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Hintergrund 53
Herr und Frau Schreber
Hintergrund 53
zur Zeitschrift: Hintergrund
Herausgeber:in: Architekturzentrum Wien
Hütten und Paläste – so nennt sich ein Berliner Architekturbüro, dessen Schwerpunkt auf der „individuell zugeschnittenen Planung von Gartenlauben und Kleinarchitekturen mit ihren besonderen Anforderungen“ liegt. Sogar „Laubensprechstunden“ werden angeboten, in denen die zukünftigen Bauherren mit ihren Fragen vorstellig werden können. Die Bauaufgabe Kleingartenhaus boomt – in Österreich vor allem seit der Gesetzesnovelle von 1992, die nun bei entsprechender Flächenumwidmung das ganzjährige Wohnen auf der Kleingartenparzelle erlaubt. 20 Jahre danach zieht der vorliegende Hintergrund Bilanz und behandelt das für Wien so wichtige Thema der Kleingärten aus unterschiedlichen Positionen.

Die Geschichte der Klein- oder auch Schrebergärten beginnt 1865 in Deutschland. Sie gehen auf eine Idee des Arztes Dr. Daniel Gottlieb Moritz Schreber (1808–1861) zurück, der unter dem Eindruck der Industrialisierung Grünflächen fördern wollte, auf denen Kinder die Freuden der Gartenarbeit kennenlernen sollten. Schrebers Schwiegersohn Ernst Innozenz Hauschild (1808–1866) schuf den ersten Schreberverein in Leipzig. Die Kinderbeete erwiesen sich zwar als pädagogischer Flop, denn die Kinder ließen sich nicht nachhaltig für das gärtnerische Unternehmen begeistern – dafür aber die Eltern. Mit der Parzellierung und Umzäunung der Beete wurde der Kleingarten geboren. 1903 schwappte die Bewegung auch auf Österreich über. Julius Straußghitel plante, Parzellen von jeweils mindestens 200 Quadratmetern Größe an Arbeiter, kleine Geschäftsleute, Beamte und Angestellte zu verpachten, aber erst nach der offiziellen Vereinsgründung im Jahr 1910 („Verein Schrebergarten in Wien und Umgebung“) gelang der Abschluss eines Vertrags über die Pachtung von 110.000 Quadratmetern Grund im Rosenthal. Besaß Wien 1914 150.000 Quadratmeter Kleingartenfläche, so explodierte die Zahl nach Kriegsbeginn auf 450.000 Quadratmeter (1915). Diesen raschen Durchbruch verdankte die Idee aber nicht gesundheitsreformerischen Absichten, sondern der herrschenden Nahrungsmittelknappheit. Das Prinzip Selbstversorgung besaß auch in der Weltwirtschaftskrise, im Zweiten Weltkrieg und in der ersten Zeit danach große Aktualität. In den Fünfzigerjahren gewann allmählich wieder der Erholungsgedanke Oberhand. In der Gegenwart aber ist ganzjähriges Wohnen angesagt, eine drastische Mutation in der Geschichte der Kleingärten. Heute gibt es in Wien über 35.800 Kleingartenparzellen.

Die fragwürdigen politischen Entscheidungen in der Wiener Stadtplanung stehen im Vordergrund des Gespräches, das Elke Krasny und die Verfasserin des Vorworts mit dem Fachpublizisten Reinhard Seiß führten. Maria Auböck gibt uns einen Einblick in ihre früh beginnende Beschäftigung mit dem Wiener Kleingartenwesen, die bereits 1972 in einer umfangreichen Analyse mündete. Diese weckte zwar das Interesse der Architekten, Urbanisten und Journalisten, fand allerdings keine Resonanz bei Beamten und Vereinsmitgliedern. Thalerthaler architekten ztkg haben bereits mehrere Kleingartenhäuser errichtet und berichten aus Sicht der Architekten von der „spannenden Planungsaufgabe, die schnell einmal eine extrem schwierige Bauaufgabe wird“. Sie weisen darauf hin, dass die Infrastruktur im Kleingarten nicht für die neuen „verkleinerten Einfamilienhäuser“ mit allem erdenklichen Wohnkomfort ausgelegt ist. Isabel Termini widmet sich in ihrem Text einer Oral History über das „Garteln und (die) Gärten in der Stadt“.

In einem am Wien Museum initiierten Gesprächskreis wurde der Garten als Ort intensiver Naturerfahrung und sozialer Dichte charakterisiert. Die teilnehmenden Generationen, ausschließlich Frauen im Übrigen, haben in ihrer Kindheit den Garten als sehr arbeitsintensiven Ort erlebt. Ein kurzer Fotoessay von Isabel Termini über den Sichtschutz im Kleingarten macht den Wandel vom Erholungs- zum Wohngarten deutlich. Zum Abschluss des Thementeils geht Elke Krasny der Frage nach, welche zeitspezifischen Motive und Interessenlagen dazu führen, dass Architektur, Architekturgeschichte und Raumforschung den Schrebergarten zum Gegenstand der Forschung machen und wie sich dies an ausgewählten Forschungen und Publikationen exemplarisch darstellen lässt. Zwei Fotostrecken leiten zum Journalteil über, in dem es ebenfalls vorrangig um das Grün in der Stadt geht.

Der vorliegende Hintergrund bietet eine Melange aus Emotionalem, Praktischem, Atmosphärischem und Theoretischem – aufgelockert durch viele farbige Abbildungen. Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre!
Sonja Pisarik

04 Vorwort Herr und Frau Schreber
07 Die Entwicklung der Wiener Kleingärten als „planungspolitisches Kapitalverbrechen“? Elke Krasny und Sonja Pisarik im Gespräch mit Reinhard Seiß
19 Maria Auböck: Gartenland
27 thalerthaler architekten ztkg: Small is beautiful. Der Kleingarten – eine Bauaufgabe für ArchitektInnen
33 Isabel Termini: Vom Garten erzählen
40 Isabel Termini: Fotoessay. (K)ein Loch im Zaun – Sichtschutz im Kleingarten
42 Elke Krasny: Learning from History oder von der Notwendigkeit der Neuschreibung der Geschichte der Stadt als soziale Produktion
51 Fotodokumentation der Ausstellung „Hands-on Urbanism. 1850–2012“
56 Az W Photo Award

Az W Journal
70 Christa Müller: Raum schaffen für urbane Gärten
72 Andrea Seidling: Transdanubien. Eine Radtour
75 Andrea Seidling: Macondo – das Dorf hinter der Wand. Eine Bustour
80 Katrin Stingl: Die UNO-City. Das bekannte Hauptwerk eines wenig bekannten Architekten
84 Buchbesprechungen
86 Kurzbios Autoren und Autorinnen
87 Team Az W, Mitglieder Architecture Lounge, xlargepartner

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