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TEC21 2012|27-28
Corbusier und der Putz
TEC21 2012|27-28
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Le Corbusiers Experimente mit Putzfassaden

Die Villen der 1920er-Jahre von Le Corbusier und seinem Vetter und Partner Pierre Jeanneret sind durch Schwarz-Weiss-Fotografien als strahlend weisse Volumen in die Architekturgeschichte und die kollektive Vorstellungswelt eingegangen. Eine Sichtung der vorhandenen Quellen bringt jedoch eine ganze Bandbreite an Farbtönen auf den Fassadenoberflächen zutage. Den reinen Weisston, der im Allgemeinen mit den Bauwerken assoziiert wird, hat es in dieser Form nie gegeben; Le Corbusier verwendete ihn lediglich für «zweitrangige» Fassaden. Das Quellenstudium belegt auch, dass der Baukünstler bei der Suche nach witterungsbeständigen Putzen eng mit ausgewählten Handwerkern zusammenarbeitete.

29. Juni 2012 - Anna Rosellini
Die frühen Villen Le Corbusiers zeigen, wie der Architekt Stil- und Symmetriefragen untersuchte. Eine entscheidende Bedeutung spielt in diesem Zusammenhang die Gestaltung der Fassaden. Zu seinen idealen, bautechnisch zu jener Zeit nicht immer realisierbaren Vorstellungen gehört die «unsichtbare» Konstruktion, das Verschwinden konstruktiver Elemente. Eine reduzierte Oberflächengestaltung und ein wetterbeständiges Volumen ohne jegliche Vorsprünge gehörten zu den grundlegendsten technischen Herausforderungen für Le Corbusier. In diesem Zusammenhang war die Wahl des Putzes für den Charakter seiner frühen Bauten entscheidend. Die geeigneten Techniken entwickelte Le Corbusier beim Bau der ersten Häuser in den Jahren 1922 bis 1924, die Details verbesserte und vereinheitlichte er dann im Verlauf der 1920er-Jahre. Daran hatten nicht zuletzt die Handwerker und Bauunternehmer, mit denen er zusammenarbeitete, einen wesentlichen Anteil.

Die Auseinandersetzungen um Ausführung und Kosten sind in den vorliegenden Quellen eindrücklich nachzuvollziehen. Der Kern von Le Corbusiers Mannschaft bestand aus dem Unternehmer und Maurer Georg Summer, dem Tischler R. Louis, dem Maler und Glaser A. Célio, dem Installateur und Heizungstechniker Pasquier und dem Elektriker Barth.[1] Vor allem Summer und Célio spielten bei der Entwicklung der Fassadenverputze eine wichtige Rolle. Bei den frühen Bauten bevorzugte Le Corbusier für die Fassaden witterungsbeständige Putzarten, denn nur so konnte er Schutzelemente wie Dachüberstände auf schmale Linien reduzieren und schliesslich ganz zum Verschwinden bringen. Mit der Villa für George Besnus in Vaucresson (1923), dem Atelierhaus für Amédée Ozenfant in Paris (1923–1924) und den Häusern («hôtels particuliers») für Raoul La Roche und Albert Jeanneret (1923–1925), ebenfalls in Paris untersuchte Le Corbusier die Frage der technischen Beschaffenheit und der Farbigkeit der Putzoberflächen in der Praxis. In diesem Kontext stehen seine Experimente mit Putzen auf Kalkbasis («mouchetis»), Putz auf der Grundlage von Gips («lithogène», «cimentaline») sowie Putz auf der Grundlage von Zement («ciment-pierre» und «ciment blanc») (vgl. S. 20). Im Allgemeinen führte man diese Putzarten ohne Beimischung von Farben und ohne späteren Anstrich aus, die Farbe der jeweiligen Zuschläge blieb sichtbar. Diese Farbtöne wurden in der damaligen Literatur als steinähnlich («simili-pierre») bezeichnet.

Entwickeln am Entwurf – Maison Citrohan

Eine der ersten Quellen zu den Verfahren, die sich bei den genannten Werken durchsetzen sollten, ist der Kostenvoranschlag («devis») von 1922 für den Bau der Maison Citrohan.[2] Kurz zuvor war der Kunstsammler Pierre Gaut in einer Ausgabe der Zeitschrift «L’Esprit Nouveau» von 1921 auf den Entwurf Le Corbusiers zur Maison Citrohan (1920) aufmerksam geworden (Abb. 1). Das Projekt wurde zum Vorbild für das Haus, das Gaut sich in der Nähe des Parc de Montsouris in Paris von Le Corbusier bauen lassen wollte. Es kam allerdings nicht zur Ausführung. Gauts Haus wurde später von Auguste Perret realisiert. Die Planung veranlasste Le Corbusier jedoch, nach Möglichkeiten der Ausführung seines Entwurfs und insbesondere der Fassaden zu suchen. Anfang 1922 bat Gaut Le Corbusier um eine erste Kalkulation. Den detaillierten Kostenvoranschlag für den Bau des geplanten Prototyps der Maison Citrohan arbeitete das Pariser Unternehmen G.-L. Meyer & Cie im März 1922 aus.[3] Aus der Ausschreibung geht hervor, dass die Innenwände mit einem feinkörnigen Gipsputz («enduit de plâtre») und die Aussenmauern mit einem Putz auf Kalkbasis («enduit chaux mouchetis») verputzt werden sollten. In Paris war die Verwendung von Gipsputz auch bei Aussenfassaden üblich, allerdings musste die Oberfläche durch den Auftrag einer Ölfarbe geschützt werden. Die Tatsache, dass für die Fassade kein Gipsputz vorgesehen war, verweist auf die Suche nach Produkten, die es erlaubten, Oberflächen mit höheren Härtegraden zu realisieren. In diesem Zusammenhang interessierte sich Le Corbusier wieder für die aufgrund ihrer mechanischen Eigenschaften früher vereinzelt verwendeten Verputze auf Kalk- und Zementbasis (vgl. S. 20). Die Wahl von Kalk («chaux») als Bindemittel ist auf die wahrscheinlich geringeren Kosten und den gegenüber Gips höheren Härtegrad zurückzuführen. Dass in der Ausschreibung vom März 1922 keine Endbehandlung des Putzes aufgeführt ist, lässt vermuten, dass Le Corbusier für die Fassaden einen rauen Putz ausgewählt hatte. Die Entscheidung hing wahrscheinlich auch damit zusammen, dass dessen unregelmässige Struktur auftretende Risse besser kaschieren konnte.

Zudem war die damalige Lage des Grundstücks ausserhalb der Stadt mit der der Villen vergleichbar, die Le Corbusier in La Chaux-de-Fonds ebenfalls mit rauen Putzoberflächen ausgeführt hatte (Abb. 2).[4] Le Corbusiers Oberflächen wiesen also durchaus Eigenheiten einer an die regionalen Ausdrucksformen angepassten Architektur auf. Dass diese Anpassung, die durch die Art des Putzeinsatzes erzeugt wurde, in der Architektur der frühen 1920er-Jahre keine Ausnahmeerscheinung war, belegen auch die Entwürfe von Hippolyte (Pol) Abrahams (1891–1966) und Adolf Loos (1870–1933), etwa der 1923 im Salon d’Automne in Paris gezeigte Entwurf Loos’ für die Villa des österreichischen Schauspielers Alexander Moissi. Auch Le Corbusiers weitere Recherchen galten der Suche nach einem witterungsbeständigen Putz.

Versuche in der Praxis – Villa Besnus

Eine entscheidende Phase war im Sommer 1923 erreicht, als die Stahlbetonskelette der Villa für den Pariser Unternehmer Besnus und des Ateliers für den Maler Amédée Ozenfant (vgl. unten) entstanden. Hatte Le Corbusier die konstruktiven Details beim Entwurf zur Maison Citrohan entwickelt, so fanden die ersten praktischen Versuche zur Ausführung der Putzoberflächen auf den Baustellen dieser beiden Projekte statt. Le Corbusier und Pierre Jeanneret überreichen Besnus im Februar 1923 den Baubeschrieb für das Haus in Vaucresson. Darin ist als Putz für die Innenwände ein geschliffener magerer Putz mit Gips als Bindemittel («plâtre à la Lyonnaise») und für die Aussenwände ein hydraulischer Kalk, dem Sand als Zuschlagsstoff beigemischt ist («mortier de chaux hydraulique au bouclier»), vorgesehen.[5] Letzterer war gut formbar, allerdings nur mässig witterungsbeständig. In der Baubeschreibung ist als Endbehandlung lediglich das Glätten der Putzoberfläche vorgesehen. Das Fehlen jeglicher Anhaltspunkte in Hinblick auf einen Anstrich der Fassaden könnte bedeuten, dass der Putz unbehandelt und seine Eigenfarbigkeit sichtbar belassen werden sollte. Die bei Abschluss der Bauarbeiten aufgenommenen Fotografien lassen unregelmässige Oberflächenstrukturen erkennen, die die verschiedenen Phasen des Putzauftrags nachbilden (Abb. 3, 4).[6] Mit den Bauarbeiten wurde George Summer beauftragt. Das Projekt bildete den Beginn der Zusammenarbeit zwischen Le Corbusier und Summer, die die gesamten 1920er-Jahre andauerte. Der Vertrag zwischen Besnus und Summer vom April 1923 weist eine wichtige Änderung bei der Fassadendetaillierung der Villa auf: Für die Putzoberflächen war nun nicht mehr ein hydraulischer Kalkputz, sondern ein «lithogène», ein Kalkgipsputz mit grösserer Widerstandsfähigkeit, geplant (vgl. S. 20).[7] Für die Fassade im Bereich des auf die Strasse hinausgehenden Kellergeschosses sollte dagegen ein Zementputz verwendet werden. Die Entscheidung für einen Putz wie den «lithogène», der im Vergleich zum ursprünglich vorgesehenen Putz nicht nur über bessere mechanische Eigenschaften, sondern auch über eine steinähnliche Oberflächenstruktur verfügte, wirft eine Reihe von grundlegenden Fragen in Bezug auf die Detaillierung der Fassaden der frühen Bauten Le Corbusiers auf. Anfang der 1920er-Jahre wurde beim «lithogène» normalerweise die Oberfläche nach dem Trocknen poliert. Es ist daher ziemlich wahrscheinlich, dass der Farbton der Fassadenoberfläche der Villa Besnus der Farbe des Steins entsprach, der zur Herstellung des Putzes zum Einsatz gekommen war. Wenn ein widerstandsfähiger Kalkgipsputz ohne Farbauftrag verwendet wurde, könnte Le Corbusier sich dafür entschieden haben, um eine glatte und beständige Fassadenoberfläche zu erhalten. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, dass auch Perret 1923 bei der Fassaden- und Gesimsausführung des Hauses für Gaut (Hôtel particulier Gaut) einen «lithogène» ohne Farbauftrag verwendete.[8] Der von Perret eingesetzte Putz besteht aus Alaungips («plâtre aluné», vgl. S. 20).

So gesehen war Le Corbusiers «lithogène» eine wichtige und bisher unbeachtete Vorwegnahme des unbehandelt sichtbaren «béton brut» seiner Bauten aus der Nachkriegszeit. Es ist augenscheinlich, dass die Oberfläche für Le Corbusier eine komplexe Bedeutung besass: sowohl eng verbunden mit der Materialität und den Eigenschaften der verwendeten Baustoffe als auch Ausdruck seiner Theorie. Wie die Villa Besnus tatsächlich verputzt wurde, belegt schliesslich ein Brief von Summer an Le Corbusier, den dieser im Zusammenhang mit dem Bau der Zwillingshäuser («hôtels particuliers») La Roche und Jeanneret geschrieben hatte. Darin hielt Summer fest, dass die Fassaden mit einem geschliffenen Portlandzementputz («enduit ciment blanc égrisé») ausgeführt worden sind.[9] Obwohl es wahrscheinlich ist, dass Summer und Le Corbusier den technischen Unterschied zwischen «lithogène» und «ciment blanc» kannten, ist es ohne Laboruntersuchungen von Materialproben – sofern Teile des ursprünglichen Verputzes die schwerwiegenden Veränderungen an der Villa überdauert haben – dennoch nicht möglich, mit Sicherheit festzustellen, welcher Putz bei der Villa Besnus schliesslich verwendet wurde.[10] In seinem Brief gibt Summer an, dass der Putz nach dem Auftrag mit Schleifmitteln bearbeitet werden sollte, um so die Oberfläche einzuebnen. Gemäss der Terminologie der Quellen und der damaligen Handbücher hatten die Fassaden der Villa Besnus eine zwar geebnete, aber keine perfekt polierte Oberfläche. Deshalb soll hier nochmals auf das von Le Corbusier angestrebte Ziel hingewiesen werden, vollständig geglättete Fassaden zu erhalten («Les façades seront absolument lisses»).[11] Vermutlich wurde entgegen der ursprünglichen Planung ein geschliffener «ciment blanc» realisiert. Die Tatsache, dass die Entscheidung dafür erst während der laufenden Bauarbeiten getroffen wurde, zeigt die Unsicherheit Le Corbusiers hinsichtlich des Einsatzes geeigneter Materialien. Die Suche nach einem witterungsbeständigen Putz, die aus einem Dokument von 1923 hervorgeht, resultierte in diesem Fall auch aus der ästhetischen Suche nach Fassaden, die nur von einer Tropfkante begrenzt sind.[12]

«Clair et gris» – Die Putzfassade des Ateliers Ozenfant

Im selben Zeitraum, in dem Summer die Tragkonstruktion der Villa Besnus errichtete, begann die Entreprise Générale Pierre Vié mit dem Bau des Ateliers Ozenfant (Abb. 10). Wie zuvor schon bei der Villa Besnus, so sah auch der zeitgleich ausgearbeitete Kostenvoranschlag für das Atelier Ozenfant einen Aussenputz «au lithogène» vor.[13] Im März 1924 wurden auf der Baustelle Materialproben bereitgestellt, um über die Farbigkeit des Putzes zu entscheiden («décider couleur ciment d’enduit»).[14] Dieses Schreiben ist von grosser Bedeutung für die Rekonstruktion der Oberflächenbehandlung und Farbgebung der Fassaden des Ateliers. Anstelle des im April 1923 vorgesehenen «lithogène» war ein Putz mit Zement als Bindemittel Basis der Proben. Wenn es sich hier nicht um die weitverbreitete terminologische Verwechslung von «plâtre-pierre» und «ciment blanc» handelte, dann ist es offensichtlich, dass sich Le Corbusier beim Atelier Ozenfant – wie auch bei der Villa Besnus – für einen widerstandsfähigeren Putz mit Zement als Bindemittel entschied.

Die Anfang März 1924 angemischten Materialproben zeigten, je nach Zement, eine grosse farbliche Bandbreite. Le Corbusier entschied sich letztlich für die Probe Nummer eins («le plus clair et le plus gris»).[15] Diese Beschreibung ist typisch für reinen Portlandzementputz («ciment blanc») und entsprach wahrscheinlich auch dem Farbton der fertigen Fassaden des Ateliers Ozenfant. Es liegen keine Quellen vor, die einen Endanstrich des Putzes belegen. Auch im Kostenvoranschlag wurde unter dem Posten Malerarbeiten kein Fassadenanstrich aufgelistet. Nur für die Brandmauer zum anschliessenden Grundstück Braque war ein Anstrich mit Kalkmörtel («enduit mortier chaux») vorgesehen.

Ein auf den Dezember 1925 datierter, nicht unterzeichneter Brief Le Corbusiers an Ozenfant enthält weitere Hinweise sowohl für die Bestimmung der Endbehandlung des Putzes (die ohne Anstrich mit Pariser Ölfarbe ausgeführt wurde) als auch bezüglich der konstruktiven Schwierigkeiten, die der Realisierung einer Oberfläche ohne Schmutz- oder Feuchtigkeitsflecken entgegenstanden.[16] Vermutlich wurde zu einer Ölfarbe geraten, um eine wasserabweisende, leicht zu säubernde Oberfläche zu schaffen. Der Auftrag schützender Farbschichten war üblich, es wurden dazu jedoch gewöhnlich silikatische Farben verwendet.

Auf der Suche nach einer Putzfassade ohne Farbauftrag: hôtels particuliers La Roche und Jeanneret Die beiden zwischen 1923 und 1924 realisierten Häuser stellten für Le Corbusier einen weiteren entscheidenden Schritt in Hinblick auf die bautechnische Umsetzung seiner Fassaden dar. Von den in Auteuil bei Paris realisierten Bauten gehörte eines dem Bankier Raoul La Roche, das andere Le Corbusiers Bruder, Albert Jeanneret. Mit der Ausführung der Bauarbeiten wurde Summer betraut. Für die Malerarbeiten wandte sich Le Corbusier an Célio, mit dem er bis in die 1930er-Jahre zusammenarbeitete.

Die erste wichtige Quelle, die Hinweise auf die Oberflächenbeschaffenheit der Fassaden gibt, ist Summers Kostenvoranschlag vom August 1923 für das Haus Jeanneret.[17] Zu diesem Zeitpunkt war für alle Fassaden ein Portlandzementputz («enduit ciment blanc») geplant. Ausserdem war ein Sockelputz aus Zement («soubassement en ciment») vorgesehen. Während Le Corbusier bei der Villa Besnus und beim Atelier Ozenfant im April 1923 zunächst die Verwendung eines «lithogène» geplant hatte, zog er für dieses Projekt also von Beginn an einen Verputz mit Portlandzement in Erwägung. Zudem beschloss man aus Kostengründen, diese Putzart nur für die beiden Hauptfassaden zu verwenden. Die Brandmauer sollte dagegen einen Kalkputz («enduit à la chaux») erhalten. Die Lösung mit den bedeutendsten Auswirkungen betrifft die beiden zum Garten orientierten Fassaden. Dort sollten die Betonelemente der Ausfachungen und des Tragwerks sichtbar belassen werden. Eine ähnliche Wand realisierte Le Corbusier später auf der Rückseite des Schweizer Pavillons für die internationale Kunstgewerbeausstellung in Paris (1925). Das Haus Jeanneret erhielt damit drei unterschiedliche Fassadenoberflächen, die mit Bezug auf die Ausrichtung des Hauses hierarchisch geordnet waren. Eine weitere bedeutsame Veränderung geht aus Quellen vom Herbst 1923 hervor, als La Roche bereits beschlossen hatte, sein Haus direkt angrenzend an das von Jeanneret zu bauen. Im gleichen Zeitraum wurden die Ausschreibungen für die beiden Häuser ausgearbeitet, anhand deren es möglich ist, die Entscheidungen hinsichtlich der Fassadenausbildungen nachzuvollziehen.[18] Zu diesem Zeitpunkt stellte Le Corbusier die Beschaffenheit der Oberflächen erneut infrage. Die Hauptfassaden der beiden Häuser sollten nunmehr in «lithogène» verputzt werden, um eine einheitliche Optik des Gebäudekomplexes zu erreichen. Während bei der Villa Besnus vermutlich der Auftrag des Portlandzementputzes («ciment blanc») fertiggestellt wurde, hoffte Le Corbusier also bei den Hauptfassaden der Villen den Putz verwenden zu können, der aufgrund der hohen Kosten in Vaucresson nicht zum Einsatz gekommen war. Aus Kostengründen entschied man jedoch auch hier, für die übrigen Fassaden unterschiedliche Materialien zu verwenden. Für das Haus Jeanneret wählte Le Corbusier den ursprünglich auch für die Fassaden der Villa Besnus vorgesehenen, preisgünstigen geglätteten Kalkputz («chaux lissée au bouclier»). In der betreffenden Ausschreibung ist ausserdem erstmals von einem Anstrich mit Kalkmilch («peinture au lait de chaux»)[19] die Rede. Le Corbusier hatte Kalkmilch bereits zur Behandlung des Putzes der Villen in La Chaux-de-Fonds und Le Locle verwendet. Die «Farbe», die später so symbolhaften Charakter für die neue Architektur erhielt, wurde also im Oktober 1923 das erste Mal erwähnt. Die Tatsache, dass ein Farbanstrich in beiden Ausschreibungen nur für die mit Kalk und Zement verputzten Oberflächen aufgeführt ist, belegt, dass der widerstandsfähige «lithogène» sichtbar bleiben und jenen Farbton aufweisen sollte, der sich aus der Mischung ergab. Im Gegensatz dazu sollte der preisgünstigere, aber ebenfalls widerstandsfähige Zement- bzw. Kalkputz aufgrund seiner grauen Farbe oder aus Gründen der Wetterfestigkeit gestrichen werden. Le Corbusier variierte die Farbgebung des Hauses in diesem Stadium also je nach Putzart.

Im Fall des Hauses La Roche plante Le Corbusier – im Vertrauen auf die finanziellen Möglichkeiten des Bauherrn – zunächst, alle Fassaden mit «lithogène» zu verputzen. Nur für die Brandmauern war ein Zementputz geplant, der ebenfalls mit Kalkmilch gestrichen werden sollte.[20] Diese Lösung wurde vorerst beibehalten, bis Le Corbusier im Januar 1924 beschloss, den «lithogène» lediglich für die Hauptfassade zu verwenden und die zum Garten orientierten Fassaden ebenso wie die Brandmauer mit Zementputz und Kalkmilchanstrich zu versehen. Sowohl das Haus Jeanneret als auch das Haus La Roche sollten also zwei verschiedene Arten von Fassadenoberflächen aufweisen: Einem «lithogène» auf der Hauptfassade steht dabei jeweils ein Putz auf Kalk- (Jeanneret) bzw. Zementbasis (La Roche) auf der zum Garten hin orientierten Fassade gegenüber, der jeweils durch einen Anstrich auf Basis von Kalkmilch eine einheitliche Optik erhält. Für den «lithogène» ist auch zu diesem Zeitpunkt kein Farbanstrich vorgesehen. Die Bauarbeiten zu den beiden Häusern begannen im März 1924.

Zwischen Januar 1924 (letzte Quellenangaben zur Fassadendetaillierung) und Sommer 1924 (als die Putze vermutlich schon aufgetragen waren) fiel auch die Entscheidung, den für die Hauptfassaden geplanten «lithogène» durch einen Gipsputz, dem Kalk beigemischt ist («cimentaline»), zu ersetzen. Er gehörte wie der «lithogène» zu den dauerhaften Kalkgipsputzen («plâtre-pierre»), war jedoch preisgünstiger, aber auch weniger witterungsbeständig (vgl. S. 20).[21]

Die Änderung hatte keine grösseren Auswirkungen hinsichtlich der Oberflächenbeschaffenheit der Fassaden, denn auch der «cimentaline» konnte ohne zusätzliche Farbschicht verarbeitet werden. Es ist daher wahrscheinlich, dass auch dieser Putz sichtbar belassen werden sollte. Wie beim «lithogène» fehlt jeglicher Hinweis auf ein Abschleifen der Oberfläche. Ende August 1924 beschloss man erneut eine Änderung für die Hauptfassaden der Häuser La Roche und Jeanneret: Während eines Besuchs auf der Baustelle teilte Le Corbusier dem Bauleiter in Abwesenheit Summers mit, er wolle statt des «cimentaline» den gleichen Putz verwenden, der auch bei der Villa Besnus eingesetzt worden war, einen geschliffenen Portlandzementputz («enduit ciment blanc égrisé»).[22] Vermutlich wurde diese Entscheidung aufgrund der geringeren Witterungsbeständigkeit des «cimentaline» getroffen. Le Corbusier wandte sich daher einem Putz auf Basis von Zement statt Gips zu. Dabei zog er diejenigen Putze vor, bei denen als Bindemittel ein möglichst heller Zement zum Einsatz kam, der einen Anstrich mit Kalkmilch überflüssig machte. Summer widersetzte sich – ausschliesslich aus finanziellen Gründen – dem Vorschlag Le Corbusiers. In seinem Schreiben bestätigte Summer zudem, dass bei der Verarbeitung des «cimentaline» keine Endbehandlung durch Schleifen geplant war, obwohl dies damals eine gängige Verfahrensweise darstellte. Kosten- und Termindruck zwangen Le Corbusier, bei den Hauptfassaden der beiden Villen also erneut auf einen «cimentaline» umzuschwenken. Für die Sockel der beiden Gebäude wurde möglicherweise ein Zementputz verwendet, der feuchtigkeitsbeständiger war.

Putz als Konstruktives Element

Im Rahmen der Konferenz «L’Esprit Nouveau en Architecture», die Le Corbusier 1924 zweimal (am 12. Juni und am 10. November) in Paris abgehalten hat, erörterte er die ästhetischen und technischen Auswirkungen des Weglassens von Gesimsen bei Putzfassaden und erwähnte dabei einige Details, die aufzeigten, welche Probleme bei seinen Putzen ohne Farbauftrag bestanden. Bei all seinen Bauwerken – von der Villa Besnus über das Atelier Ozenfant bis hin zu den Häusern Jeanneret und La Roche – kam also der Frage der Beschaffenheit und Farbe des sichtbar zu belassenden Putzes eine grosse Bedeutung zu. Le Corbusier hatte zudem schon 1923 die Ausstellung der Gruppe De Stijl in Paris gesehen, bei der das Thema der Farbe – auch der Farbe «Weiss» – für die Fassadengestaltung eine wichtige Rolle spielte. Dennoch zog Le Corbusier für seine Fassaden auch 1924 einen reinen Weisston nicht in Erwägung. Reines Weiss verwendete er lediglich für zweitrangige Fassaden. Die Experimente mit unterschiedlichen Putzen – von der Villa in Vaucresson bis hin zu den Häusern La Roche und Jeanneret – waren dabei nur der Anfang der Suche nach einer geeigneten bautechnischen Umsetzung der Fassadengestaltung. Bei ihren späteren Meisterwerken führten Le Corbusier und Jeanneret diese Versuche weiter. Für die Fassaden der Villa Stein-de-Monzie in Garches (1926) verwendeten sie einen Steinputz («ciment-pierre»), bei der Villa Savoye (1929) kam ein als «Jurassite» bezeichneter Putz – eine Schweizer Variante des «ciment-pierre», bei der dem Zement Jurakalk beigemischt war – zum Einsatz. Damit weicht auch bei den bekannteren architektonischen Werken Le Corbusiers aus den 1920er-Jahren der tatsächliche Farbton der Fassaden merklich von dem Eindruck auf den historischen Schwarz-Weiss-Fotografien ab. Ihre tatsächliche, durch die Eigenfarbe der Putze, Bindemittel und Zuschläge bestimmte Tönung muss vor diesem Hintergrund neu betrachtet werden.


Anmerkungen:
(Dokumente mit einer FLC-Signatur sind unveröffentlichte Quellen aus der Foundation Le Corbusier in Paris.)
[01] Vgl. auch Timothy J. Benton, Le Corbusiers Pariser Villen aus den Jahren 1920 bis 1930, Stuttgart, 1984, Seite 44, 45
[02,3] Entreprise Générale G.-L. Meyer & Cie: «devis», datiert auf den 7. März 1922, FLC, I1.7.1–8
[04] Bei den Bauten in La Chaux-de-Fonds (Villen Fallet [1906–1907], Stotzer und Jacquemet, [beide 1907–1908]) wurde der Putz mit einer Kelle angeworfen, um eine formale Übereinstimmung mit dem Bossenwerk herzustellen. Bei der Maison Citrohan dagegen war die Struktur Ergebnis eines Arbeitsvorganges und hatte daher eine andere Bedeutung
[05] Le Corbusier und P. Jeanneret: «Propriété de Monsieur G. Besnus à Vaucresson. Note descriptive des travaux de toutes natures pour la construction d’une maison à Vaucresson, maschinengeschrieben», o.D. (circa Februar 1923), FLC, H1.9.81–84
[06] Historische Aufnahme der Villa, veröffentlicht in W. Boesiger, O. Stonorov (Hg.): Le Corbusier et Pierre Jeanneret Œuvre Complète 1910–1929, Les Éditions d’Architecture (Artemis), Zürich 1930, S. 49
[07] «Lithogène» wurde von der französischen Bauindustrie zu Beginn der 1920er-Jahre häufig verwendet, da er dauerhafter als Gipsputz war
[08] Im Kommentar zum Entwurf von Jean Badovici in L’Architecture Vivante wird «lithogène» als eine Putzart beschrieben, die aus «plâtre d’albâtre et poussière de pierres» besteht. ([J. Badovici]: Petit Hôtel particulier, à Paris rue Nansouty, par A. et G. Perret, in L’Architecture Vivante, Frühlingsausgabe, 1924, S. 15, Fussnote 1)
[09] G. Summer: Brief an Le Corbusier, 27. August 1924, FLC, H1.3.96
[10] Im Sprachgebrauch der damaligen Zeit herrscht bezüglich der Fachbegriffe eine ziemliche Verwirrung: Der «plâtre-pierre» – der «plâtre aluné» enthielt, im Aussehen dem «ciment-pierre» ähnelte und zu dem auch der «lithogène» gehörte – wurde von den Herstellern fälschlicherweise ebenfalls «ciment blanc» genannt. Sie machten sich den Umstand zunutze, dass der «plâtre aluné» auch unter dem
Namen «ciment anglais» bekannt war, um ihren Kunden zu suggerieren, sie würden ein so widerstandsfähiges Produkt wie den «ciment blanc» erstehen. Siehe auch: G.Debès: «Maçonneries béton, béton armé, chaux et ciments – mortiers, Pierre Naturelles et Artificielles, Plâtre, Goudron et Bitume», in: Encyclopédie industrielle et commerciale, M. Léon Eyrolles, Paris, 1931, S. 553–580
[11] Le Corbusier, P. Jeanneret: Propriété de Monsieur Besnus à Vaucresson, Beschreibung, maschinengeschrieben mit handschriftlichen Kommentaren, o.D. (nach April 1923), FLC, H1.9.90
[12] «Contrat, entre les Soussignés Monsieur Besnus […] et Monsieur Summer […]», 23. April 1923, FLC, H1.9.43–46
[13] P. Vié: Brief an Le Corbusier, 10. April 1923, FLC, H1.7.71–72
[14] A. Ozenfant: handgeschriebener Brief an Le Corbusier, 6. März 1924, FLC, H1.7.54
[15] Le Corbusier: Kommentare in A. Ozenfant, Brief an Le Corbusier, 6. März 1924, FLC, H1.7.54
[16] (Le Corbusier): Brief an A. Ozenfant, 22. Dezember 1925, FLC, H1.7.171
[17] G. Summer, «devis de maçonnérie pour l’exécution d’un petit hôtel pour monsieur Jeanneret à
Auteuil», datiert auf den 1. August 1923, FLC, H1.2.118–119
[18] Le Corbusier, P. Jeanneret: Cahier des charges général (hôtel La Roche), maschinengeschrieben, o.D. (Oktober 1923), FLC, P5.1.184–190; Le Corbusier, P. Jeanneret: Cahier des charges général (hôtel Jeanneret), handgeschrieben, datiert auf den 25. Oktober 1923, FLC, H1.2.14–24; Le Corbusier,
P. Jeanneret: Cahier des charges général (hôtel Jeanneret), o.D. (Oktober 1923], FLC, H1.2.25–29
[19] Le Corbusier, P. Jeanneret, «Cahier des charges général» (hôtel Jeanneret), o.D. (Oktober 1923)
[20] G. Summer: «devis», maschinengeschrieben, datiert auf den 23. Januar 1924, FLC, H1.3.70
[21] G. Summer, Brief an Le Corbusier, 27. August 1924, FLC, H1.3.96
[22] Ebd. Auch in Vaucresson war die «écrisage» erst zu einem späteren Zeitpunkt beschlossen worden

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