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„Paul“ - adaptive textile Gebäudehüllen

1. Dezember 2004 - Markus Holzbach, Werner Sobek
Der Kokon „Paul“ befindet sich auf dem Gelände des Instituts für Leichtbau Entwerfen und Konstruieren ILEK an der Universität Stuttgart. Er ist dort im Rahmen einer Forschungsarbeit über adaptive textile Gebäudehüllen in den vergangenen vier Jahren entstanden. Paul zeigt Analogien gebauter Architektur zu lebenden Organismen auf - es handelt sich dabei weniger um eine organische Architektur, als um einen gebauten Organismus - er stellt eine gebaute Metamorphose dar. In der Natur sind solche Prozesse selbstverständlich. Gebäude der Zukunft und möglicherweise auch alle Bestandteile, die es ausmachen, können wie ein Organismus behandelt werden - daraus resultiert ganz selbstverständlich auch eine eigene Formensprache.

Es existiert das Bild einer verpuppten Schmetterlingsraupe, die im Gelände liegt. In der Dunkelheit kann man den sich im Inneren des Kokons abzeichnenden Schmetterling wahrnehmen. Paul verfügt in ästhetischer als auch physikalischer Hinsicht über nichtkonstante Eigenschaften, bzw. über die Fähigkeit zur selbsttätigen Anpassung an Umweltbedingungen.

Die oberste Hautschicht hat einen sehr geringen Grad der Konfektionierung - die Haut ist nicht tragend, sondern dient nur als Witterungschutz - dabei folgt die Faltung der biomorphen Gesamterscheinung. Insgesamt ist der Wandaufbau dem einer lebenden Haut ähnlich - sie besteht aus mehreren Schichten, die individuelle Funktionen besitzen - ein sogenanntes Multilayersystem aus verschiedenen Membran- und Funktionsschichten. Unter der obersten Wetterhaut zeichnet sich der Lichtlayer in Form eines Ader- oder Nervensystems ab. Dieses System verfügt über eine Gesamtlänge von 8 km und besteht aus Glas-Lichtleitfasern, die mit Hilfe von 1200 Lichtpunkten eine permanente Farbveränderung ermöglichen. Unter dem Lichtlayer befindet sich der Isolationslayer - eine Membran, die mit hochisolierenden Keramiken dotiert ist. Darunter liegt - als innerste Hautschicht der Speicherlayer - eine Membran, in die Phase Change Materials implementiert sind. Isolations- und Speicherlayer bauen sich aus mehr als 60.000 Zellen auf. Bei hohen Temperaturen ist die Membran weicher als bei tiefen Temperaturen. Die Gesamtdicke der Multilayerkonstruktion beträgt etwa 14 mm. Speicher- und Dämmwerte sind denen einer herkömmlichen Massivwand von etwa 15 cm Stärke vergleichbar. Auch die akustischen Eigenschaften sind gegenüber herkömmlichen Membrankonstruktionen verbessert. Im Gegensatz zu Massivbaukonstruktionen zeichnet sich der verwendete Multilayeraufbau durch einen hohen Grad der Transluzenz aus. Im Inneren von Paul ist es an sonnigen Tagen möglich, die im Wind wehenden Äste und Blätter der angrenzenden Bäume wahrzunehmen. In der Nacht dringt das Kunstlicht der zweiten Layerebene durch die Isolations- und Speicherebene ins Innere von Paul und erscheint durch die Zellstruktur als poetischer Sternenhimmel. Die Fügungen der Membran untereinander bzw. mit der Unterkonstruktion basieren auf Elementen aus der Kleidungstechnik, es handelt sich um Klett- und Reißverschlüsse - auch diese besitzen ihre Vorbilder in der Natur. Die klassischen Architekturlemente Dach und Wand sind aufgehoben - die Membranhaut beinhaltet diese. Der untere Teil der Schmetterlingspuppe besteht aus einem monolithischen Shape von etwa 8 m Länge - es handelt sich dabei um einen Glas-Kohle-Hybrid, der auf das Gelände gelegt wurde - es fand keine Fundamentgründung statt. In diese untere Schale sind Edelstahlrippen eingesteckt, die durch Glasfaserrods in Querrichtung gekoppelt sind. Paul reagiert auf wechselnde äußere Klima- und Witterungsbedingungen, z.B. hinsichtlich Temperaturhaushalt, Speichervermögen, Lichtdurchlässigkeit, Akustik und Farbeigenschaften.

Durch die Arbeit sollen technisch und ästhetisch neue Möglichkeiten des Bauens und grundlegende Anforderungen an die Funktion einer adaptiven textilen Gebäudehülle wie auch die daraus resultierenden Möglichkeiten der Formausbildung aufgezeigt werden. Ziel sind „intelligente“ Gebäudehüllen, die sich selbständig und möglicherweise nicht computergesteuert oder elektronisch inspiriert an ihre Umgebung anpassen.

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