Bauwerk

Mustersiedlung 9=12
Adolf Krischanitz, Steidle Architekten, Marcel Meili, Markus Peter Architekten, Hermann Czech, Hans Kollhoff, Heinz Tesar, Diener & Diener Architekten, Peter Märkli, Max Dudler - Wien (A) - 2007

Die nackte Wahrheit

Beton spaltet die Gemüter. Während Architekten von Glückshormonen überschüttet werden, runzeln die Bewohner ihre Stirn. Ausflug in die Mustersiedung 9=12 in Wien-Mauerbach.

6. Oktober 2007 - Wojciech Czaja
Unter einem rattert das Geleis, seitlich zieht in schnellen Bildern die Landschaft vorbei. Es gibt keine schönere Beschäftigung, als während der Zugfahrt im Speisewagen zu sitzen und Melange schlürfend beim Fenster hinauszuschauen. Westbahnstrecke, Wienerwald, Wiesen links und rechts. Die Ellbögen sind aufgestützt, Hände wärmend wird die Tasse umklammert. Kurz vor Wien ein flüchtiger Blick nach Norden: Ruckartig verdreht man bei 120 Sachen den Kopf und schüttet sich den Kaffee über die Finger. Zehn betonierte Häuschen purzeln den Hang herab und lassen einen kurz am eigenen Sehsinn zweifeln. War das jetzt echt?

Die Mustersiedlung 9=12, die in Wien-Mauerbach dieser Tage fertig gestellt wird, ist ein Vorzeigeprojekt der Beton- und Zementindustrie. Sie ist der ambitionierte Versuch, sich mit vereinten Kräften dem unaufhaltsamen Erfolg der Holzlobbyisten und der Ziegelindustrie zu stellen. Das Projekt dürfte von besonderer Wichtigkeit sein, denn sämtliche betonaffine Unternehmen zogen an einem Strang und stellten nicht unwesentliche Mengen an Naturalien und Arbeitszeit zur Verfügung.

Wie rohe Betonskulpturen sind die Häuser auf dem Grundstück verteilt. Ein Satteldach wird man hier nicht zu Gesicht bekommen, stattdessen erscheinen die einzelnen Gebäude als minimalistische Klötze. Nur die wenigsten von ihnen sind verputzt oder gestrichen, die meisten erstrahlen in nacktem Beton. Wo Architekten das Herz aufgeht, zucken Max und Monika Mustermann innerlich zusammen. Alles nur Beton? „Vor ein paar Tagen hatten wir im Büro einen Anruf von einer zukünftigen Mieterin“, erzählt Patrick Fessler, Projektleiter im Architekturbüro Adolf Krischanitz, „sie hat sich recht besorgt darüber erkundigt, ob die Oberfläche ihres Hauses etwa schon die endgültige ist.“ Für die Dame dürfte das Telefonat alles andere als erfreulich gewesen sein.

Doch man kann hoffen, dass sich die Einstellung zu authentischem Bauen - so heißt es unter Architekten, wenn man ganz verrückt danach ist, alles so zu zeigen, wie es ist - in Bälde ändern wird. Für Materialfetischisten und Ästheten ist das Grundstück nämlich ein Dorado der Möglichkeiten. Einmal ist der Beton aalglatt, dann wieder grob und zerfurcht und zeigt die sägeraue Oberfläche der Schalungsbretter. Meist ist er grau, gelegentlich aber ist er auch mit beigen, braunen oder schwarzen Farbpigmenten versetzt. Architekt Adolf Krischanitz: „Wir haben hier nicht versucht, lustige Häuser und Gags zu machen, sondern wollten den Leuten demonstrieren, wozu Bauen in Beton imstande ist.“

Ein zynisches Lächeln kann man sich nicht verkneifen. Wer jemals schon in einem Plattenbau der Siebzigerjahre gestanden hat, der weiß: Diese Grundrisse sind für die Ewigkeit betoniert. Unter halbwegs wirtschaftlichen Bedingungen erlauben sie den Bewohnerinnen und Bewohnern kaum mehr, nachträglich irgendwelche Änderungen vorzunehmen. Ganz zu schweigen von Behaglichkeit oder Bauökologie. „In Wien ist die Grundriss-Kultur völlig verschlampt, die Architektur hört meist schon an der Fassade auf“, beklagt Krischanitz, „was dann drinnen passiert und wie die Leute mit der meist geringen Wohnfläche zurande kommen, ist den Wohnbauträgern völlig egal.“

Mit der Mustersiedlung 9=12 will Bauträger ÖSG (Stadtentwicklung und Wohnbaumanagement GesmbH) Abhilfe schaffen und mit gutem Beispiel vorangehen. Und die besten Beispiele kommen bekanntlich aus der Schweiz. „Dort lebt die Grundriss-Kultur fort wie in keinem anderen Land in Europa“, sagt Krischanitz, „die Schweizer begreifen es einfach, mit wenigen gekonnten Handgriffen dem Menschen Behaglichkeit und Flexibilität zu vermitteln.“ Nicht zuletzt deshalb ist die Siedlung ein Jointventure der Architekturnationen geworden. Insgesamt neun Architekturbüros - jeweils drei aus Österreich, Deutschland und der Schweiz - zerbrachen sich den Kopf über neue Grundriss-Lösungen. In Österreich waren dies Hermann Czech, Heinz Tesar und Adolf Krischanitz als Planer und Koordinator, aus Deutschland beteiligten sich Otto Steidle (+), Max Dudler und Hans Kollhoff, aus der Schweiz schließlich Peter Märkli, Roger Diener sowie Marcel Meili und Markus Peter.

Das Potpourri könnte nicht vielfältiger und widersprüchlicher sein. Die einen setzten auf klare Kisten und wohl proportionierte Räume, die anderen auf ein paar vereinzelte Wandscheiben, die mittels Schiebetüren und Faltwänden immer wieder zu neuen Raumkonstellationen inspirieren. Eine einheitlich durchgehende Linie wird man nicht erkennen. „Ich mag dieses Kabinett an Möglichkeiten, ich mag die gebotene Vielfalt“, sagt Krischanitz, „zudem ist sie äußerst konsumentenfreundlich, weil sich jeder das aussuchen kann, was ihm gefällt.“ Zur Auswahl stehen luftige Apartments mit einem Hauch von Loft, Split-Level-Wohnungen und sogar mehrgeschoßige Reihenhäuser - verschachtelt und ineinander verkeilt, als hätten die Architekten Tetris gespielt.

„Als Vorzeigeprojekt ist die Mustersiedung 9=12 durchaus ein Erfolg“, sagt Architekt Adolf Krischanitz, „mit einer einzigen Ausnahme: Die finanzielle Komponente haut überhaupt noch nicht hin.“ Ohne das Sponsoring der beteiligten Firmen sei ein solches Projekt niemals möglich gewesen. Lafarge Perlmoser lieferte den Zement, Oberndorfer die Betonfertigteile, Pittsburgh Corning die gesamte Wärmedämmung, und die gelben Betonschaltafeln, die man von jeder Baustelle kennt, kommen vom österreichischen Unternehmen Doka. Die Liste ist noch länger. Ein nicht unwesentlicher Zuschuss ist schließlich der Baufirma selbst, der Strabag, zu verdanken - sie steuerte einen Teil der Baukosten bei.

„Wir sind alle in einem Boot gesessen und waren uns völlig darüber im Klaren, dass das Projekt im Rahmen des herkömmlichen geförderten Wohnbaus nicht funktionieren kann“, sagt Gernot Tritthart, Marketingleiter des Zementproduzenten Lafarge Perlmooser, „um das Bauvorhaben mit Fördermitteln realisieren zu können, mussten wir alle unseren Obolus leisten.“ Wenn sich schon die Gelegenheit ergibt, sich zu formieren und gemeinsamen ein Demonstrationsbauvorhaben aus der Taufe zu heben, dann müsse man sie auch nutzen.

Deutlich weniger euphorisch zeigt sich der hauptverantwortliche Architekt: „Genau das ist mein größter Kritikpunkt. Denn selbst bei derartigen innovativen und zukunftsweisenden Sonderprojekten wie 9=12 werden die strengen Regelungen für geförderten Wohnbau keinen Millimeter gelockert. Wir kriegen keinen Euro mehr als für jedes andere, normale Bauvorhaben auch.“

Das Werk ist vollbracht, Ende Oktober werden die ersten Bewohner einziehen. Eine Betonsiedlung nach derartig radikalem Strickmuster und mit derartig konsequentem Materialeinsatz wird es kein zweites Mal geben - das liegt in der Natur von Mustersiedlungen. Was bleibt, ist die Irritation in der vorbeiziehenden Landschaft. Viele Jahre noch werden die ÖBB-Passagiere der Westbahnstrecke kurz vor Wien den Kopf verdrehen und sich ob der ewigen Baustelle wundern. Ist denen das Geld für den Außenputz ausgegangen? Die Kenner unter ihnen wissen nun Bescheid.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Der Standard

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at