich die mangelnde Identifikation ihrer Zielgruppe mit dem historischen Ort und kreiert ein zeitgemäßes Branding, um die Kundschaft nicht mit architektonischen Altlasten zu verschrecken. Und so wird zum Beispiel durch einen semantischen Kunstgriff aus den plumpen Gasometern eine schicke Vorstadt, denn: „G-town ist eine junge Stadt“.

An einer anderen Stelle in Wien, in Penzing, hatte man mit dem Verweis auf die ehemalige industrielle Nutzung des Orts offensichtlich weniger Probleme gehabt, wodurch sich die eher skurril anmutende Bezeichnung „Sargfabrik“ als Synonym für ein gelungenes soziales Wohnbauprojekt etablieren konnte.

Eine Gruppe unzufriedener Wohnungssuchender war Anfang der 1990er Jahre angetreten, um mit Hilfe der Architekten und Architektinnen des Baukünstlerkollektivs BKK-2 (Ch. Lammerhuber, A. Linemayr, F. Sumnitsch, F. Wallnöfer, J. Winter und E. Wurster) eine neue Art der Wohnform auf dem Wiener Wohnungsmarkt zu plazieren. Man gründete den „Verein für integrative Lebensgestaltung“ und wollte das leerstehende Fabriksgebäude im dicht verbauten Gebiet zu einem Wohnbau umfunktionieren. Die Bausubstanz war allerdings zu schlecht, und so wurde 1996 ein Neubau in sattem Orange fertiggestellt, der sich nicht nur durch diese Farbgebung exzentrisch zeigt, sondern der auch in seinem sozial ausgerichteten Raumprogramm links der Mitte anzusiedeln ist: In bester Tradition des Wiener kommunalen Wohnbaus der Zwischenkriegszeit wurden nebst Wohnungen gemeinschaftlich zu nutzende Zusatzeinrichtungen wie Kindergarten, Hallenbad, Veranstaltungssaal und Café errichtet, deren Betrieb gemeinsam und durch Vermietung finanziert wird. Gleichzeitig wollte man durch diese Infrastruktur ein neues kulturelles Zentrum schaffen und sich trotz unangepaßter Architektur im Grätzel integrieren. Die Intention: eine Belebung des Viertels, ging auf.

Um eine höhere Dichte zu erreichen, die Förderungsmittel für die Gemeinschaftseinrichtungen voll ausschöpfen und möglichst billig bauen zu können, wurde das Gebäude als Wohnheim deklariert, in dem die Wohnungen wie Heimplätze vergeben werden. Ein Kollektivprojekt, das 1996 wegen seiner außergewöhnlichen Architektur mit dem Bauherrnpreis der Zentralvereinigung der Architekten und mit dem Adolf-Loos-Preis ausgezeichnet wurde.
Der gute Ruf der „Sargfabrik“ und die hohe Wohnzufriedenheit bewirkten eine starke Nachfrage nach freien Wohnungen im Verband, sodaß schon bald über eine Erweiterung in unmittelbarer Nachbarschaft nachgedacht wurde. Dies auch aus der Erkenntnis heraus, daß die Gemeinschaftseinrichtungen durch mehr Nutzer und Nutzerinnen jeden einzelnen billiger kommen würden. So wurde an der nächsten Ecke ein Grundstück angekauft und von (mittlerweile) BKK-3, den Architekten Johann Winter und Franz Sumnitsch, ein Ableger geplant, der sich gebauterweise zu einem stattlichen Fräulein auswuchs: „Miss Sargfabrik“ - weil in der Missindorfstraße gelegen - wurde in ihrer Konzeption insofern modifiziert, als sämtliche Erfahrungen der Bewohner und Bewohnerinnen des ersten Bauteils analysiert wurden und in die Planung einflossen. Bei der Beibehaltung der Farbe Orange für die Fassade, die auch bereits als Trademark fungiert, war man sich einig. Leicht verändert wurde hingegen die bauliche Struktur; „Missis“ wurde abgeschlankt, sprich, die Wohnungen wurden kleiner, um besser leistbar zu sein, und die Dichte weiter erhöht, indem das ausgeklügelte Split-level-System, das die Schlafräume extrem niedrig und die Wohnräume möglichst hoch werden läßt, gegenüber dem Altbau noch verfeinert wurde.

Der Niveauausgleich innerhalb der Wohnungen erfolgte dort, wo die Mieter dies wollten, über Rampen neben den Gehstufen, wodurch ein offener Übergang mit höchst dynamischem Charakter geschaffen wurde. Durch eine Überbauung der Rampen kann jedoch bei Bedarf zusätzlich nutzbarer (Stau-)Raum geschaffen werden. Vorwiegend geprägt wird die Raumdynamik allerdings durch die geknickten Wohnungstrennwände, die die Kleinheit der Wohneinheiten durch die Perspektivwirkung kaschieren. Diese Wohnungen sind im besten Sinne schräg und weichen entschieden vom gängigen Grundrißtypus ab. Ausgeglichen wird die geringe Wohnfläche durch die Einbettung in eine auch im architektonischen Sinne soziale Struktur: Alle Wohnungen werden wohnzimmerseitig, wo auch der Eingang in die Wohnungen liegt, von einem süd- beziehungsweise ostseitigen, L-förmigen Laubengang erschlossen, der gleichzeitig als private Loggia dient. Diese Laubengänge, an deren beiden Enden die Stiegenhäuser situiert sind und die in den gemeinschaftlich genutzten Innenhof orientiert sind, können als die kommunizierenden Gefäße des Systems betrachtet werden, denn hier kriegt man alles mit, was sich daheim im Heim abspielt. Man sieht, wer kommt und geht, wer zu Hause ist und wer mittels heruntergelassener Jalousie seine Intimsphäre gewahrt haben möchte - dies stellt eine Art der sozialen Kontrolle dar, die man wollen muß.

Begünstigt sind dabei die Wohnungen im Dachgeschoß, die nicht nur über mehr Privatheit, sondern auch über einen herrlichen Fernblick verfügen. Auf Straßenniveau liegen nebst dem Haupteingang und der Garage (drei Pkw-Stellplätze sind für das Wohnheim genug, und selbst die sind durch eine Unzahl eingestellter Fahrräder alternativ zweckentfremdet) fünf Maisonetten, die durch jeweils eigene Eingänge direkt von der Gasse ideal als „Homeoffices“ genutzt werden können. Der Innenhof wurde auf die Ebene des Souterrains abgesenkt, wodurch ein vollwertiges, natürlich belichtetes Geschoß gewonnen wurde. Hier sind Bäume gepflanzt, plätschert das Wasser in einem Brunnen und ergibt sich für die Maisonetten eine ebenerdige Erweiterung in den Außenraum.

Die Kollektivräume der Hausgemeinschaft hingegen sind nicht als Nebenräume im Souterrain angelegt, sondern liegen vom Laubengang aus begehbar zentral im Gebäude auf zwei Ebenen, ineinander verschachtelt und teilweise mit Sichtverbindung untereinander: eine Küche mit Eßplatz, die für größere Einladungen oder Feste benutzt werden kann, die Waschküche, ein Raum für mögliches Teleworking und das erweiterte Wohnzimmer für alle, eine Bibliothek. Diese verfügt auf beiden Ebenen über einen Zugang, wobei sich der Raum bei Benutzung des unteren Eingangs über eine extrem steile, gewendelte Rampe erschließt, die seitens der Baubehörde nur deshalb genehmigt wurde, weil sie als „Bergskulptur“ (Benutzung auf eigene Gefahr) gewidmet wurde. Lediglich der Discoraum für die Jugendlichen ist im Keller untergebracht und auch separat von der Gasse aus zugänglich. Ins Hallenbad, in den Kindergarten oder ins Café spazieren die Mieter und Mieterinnen eine Gasse weiter in die „alte Sargfabrik“.

Dem von seiten des „Vereins für integrative Lebensgestaltung“ selbstauferlegten sozialen Anspruch wird dieses gelungene Integrationsprojekt nicht nur dadurch gerecht, daß auch Behindertenwohnungen und eine betreute Wohngemeinschaft für Kinder und Jugendliche Platz fanden, sondern er zeigt sich logischerweise in der Bewohnerstruktur. Alleinerziehende Mütter, geschiedene Männer sind jene, die auf eine erschwingliche, funktionierende soziale Infrastruktur angewiesen sind, um nicht häuslich zu vereinsamen. Die Nachfrage seitens der Frauen war so hoch, daß sogar ein Inserat aufgegeben werden mußte - „Miss sucht Männer!“ -, um eine bessere Durchmischung zu erreichen. 10 Prozent der Wohnungen werden mit befristeten Verträgen vergeben, damit ein gewisses Flexibilitätspotential gewahrt wird und neue Interessenten die Chance erhalten, in die „Sargfabrik“ einzuziehen. Die Fluktuation ist jedoch wesentlich geringer als erwünscht, wer einmal hier wohnt, möchte nicht mehr ausziehen. Durch das genossenschaftliche Prinzip hat sich eine Hausgemeinschaft gebildet, die die Verantwortung für die Pflege des Ganzen übernommen hat und dadurch offensichtlich für jeden einzelnen eine höhere Lebensqualität erzeugt als bei einer individualisierten Wohnform.

In Zeiten wie diesen, wo auch im sozialen Wohnbau die Gewinnmaximierung des Bauträgers im Vordergrund steht - siehe „G-town“ -, sind intelligente Projekte, wo die Architekten einen „sozialen Funktionalismus“ mit spannenden Formen und charmanten Details kombinieren, eine wahre Wohltat. Der Einsatz von Wohnbauförderungsgeldern erfolgt dieserart in optimaler Weise und schließt, wie die ungebremste Nachfrage von Bewerbern und Berwerberinnen zeigt, eine Lücke auf dem Wohnungsmarkt. Kollektive Wohnprojekte gab es schon viele, aber dieses scheint in ganz unwienerischer Art auch gut zu funktionieren. Der Bedarf an Projekten wie Mutter und Tochter Sargfabrik ist gegeben, hoffentlich sind die Architekten des Vereinslebens noch nicht müde und betreiben weiterhin eine geordnete „Familienplanung“.

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