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TEC21 2010|37
Kunstbauten im Wägital
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zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Das Kraftwerk Wägital

Im August vor 86 Jahren war die Gewichtsstaumauer in der Felsenge der Schräh gebaut, und das Wägital in der südöstlichen Ecke des Kantons Schwyz wurde geflutet. Ein neues Landschaftsbild entstand. Deshalb wurden rund um den Speichersee und im vorderen Wägital für das zweistufige Kraftwerk Wägital zahlreiche Ingenieurkunstbauten erstellt. Es lohnt sich, deren Geschichte aufzurollen und sie, als weitgehend im Originalzustand in Betrieb stehende Zeugen der Technikgeschichte, näher zu betrachten.

10. September 2010 - Aldo Rota
Vor einem Menschenalter, am 9. August 1924, wurde die 1502 geweihte Kirche von Innerthal, zuhinterst im Schwyzer Wägital, gesprengt. Zuvor waren bereits das Pfarrhaus, das Schulhaus, die Sägerei und gegen 100 weitere Gebäude der abgelegenen Gemeinde dem Erdboden gleichgemacht worden. Die für die damalige Zeit in der friedlichen Schweiz ungewöhnliche Zerstörung eines ganzen Dorfs, die für die Anlage des Stausees Innerthal (heute als Wägitaler See bekannt) erforderlich war, erregte einiges Aufsehen, zumal für rund 80 Einwohnerinnen und Einwohner keine Ersatzbauten erstellt werden konnten und diese deshalb gezwungen waren, aus Innerthal abzuwandern. Immerhin wurden Kirche, Pfarrhaus, Schulhaus, Gasthaus, Sägerei und zahlreiche Wohn- und Landwirtschaftsbauten oberhalb des Seespiegels neu erstellt, sodass Innerthal heute eine intakte Gemeinde ist, deren Wirtschaft entscheidend vom Tourismus und vom Landschaftsidyll um den Stausee geprägt ist. Seither sind noch einige Ortschaften in vergleichbarer Weise durch Stauseen überflutet und an anderen Standorten neu erstellt worden, darunter als bekanntes Beispiel 1954 Marmorera am Julierpass in Graubünden, dessen Schicksal in einem Schweizer Film («Marmorera» von Markus Fischer, 2007) aufgegriffen wurde. Grosse, ganze Talschaften betreffende Überflutungs- und Umsiedlungsprojekte wie etwa im Urserental oder im Rheinwald (GR) sind in der Schweiz jedoch stets durch Volksentscheide verhindert worden. Der Bau von Wasserkraftwerken hat sich seither immer mehr von den Voralpen in die Alpentäler verlagert, und die grössten seit den 1950er-Jahren erstellten und laufend ausgebauten Werksgruppen wie etwa Cleuson-Dixence oder KWO (Kraftwerke Oberhasli) lassen das Kraftwerk Wägital um eine Grössenordnung hinter sich (vgl. Kasten S. 26). Umso mehr ist es an dieser Stelle angebracht, sich die damaligen Verhältnisse vor Augen zu führen, um die Bedeutung der technischen Pionierleistungen im Wägital rückblickend zu würdigen.

Vor der Flutung

Ende des 19. Jahrhunderts, als in einer ersten Prospektionswelle landesweit geeignete Standorte für Wasserkraftwerke gesucht wurden, stellte man bereits fest, dass sich der langgezogene, flach geneigte Talboden von Innerthal am Ende des bis anhin unbekannten Wägitals für die Anlage eines Stausees eignet. Auf etwa 7 km Horizontaldistanz zur Talebene der March bei Siebnen, die rund 50 m über der Höhe des Zürichseespiegels liegt, steht ein Gefälle von rund 400 m zur Verfügung. Die Felsenge des Schräh am Ausgang dieses Talbodens war für die Erstellung einer Talsperre prädestiniert. Weitere günstige Umstände sind auch die relative Nähe zu grossen Energieverbrauchszentren, insbesondere der Stadt Zürich sowie der hoch industrialisierten Gebiete östlich und nordöstlich des Zürichsees, und nicht zuletzt die Tatsache, dass die Schwyzer Voralpen eines der niederschlagsreichsten Gebiete der Schweiz sind. Die Wasserkraft des Wägitals tatsächlich zu nutzen war aber aus geologischer Sicht schwierig, und es bedurfte mehrerer Anläufe, bis der Staudamm und die zusätzlich erforderlichen Kraftwerk-Bauwerke realisiert werden konnten (vgl. Kasten).

Nachdem bereits 1918/19 erste Sondierungen im Bereich der Staumauer Schräh erfolgten, konnte das definitive Bauprojekt im Januar 1921 aufgelegt und bewilligt werden. Als erste Arbeiten des Kraftwerkbaus begannen die Aushub- und Betonierarbeiten an der Staumauer Schräh im Januar 1922. Vier Jahre später, Anfang Januar 1926, konnte mit der Inbetriebnahme der Maschinengruppe 4 in der Zentrale Rempen der Betrieb aufgenommen werden.

Disposition der Anlage

Das Kraftwerk Wägital ist als zweistufiges Speicherkraftwerk mit Jahresspeicher ausgelegt (Abb. 2). Es nutzt die Wasserkraft der Wägitaler Aa zwischen dem Wägitaler See am südlichen Talende und Siebnen am nördlichen Talausgang zur Ebene der March. Die Trennung zwischen den zwei Stufen liegt ungefähr in der Mitte der genutzten Flussstrecke beim Ausgleichbecken Rempen, wo der einzige bedeutende Zufluss der Wägitaler Aa – der Trepsenbach – auf der rechten Talseite einmündet. Durch die Position dieses Zuflusses ergibt sich eine annähernd symmetrische Anordnung der zwei Stufen, die ungefähr dasselbe Gefälle aufweisen. Da beide Stufen auch dieselbe Triebwassermenge verarbeiten, konnten sie mit identischen Maschinengruppen ausgerüstet werden.

Der Wägitaler See bzw. Stausee Innerthal wird hauptsächlich aus seinem natürlichen, 42.7 km2 messenden Einzugsgebiet gespeist. Dazu kommt das Einzugsgebiet von 40 km2 des Ausgleichsbeckens Rempen der unteren Stufe, dessen gepumptes Wasser ebenfalls zur Füllung des Stausees beiträgt. Neben diesen natürlichen Einzugsgebieten wird kein Wasser aus anderen Gebieten zugeführt.

Staumauer und See

Das auffallendste und auch teuerste Bauwerk des Kraftwerks Wägital ist die Staumauer Schräh in der gleichnamigen Felsenge am Ausgang des Talbodens von Innerthal (Abb. 5 und 8). Die in Beton im damals neuartigen Giessverfahren erstellte Gewichtsstaumauer ist im Grundriss gerade angelegt und weist einen dreieckigen Querschnitt auf. Wasserseitig beträgt der Anzug 30:1, womit die Mauer beinahe senkrecht ist. Luftseitig beträgt der Anzug 1:0.783, was ihr eine imposante Erscheinung verleiht. Die Mauer ist vom Fundament bis zur Krone maximal 110.5 m hoch, wovon im Endzustand maximal 66 m über dem früheren Talboden sichtbar sind. Der grosse eingegrabene Anteil der maximalen Mauerhöhe ist einerseits auf die über 20 m starke Schuttüberdeckung des Felsbodens und anderseits auf eine ca. 20 m tiefe, schmale Erosionsrinne im Felsboden zurückzuführen, die bergmännisch ausgeräumt und betoniert werden musste.

Durch diese Staumauer, die für fünf Jahre die grösste Betonstaumauer der Welt war, wird ein 5 km langer und maximal etwa 1.20 km breiter See mit einer Oberfläche von 4.25 km2 aufgestaut. Da der Stolleneinlass für das Triebwasser höher liegt als der Talgrund auf Kote 834, liegt der tiefste mögliche Betriebswasserspiegel auf Kote 850. Bei der normalen Staukote 900 beträgt der nutzbare Stauinhalt 147.4 Mio. m3, was einer theoretischen akkumulierten Energie von 122.4 Mio. kWh entspricht. Im heutigen Betrieb wird nur der Bereich zwischen den Koten 880 und 900 bewirtschaftet, was einem Nutzinhalt von 76 Mio. m3 entspricht. In der Staumauer Schräh sind rund 236 600 m³ Beton verbaut worden. Sie wird von sieben über die gesamte Höhe verteilten horizontalen Kontrollgängen und drei vertikalen Kontrollschächten aus überwacht. Die Mauerkrone – die Kronenlänge beträgt etwa 156 m – wird durch Betongewölbe von 3 m Lichtweite und 1 m breite Pfeiler gebildet, die eine 4 m breite Verbindungsstrasse tragen. Am linken Ende ist der Hochwasserüberlauf mit Schwellenkote 897.63 m angeordnet. Durch seine drei 3.5 m weiten, durch Schützen abgeschlossenen Öffnungen können maximal 85 m³/s über eine Felswand ins alte Flussbett abgeführt werden (Abb. 9). Neben dem Mauerfundament war zudem noch der Grundablass in einem separaten Stollen angeordnet. Von 1982 bis 1984 wurde die Hochwasserentlastung saniert und ein neuer, auf Höhe des Talbodens durch die Mauer führender Grundablass erstellt.

Die obere Stufe Innerthal–Rempen

Auf der rechten Seeseite, etwa 800 m von der Staumauer entfernt, ist auf Kote 844 das Einlaufbauwerk für den Druckstollen der oberen Stufe angeordnet. Diese mit einem Rechen versehene Öffnung kann für Arbeiten im Stollen mit einer Flachschütze verschlossen werden, die auf einer Schrägseilbahn vor den Stolleneinlauf gefahren werden kann (Abb. 1). Im Normalbetrieb dient eine in einem Vertikalschacht weiter hinten im Druckstollen angeordnete Drosselklappe als Abschlussorgan. Hier beginnt der leicht geneigte, 3.67 km lange Druckstollen mit kreisförmigem Querschnitt und 3.6 m Innendurchmesser. Auch dieses «unsichtbare » Bauwerk ist eine Pionierleistung, denn für seine druckwasserdichte Auskleidung wurden in grossem Umfang Spritzbeton – damals als Gunit bezeichnet – und elektrisch geschweisste Ringbewehrungen eingebaut. Der Druckstollen endet im Wasserschloss Rempen mit einer unteren, als Stollen ausgebildeten Kammer und einer oberen, als frei stehender Betonzylinder konzipierten Kammer (Abb. 10). In der anschliessenden, frei stehenden Apparatekammer teilt sich der Druckstollen in zwei mit Drosselklappen abschliessbare Stränge. Von hier wird das Betriebswasser in einer offen auf Betonfundamenten verlegten, zweisträngigen Druckleitung mit vier Fixpunkten zur Zentrale Rempen geführt. Die Rohrdurchmesser dieser Druckleitung nehmen von oben nach unten von 2.4 m auf 2.05 m ab.

Die untere Stufe Rempen–Siebnen

Im Ausgleichsbecken Rempen mit der Staukote 642, unmittelbar unter der Zentrale Rempen, beginnt die untere Stufe des Kraftwerks Wägital. Das etwa 500 m lange und maximal rund 130 m breite Becken mit einem Nutzinhalt von rund 360 000 m³ wird durch die gleichnamige Staumauer im Flussbett der Wägitaler Aa aufgestaut. Diese inklusive Fundamente maximal 31.5 m hohe – 25 m davon entfallen auf die maximale Wassertiefe –, im Grundriss gerade Beton-Schwergewichtsmauer ist analog der Staumauer Schräh mit dreieckigem Querschnitt und auf Gewölben abgestützter Krone mit einer Kronenlänge von 128.4 m konzipiert. Zwei horizontale Kontrollgänge dienen der Überwachung der Mauer mit einer Betonkubatur von rund 21 500 m³. Der Wasserspiegel des Ausgleichsbeckens wird durch eine regelbare Überlaufklappe und vier automatisch ansprechende Saugüberfälle in der Mauerkrone reguliert. Diese Entlastungsorgane können gesamthaft 66 m³/s Wasser über die Mauerkrone abführen. Zwei im Mauerfuss eingelassene, quadratische, mit Gleitschützen verschliessbare Grundablässe sind insbesondere für das Ausspülen der Geschiebe- und Schlammablagerungen aus dem Ausgleichsbecken wichtig und vermögen eine Wassermenge von je 90 m³/s auszuleiten. Im Ausgleichsbecken Rempen wird neben dem Triebwasser der Zentrale Rempen der Abfluss des Zwischeneinzugsbiets mit einer Fläche von 40 km2 gesammelt. Dazu gehört auch der benachbarte Trepsenbach, der durch eine Wasserfassung mit Überfallwehr, Grundablass und Entsander gefasst und mit maximal 5 m³/s durch einen 268 m langen Freispiegelstollen ins Ausgleichsbecken Rempen übergeleitet wird. Wie für die Wägitaler Aa wird auch für den Trepsenbach von der 1962 erneuerten Konzession kein Restwasser vorgeschrieben. Am rechten Ende der Staumauer Rempen wird das Triebwasser der unteren Stufe durch ein Einlaufbauwerk gefasst und, analog zur oberen Stufe, nach Durchlaufen einer in einem Schieberhaus untergebrachten Drosselklappe in den leicht geneigten, 2.54 km langen Druckstollen mit kreisförmigem Querschnitt von 3.6 m Durchmesser eingeleitet. Er ist analog der oberen Stufe druckwasserdicht ausgekleidet. Unterhalb der Staumauer Rempen überquert der Druckstollen das Trepsental in 7 m Höhe auf einem 50.65 m langen, von Robert Maillart (1872 – 1940) entworfenen Aquädukt in Form einer auf zwei Pfeilern aufgelagerten Rohrbrücke aus Stahlbeton mit geschweisster Ringbewehrung (Abb. 4 und 6).

Am Ende des Druckstollens ist bei der Isenburg im Hang oberhalb Siebnen ein Zweikammer- Wasserschloss in analoger Bauweise wie in Rempen, aber mit einer wesentlich kleineren oberen Kammer angeordnet. Wie in Rempen teilt sich der Druckstollen in der anschliessenden, frei stehenden Apparatekammer in zwei Stränge, die mit Drosselklappen geschlos sen werden können. Von hier wird das Betriebswasser in einer zweisträngigen Druckleitung, die bei dieser Stufe in eine Betonummantelung eingegossen und im Boden verlegt und von aussen praktisch unsichtbar ist, zur Zentrale Siebnen geführt. Die Rohrdurchmesser dieser Druckleitung nehmen von oben nach unten von 2.5 m auf 2.2 m ab. Das Betriebswasser wird unterhalb der Zentrale Siebnen auf Kote 443.05 in das durch Dämme begradigte Gerinne der Wägitaler Aa zurückgegeben, die bei Lachen in den Obersee (Zürichsee) mündet.

Bau- und Energiekosten

Das Aktienkapital für den Bau und den Betrieb des Werks betrug 1921, anlässlich der Gründung der AG Kraftwerk Wägital (AKW), 40 Mio. Fr., die je zur Hälfte von der Stadt Zürich und den NOK eingebracht wurden. Gemäss der Abrechnung der Bauleitung per regulären Betriebsbeginn am 1. Oktober 1926 beliefen sich die totalen Baukosten auf rund 80 Mio. Fr.1 Grösster Einzelposten mit rund 16 Mio. Fr. war die Staumauer Schräh. Nach der Erneuerung der Konzession durch den Bezirk March im Mai 1962 wurden umfangreiche Umbauten und Sanierungsarbeiten ausgeführt, durch die sich der Anlagewert auf 140 Mio. Fr. erhöhte. Aus der Abrechnung und den Betriebskosten wurden 1930 für die verfügbaren 110 Mio. kWh Winterenergie Energiegestehungskosten von 6.82 Rp./kWh abgeleitet.[1] Heute rechnen die Betreiber in einem Jahr mit durchschnittlichen Niederschlägen für die auf Abruf zur Verfügung stehende, besonders wertvolle elektrische Energie – die Maschinengruppen können innerhalb etwa einer Minute vom Stillstand auf volle Leistung hochgefahren werden – mit Gestehungskosten von rund 12 Rp./kWh.

Die Kraftwerkbauten im Wägital sind eindrückliche Beispiele für den Pioniergeist und die Leistungsfähigkeit des Schweizer Ingenieurwesens in den 1920er-Jahren. Mit der Verwendung der Baustoffe Beton und Stahlbeton für Bauwerke dieser Grösse bzw. unter der Beanspruchung durch Druckwasser wurde damals teilweise Neuland betreten, was nur mithilfe neuartiger Konstruktions-, Berechnungs- und Baumethoden möglich war. Umso bemerkenswerter ist, dass ein Grossteil der Bauwerke und Einrichtungen heute weitgehend im Originalzustand weitergenutzt wird. Auch die hydraulische und elektromechanische Ausrüstung (Turbinen, Pumpen, Abschlussorgane, Generatoren und Pumpenmotoren) ist grösstenteils unverändert weiterhin in Betrieb. Ein Besuch im Wägital lohnt sich, denn das Kraftwerk Wägital ist zweifellos eines der konsistentesten und besterhaltenen Kraftwerkensembles aus der Zwischenkriegszeit. Auch heute beeindruckt die wuchtige Präsenz der Staumauer Schräh, die archaische Wirkung des Trepsenbach-Aquädukts oder die tempelartige Anlage des Wasserschlosses Rempen, die im Lauf der Jahre praktisch in die umgebende Voralpenlandschaft eingewachsen sind.

Aldo Rota, Prof. Dr. sc. techn., dipl. Werkstoffing. ETH/SIA
Anmerkung
[1] «Das Kraftwerk Wägital», Bericht der Bauleitung, Verlag A.-G. Kraftwerk Wägital, Siebnen, 1930 (vergriffen)

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