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hochparterre 10|2010
Zeitschrift für Architektur und Design
hochparterre 10|2010
zur Zeitschrift: hochparterre

Der Nebel lichtet sich

Es ist die beste Biennale aller Zeiten. Kunst macht Räume schwerelos und die Stars mussten für einmal zu Hause bleiben.

20. Oktober 2010 - Axel Simon
«Die Biennale 2010 sollte eine Ausstellung über Architektur sein.» So lautet der Kuratorin erster Satz im Programmheft. An der weltweit wichtigsten Architekturausstellung muss erstmal klargestellt werden, dass es um Architektur geht. Wie viel sagt ein solcher Satz über den aktuellen Zustand der Profession? Er kommt einer Bankrotterklärung gleich.

Wundern muss einen das nicht. Als 2004 Kurt W. Forster die Leitung der Architekturbiennale übernahm, wollte er uns die «Zeichen einer neuen Zeit» vorführen. Wir gähnten ob all der digitalen Wölbungen und Blähungen der üblichen Verdächtigen. Architektur sah man dort nicht. 2006 machte der Londoner Richard Burdett aus dem Jahrmarkt der formalen Eitelkeiten eine Problemschau. Sorge um die Entwicklung der Megastädte trieb ihn um, Unmengen an Fakten schlug er den Besuchern um die Ohren: Fotos und Filme von Caracas bis Shanghai. Architektur? Fehlanzeige. 2008 schliesslich suchte der Amerikaner Aaron Betsky die Architektur «jenseits des Bauens», schickte schräge Objekte auf den Laufsteg, bunt und schrill. Unfreiwillig geriet seine Schau zu einem Abgesang auf die sich nur noch selbst zitierenden «Stararchitekten». Und zu einem Tiefpunkt in der dreissigjährigen Geschichte der Architekturbiennale.
Aus diesem Loch schwebt nun eine Lichtgestalt. Mit Kazuyo Sejima berief die Biennale seit Langem wieder eine praktizierende Architektin an die Spitze. Und eine, die 2010 mit ihrem Büro Sanaa einen rasanten Sprung hinlegte: Im Januar stellte sie ihr Biennaleprogramm vor, im Februar eröffnete sie ihr hoch gelobtes «Learning Center» an der ETH Lausanne siehe HP 4 / 10 und im März wurde bekannt gegeben, dass der diesjährige Pritzkerpreis an Sanaa geht. Im Vorfeld der Ausstellung konnte man sich nicht sicher sein, ob die 54jährige Japanerin den hohen Erwartungen gerecht zu werden vermag. Als Kuratorin war sie unerfahren, sie spricht schlecht Englisch und tritt bescheiden auf, fast scheu. Und was sollte dieser Allgemeinplatz «People meet in Architecture» als Titel? Ihr Konzept, jedem Ausstellungsteilnehmer einen eigenen Raum zuzuweisen und sich selbst zu kuratieren, wurde skeptisch beäugt.

Weg von der männlichen Leistungsschau

Seit Ende September sind die Skeptiker im SanaaRausch. Ähnlich wie die Räume des «Learning Center», in denen man seinen gesunden Menschenverstand wegstaunt, betört die Hauptschau in Venedig ihre Besucher, macht sie glücklich. Atmosphärische Installationen zaubern aus der 300 Meter langen ehemaligen Seilerei in den Arsenalen eine sorgfältig komponierte Folge von Raumerlebnissen: Dunkel folgt auf hell, schwer auf leicht. Sejima lässt Wasser tanzen, Klänge einen Raum formen, der sich im Nebel wieder verliert. Ihr gelang es, aus einer männlichen Leistungsschau ein träumerisches Ereignis zu machen. Dabei liess sie alle Stars der Szene aussen vor: Keine Hadid, kein Gehry, kein Nouvel ist hier vertreten. Als einzigen weiteren PritzkerpreisTräger lud sie Rem Koolhaas ein. Mit einer brillanten Analyse zu unserem Verhältnis gegenüber Baudenkmälern findet der zu alter Form zurück und liefert damit den Beweis, dass er den diesjährigen Goldenen Löwen für sein Lebenswerk verdient.

Auch Sejimas Motto «Menschen treffen sich in Architektur» ist mehr als ein Lippenbekenntnis. Neben der Hauptausstellung auf 10 000 Quadratmetern, den 55 Länderbeiträgen und rund zwei Dutzend weiteren Ausstellungen gibt es unzählige Nebenveranstaltungen, Diskussionsrunden und der Ausstellung führte Hans Ulrich Obrist Interviews mit allen vertretenen Architekten und Künstlern, die am gleichen Ort auf Bildschirmen (und auf Youtube) zu sehen sind. Aber auch die besten Länderbeiträge stellen Menschen in den Mittelpunkt. Zum Beispiel der von Bahrein, ein Werk des Lapa (Laboratoire de la production d’architecture) von Harry Gugger an der ETH Lausanne. In einer Installation aus drei zusammengenagelten Strandhütten wirft man hier einen kritischen Blick auf die für die Öffentlichkeit immer unzugänglicher werdenden Strände des Inselstaates – Gugger und die Seinen wurden dafür mit dem Goldenen Löwen belohnt.

Beglückender Besuch So heterogen die Beiträge auch sind, im Blick zurück erscheint das Bild einer «japanischen» Biennale. Zarte Häuser, leuchtende Räume, das sei die Zukunft der Architektur, gibt uns die Kuratorin mit auf den Weg. Wie ein Exempel eröffnet ein 3DFilm von Wim Wenders über das «Learning Center» die Hauptausstellung, lässt uns durch Raumhügel gleiten. Sanaas Hausfotograf Walter Niedermayr zeigt Bilder von Moscheen, die sich in Helligkeit verlieren. Sejimas Lehrer Toyo Ito hat ebenso einen Raum wie einige ihrer Schüler, auch Werke von Sanaa sind vertreten. Der japanische Pavillon zeigt ein Haus des Büropartners Ryue Nishizawa. Christian Kerez stellt seine grossen Modelle in zwei Räumen aus, Valerio Olgiati füllt einen weiteren. Auch hier: Reinheit, Klarheit, Kunst, wiewohl um einiges muskulöser als in Fernost. Jürg Conzetts Blick auf Brücken und Stützmauern bringt mit Eigensinnigkeit und Sorgfalt — aber der Dichte vielleicht etwas zu viel — den Schweizer Pavillon ins Gespräch siehe Seite 60. Die vorausgegangenen Architekturbiennalen scheiterten an den grossen Fragen, wie Metropolenwachstum oder Nachhaltigkeit, oder aber am Hype des Starsystems. Die diesjährige möchte ihre Besucher schlicht beglücken — sie schafft es. Dass aber auch die Sehnsucht nach schwerelosen Räumen scheitern kann, das zeigt der Beitrag, den die Jury als beste Installation der Hauptausstellung ehrte. Mit ihr versucht der 36jährige Junya Ishigami, ebenso ehrgeizig wie spielerisch Architektur zu entmaterialisieren — und überflügelt dabei fast seine Lehrmeisterin Sejima. Zusammen mit einem halben Dutzend Helfern baute er ein Volumen in die Arsenalehalle, das nur aus Kanten besteht. 4 Meter hoch, 4 Meter breit und 14 Meter lang füllte es das Mittelschiff beinahe aus, doch sichtbar war es kaum, denn die Linien bestanden aus 0,2 Millimeter dünnen, weissen Kunststoffstäbchen, die wiederum von unsichtbaren Fäden abgespannt waren. Leider kamen nur wenige Besucher in den — irritierenden — Genuss, diese feine Zeichnung im Raum zu bewundern. Wenige Tage vor der Eröffnung brachte eine Katze das fragile Hausgespinnst zum Einsturz. Das Team arbeitete vier Tage und vier Nächte am Wiederaufbau und schliesslich triumphierte das Schwebende wieder über die Schwerkraft. Wenig später lief ein Putzmann in die Installation. Zurück blieben ein paar weisse Striche am Boden, ein Mahnmal der Leichtigkeit. Ihr Autor ist nun der Ikarus der Architektur.

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Für den Beitrag verantwortlich: hochparterre

Ansprechpartner:in für diese Seite: Roderick Hönighoenig[at]hochparterre.ch

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