Veranstaltung

«Reporting from the Front»
Ausstellung
«Reporting from the Front» © La Biennale di Venezia
28. Mai 2016 bis 27. November 2016
La Biennale di Venezia
Giardini & Arsenale
I-30122 Venedig


Biennale di Venezia

Von Gold­rausch bis Gän­se­haut

Die 15. Ar­chi­tek­tur-Bien­na­le in Ve­ne­dig steht un­ter dem Ti­tel „Re­por­ting from the front“. Und ei­ni­ge we­ni­ge Län­der ha­ben sich auch wirk­lich der Her­aus­for­de­rung ge­stellt, nach vor­ne zu pre­schen und aus der er­sten Rei­he fuß­frei zu be­rich­ten.

28. Mai 2016 - Wojciech Czaja
Kniend am Bo­den, den Kopf in der Mit­te des wei­ßen Krei­ses, un­ent­weg­tes Kopf­schüt­teln, 800 Se­kun­den lang. Was man hier un­ten im Schot­ter, mit­ten in den Gi­ar­di­ni, zu se­hen be­kommt, ist ein Stac­ca­to an in der Tat scho­ckie­ren­den Bil­dern im Se­kun­den­takt, 800 Stück da­von, ei­nes für je­des Jahr, seit­dem in Eng­land die Mag­na Car­ta, die „Gro­ße Ur­kun­de der Frei­hei­ten“, un­ter­zeich­net wur­de.

„Die ei­nen ha­ben sich Frei­heit ge­nom­men, die an­de­ren ha­ben da­run­ter ge­lit­ten“, sagt Ku­ra­tor Pier­re Bé­lan­ger in An­spie­lung auf die Ma­chen­schaf­ten der ehe­ma­li­gen bri­ti­schen Kron­ko­lo­nie. „Die­se aus­beu­te­ri­sche Vor­ge­hens­wei­se Ka­na­das hat sich bis heu­te nicht ge­än­dert. Die mitt­ler­wei­le welt­wei­te Su­che nach Bo­den­schät­zen, bei der Ka­na­da die Fin­ger im Spiel hat, ist ei­ne Ver­skla­vung der Ur­ein­woh­ner und ein bru­ta­ler Miss­brauch von Land.“

Noch nie war ein Bei­trag auf der Ar­chi­tek­tur-Bien­na­le in Ve­ne­dig so nah am Re­al­kri­mi wie heu­er. Re­por­ting from the front lau­tet das dies­jäh­ri­ge Ge­ne­ral­the­ma der 15. Na­bel­schau in­ter­na­tio­na­len Ar­chi­tek­tur­den­kens, un­ter dem der aus Chi­le stam­men­de Bien­na­le-Di­rek­tor und Pritz­ker­preis­trä­ger Ale­jan­dro Ara­ve­na zum Per­spek­ti­ven­wech­sel auf­ruft. „Ich möch­te auf die­se Wei­se je­ne Men­schen zu Wort kom­men las­sen, die di­rekt von der Front be­rich­ten und uns ei­ne neue Sicht auf das Bau­en ge­ben kön­nen.“

Und Ka­na­da, oh ja, Ka­na­da ist ein hei­ßes Ei­sen aus al­ler­er­ster Rei­he fuß­frei. Der Bei­trag von Pier­re Bé­lan­ger, der in To­ron­to und Ot­ta­wa das Land­schafts­pla­nungs­bü­ro Op­sys be­treibt und an der Har­vard Gra­dua­te School of De­sign in Cam­brid­ge un­ter­rich­tet, ist so­gar so heiß, dass sich die Re­gie­rung da­ran nicht die Fin­ger ver­bren­nen woll­te – und den Ku­ra­tor kur­zer­hand aus dem Pa­vil­lon ver­bann­te.

„Als be­kannt wur­de, dass wir in­ves­ti­ga­tiv vor­ge­hen möch­ten und die Bo­den­aus­beu­tung Ka­na­das the­ma­ti­sie­ren wol­len“, er­klärt Bé­lan­ger im Ge­spräch mit dem Stan­dard , „wur­de uns un­ter­sagt, den ka­na­di­schen Pa­vil­lon zu be­tre­ten.“ Aus die­sem Grund sei man nun drau­ßen in der frei­en Na­tur. „Of­fi­ziell heißt es, dass man den Pa­vil­lon nun drin­gend re­no­vie­re“, sagt Bé­lan­ger, der das Pro­jekt zur Gän­ze mit pri­va­ten Spen­den fi­nan­zie­ren muss­te.

29 Sä­cke mit je ei­ner Ton­ne Gold­erz ste­hen nun wie ei­ne mah­nen­de Mau­er vor dem lee­ren Pa­vil­lon. Das Ma­te­ri­al stammt von ei­ner kon­ta­mi­nier­ten Gold­mi­ne in Sar­di­nien, die von ei­nem ka­na­di­schen För­de­run­ter­neh­men be­trie­ben und nach der glo­ba­len Fi­nanz­kri­se auf­ge­las­sen wur­de. Es ist ein bis auf die Spit­ze ge­trieb­ener Zy­nis­mus, dass man das 800 Se­kun­den lan­ge Mi­kro­film­chen mit Bil­dern von zers­tör­ten Land­schaf­ten und glü­ckli­chen Er­öff­nungs­ze­re­mo­ni­en samt Blitz­licht­ge­wit­ter und durch­ge­schnitt­enem Band just durch ei­ne mas­siv gold­ene Lin­se er­späht.

Kri­sen­ge­biet Bien­na­le

Nach so viel Schock braucht man Er­ho­lung. Und die fin­det man auf der 15. Ar­chi­tek­tur-Bien­na­le zur Ge­nü­ge. Ein Teil der Län­der­bei­trä­ge und der von Di­rek­tor Ara­ve­na di­rekt be­auf­trag­ten Wer­ke, die im Ar­se­na­le und in den Gi­ar­di­ni zu se­hen sind, ras­seln be­lang­los und vor­her­seh­bar durch den Fil­ter. Auf­fäl­lig sind die drei gro­ßen The­men­be­rei­che, de­nen sich die meis­ten Teil­neh­mer ver­schrie­ben ha­ben. Und ir­gend­wie han­deln al­le drei vom Um­gang mit der Kri­se.

Er­stens er­lebt man ei­ne Re­nais­san­ce des Emer­gen­cy De­sign samt Kis­ten, Zel­ten und Con­tai­nern. Zwei­tens lernt man die Ar­chi­tek­ten­schaft als ei­ne Grup­pe mit ei­nem Sen­so­ri­um für So­zia­les und Ethni­sches ken­nen. Und drit­tens – und das ist der mit Ab­stand in­te­res­san­te Fo­kus von al­len – be­kommt man als Be­su­cher Ein­blick in ei­ne Welt der en­den wol­len­den Res­sour­cen.

Is­ra­el denkt über die Zu­kunft des Bau­ens nach und stellt die The­se auf, dass auf die di­gi­ta­le Re­vo­lu­ti­on, in der wir uns ge­ra­de be­fin­den, ei­ne in­ten­si­ve Aus­ein­an­der­set­zung mit der Bio­lo­gie fol­gen müs­se. Bah­rain ze­le­briert sich als klei­ne In­sel­na­ti­on mit der neunt­größ­ten Alu­mi­ni­um­hüt­te der Welt. Und stellt da­mit nicht nur Licht, son­dern auch Schat­ten­sei­ten dar. Ser­bien stellt das Be­rufs­sys­tem an den Pran­ger und be­klagt die Job­si­tua­ti­on jun­ger Ar­chi­tek­ten, die oft nur Aus­sicht auf Gra­ti­sar­beit ha­ben. Was für ei­ne Res­sour­cen­ver­schwen­dung! Und Skan­di­na­vien will erst gar nicht an­fan­gen, ein­zel­ne Pro­ble­me auf­zu­zäh­len, und schickt sich gleich selbst in Psy­cho­ana­ly­se, di­rekt auf Freuds Couch.

So­zia­le Ghet­tos

Im aus­tra­li­schen Pa­vil­lon taucht man in die Ge­schich­te des Ba­dens und Plät­scherns ein. „Aus­tra­lien hat die welt­weit höch­ste Swim­ming­pool­dich­te pro Kopf“, sagt Ku­ra­to­rin Isa­bel­le To­land. „Da­her woll­ten wir den Pool als Ort der So­zia­li­sa­ti­on und der na­tio­na­len Iden­ti­tät, aber auch als Aus­lö­ser für öko­lo­gi­sche Pro­ble­me dar­stel­len.“ Im Hin­ter­grund kom­men Sän­ger, Au­to­ren, Mo­de­de­sig­ner und Land­schafts­ar­chi­tek­ten zu Wort.

Ei­ne be­son­ders wich­ti­ge Res­sour­ce ist nicht zu­letzt das so­zia­le Ghet­to. Die­ser Mei­nung ist man im deut­schen Pa­vil­lon. Un­ter dem Ti­tel Ma­king Hei­mat. Ger­ma­ny, Ar­ri­val Coun­try wur­de un­ter­sucht, wel­che Chan­cen je­ne Grät­zel und Quar­tie­re ha­ben, die oft ei­nen ho­hen Mig­ran­te­nan­teil und sel­ten ei­nen gu­ten Ruf ha­ben. Dar­ge­stellt wer­den acht Or­te in Deutsch­land, so­ge­nann­te Ar­ri­val Pla­ces, in de­nen sich ei­ne funk­tio­nie­ren­de Mi­kro­öko­no­mie, ei­ne Art Pa­ral­lel­uni­ver­sum eta­bliert hat.

„Sta­tis­tisch ge­se­hen sind die Ar­ri­val Pla­ces mie­se Or­te mit nie­dri­gem Ein­kom­men, aber auch ei­ner sehr ho­hen Fluk­tua­ti­on, weil die Men­schen sehr bald wie­der wei­ter­zie­hen, so­bald es ih­nen bes­ser geht“, sagt Ku­ra­tor Oli­ver El­ser vom Deut­schen Ar­chi­tek­turm­useum (DAM). „Tat­säch­lich sind dies Or­te, von de­nen wir viel ler­nen kön­nen. Ich möch­te mit die­sem Bei­trag ganz laut sa­gen: Fürch­tet euch nicht! Ein ho­her Mig­ran­te­nan­teil ist ein Se­gen und kein Fluch. Und nicht je­des Vier­tel mit ei­nem ho­hen Ar­muts- und Ar­beits­lo­se­nan­teil ist so­fort ein Pro­blem­ge­biet.“

Der deut­sche Pa­vil­lon ist ei­ne schö­ne the­ma­ti­sche Er­gän­zung zum ös­ter­rei­chi­schen Bei­trag, der in Ve­ne­dig nur ei­nen Bruch­teil sei­nes Um­fangs ver­rät. Un­ter dem Ti­tel Or­te für Men­schen ließ Ku­ra­to­rin El­ke De­lu­gan-Meissl in Zu­sam­men­ar­beit mit Li­quid Fron­tiers drei leers­te­hen­de Bü­ro­bau­ten aus den Acht­zi­ger­jah­ren wohn­bar ma­chen – mit Mö­beln, In­stal­la­tio­nen und be­helfs­mä­ßi­gen Not­kons­truk­ten von Eoos, Ca­ra­mel Ar­chi­tek­ten und The Next Ent­er­pri­se.

Und dann Al­ba­nien. Das geht un­ter die Haut. Die bei­den Ku­ra­to­ren Si­mon Bat­tis­ti und Le­ah Whit­man-Sal­kin wid­men sich der aus­ster­ben­den Res­sour­ce der Iso-Po­ly­pho­nie, auch Kën­ge Kur­be­ti ge­nannt. Der au­ßer­ge­wöhn­li­che mehrs­tim­mi­ge Ge­sangs- stil han­delt meist von Heim­weh, Ab­schied und weg­ge­zo­ge­nen Kin­dern und ist im­ma­te­riel­les Un­esco-Welt­kul­tur­er­be.

„Doch nach­dem im­mer mehr Men­schen in die Stadt aus­wan­dern und gan­ze Dör­fer aus­ster­ben, droht auch die Kul­tur des Kën­ge Kur­be­ti zu ver­schwin­den“, sagt Whit­man-Sal­kin im Ge­spräch mit dem STAN­DARD . Im Pa­vil­lon ist ei­ne wun­der­schö­ne Sound-In­stal­la­ti­on zu hö­ren, in der man ge­dank­lich nach Al­ba­nien schweift. Die Tex­te han­deln ganz tra­di­tio­nell von Mig­ra­ti­on. Al­ler­dings sind es dies­mal nicht die Töch­ter, die weg­hei­ra­ten, und die Söh­ne, die ins Mi­li­tär zie­hen, son­dern Tex­te von nam­haf­ten Ar­chi­tek­ten und Stadt­pla­nern, die ins Al­ba­ni­sche über­setzt wur­den und die vom Wachs­tum der Stadt und vom Ver­schwin­den der länd­li­chen Ge­bie­te han­deln. Gän­se­haut. Das macht den Gold­rausch wie­der wett.
[ Die Ar­chi­tek­tur-Bien­na­le in Ve­ne­dig ist bis 27. No­vem­ber zu se­hen. ]

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