Akteur

Santiago Calatrava
Zürich (CH)

«Zürich hat für mich persönlich den Charakter eines Klosters»

Architekt Santiago Calatrava im Gespräch

Was ist Zürich? Wie lebt es sich hier? Was ist gut, was schlecht? In der Interview-Reihe «Zürcher Gespräche» befragen wir Persönlichkeiten zu diesen Themen. An der Reihe ist Santiago Calatrava.

14. November 2015 - Peer Teuwsen, Luzi Bernet
Herr Calatrava, leben Sie in Zürich, weil Sie müssen oder weil Sie wollen?

Weil ich will.

Warum?

Das weiss ich nicht mal. Zürich ist eine Gewohnheit für mich geworden. Es ist wohl ein Konglomerat von vielem. Es ist eine Stadt, die eine innere Ruhe hat. Sie erlaubt mir auch, morgen in Athen zu sein, am Samstag in Rom und nächste Woche in Rio. Zürich hat den richtigen Massstab für mich, hier kann ich mich zurückziehen. Meine Zürcher Tage sind sehr lang, von Viertel vor sechs Uhr morgens bis spätabends – und sie sind sehr ergiebig.

Zürich ist also Ihr Kloster.

Für mich persönlich hat es den Charakter eines Klosters, wenn auch einen sehr laizistischen. Es ist harmonisch, familiär und anonym. Hier kennt mich keiner. Ich bewege mich in einem kleinen Kreis: zwischen dem Seefeld, wo ich wohne, und der Enge, wo ich arbeite.

Ist Zürich für Sie denn eine Stadt?

Natürlich, Zürich ist nicht so eine periphere Einöde, die vom Zentrum diktatorisch bestimmt wird, es gibt kleine Städte in der Stadt wie etwa Oerlikon oder Neuaffoltern. Da ist Zürich mit Paris vergleichbar. Das ist eine grosse Qualität. Ich mache das meiste zu Fuss oder mit dem Tram.

Sie haben keinen Führerschein?

Genau, ich brauche ja keinen.

Ist Zürich für Sie architektonisch interessant?

Ja, Zürich hatte die Kraft, sich aus einer mittelalterlichen Stadt mittels zweier aussermassstäblicher Bauten in die Moderne zu katapultieren, der ETH und des Hauptbahnhofs. Und Zürich ist eine sehr grüne Stadt, auch wenn es nicht unbedingt Parks sind. Es gibt zwei Lungen, den Zürichberg und den Üetliberg.

Architektonisch passiert aber in der Innenstadt nicht mehr viel.

Zum Glück! Es gab Pläne, etwa von Carl Moser, die Innenstadt zu sanieren, also zu zerstören – Gott sei Dank wurden die nie realisiert. Jetzt hat Zürich eine Altstadt, die voll Leben ist. Das ist vorbildlich. Denken Sie an den Rennweg oder den Neumarkt. Was für eine Qualität!

Die Innenstadt Zürichs muss also so bleiben, wie sie ist?

Ich bin da einfach vorsichtig. Die ETH und der Hauptbahnhof sind Bauten, die sehr bewusst konzipiert wurden, sie sind im besten Sinne sinnvoll.

Was halten Sie vom Prime Tower?

Das ist für mich eine schwierige Frage, ich bin kein Architekturkritiker.

Sie wollen uns ernsthaft sagen, Sie hätten keine Meinung?

Na gut. Ich denke, eine Skyline kann in New York oder in Chicago leben, dort ist sie sinnvoll, schon in Frankfurt finde ich sie fragwürdig. Die Skyline gehört zu Amerika so wie die Paella zu Valencia.

Sie wollten uns nun eigentlich erklären, dass Sie mit einem Prime Tower nichts anfangen können.

Ich wollte nur kontextualisieren.

Würden Sie denn generell sagen, Zürich sei keine Stadt für Hochhäuser?

Es ist möglich, vertikal zu bauen, denken Sie an Bologna oder San Gimigniano. Aber man muss sich immer die Frage der Notwendigkeit stellen. Wir haben immer noch eine Wohnung im Marais in Paris. Wir sehen von dort auch, neben all dem Wunderschönen wie etwa Saint-Paul oder dem Arc de Triomphe, den Tour Montparnasse. Ehrlich, so etwas kann einfach nicht mithalten mit dem Rest. Das ist eine vertikale Kiste.

Welches moderne Gebäude gefällt Ihnen denn in Zürich?

Das Omega-Haus (heute Les Ambassadeurs) an der Bahnhofstrasse, super modern, aber optimal in den Kontext eingebettet. Jedes Mal, wenn ich dort vorbeigehe, ziehe ich meinen Hut: «Merci, Monsieur l'architecte!» Nebenan steht das Bally-Haus, von einem Sohn Mosers gebaut. Interessant. Aber vergleichen Sie mal diese beiden Bauten. Das sind Welten.

Würde man Sie machen lassen, was würden Sie in Zürich bauen?

Grundsätzlich finde ich den Ansatz, einen Architekten einfach mal machen zu lassen . . .

. . . schon mal nicht gut.

Genau. Und ich erkläre Ihnen auch warum. Ich kenne kein gutes Gebäude ohne einen guten Bauherrn. Ich bin da wie Phainarete, die Mutter des Sokrates, sie arbeitete auch als Hebamme. Ich helfe dabei, gute Ideen zu gebären. So entstand der Bahnhof Stadelhofen, etwas Funktionales, aber auch Schönes. Da hatte ich mit den SBB einen Bauherrn, der den Willen hatte, etwas Anständiges hinzukriegen. Etwas zu bauen, ist leider meistens eine verpasste Chance, etwas Gutes zu bauen.

Sie haben also auch schlechte Sachen gebaut, unter anderem, weil Sie keinen guten Bauherrn hatten.

Ich habe mit aller Kraft versucht, nichts Schlechtes zu bauen. Ich habe auch mal Nein gesagt. 90 Prozent der Sachen, die ich gebaut habe, gingen aus Wettbewerben hervor, meist öffentliche Bauten. Reinen Spekulationsbau habe ich ganz selten betrieben, und wenn, dann ging es meist schief. Etwa für einen Kunden in Oviedo, mit dem ich das Kongresszentrum gebaut habe. Er hatte vor, ein zweites Projekt mit uns zu bauen. Es fing an mit einem Kulturzentrum, dann wollte er noch ein Einkaufszentrum dazu, weil er es irgendwie finanzieren musste, dann verschwand die Kultur. Heute stehen dort ein Einkaufszentrum, ein Parkhaus und Wohnungen. Bevor es zu weit ging, bin ich ausgestiegen.

Die meisten Wettbewerbe, an denen man teilnimmt, verliert man, sogar Sie.

Richtig.

Haben Sie auch mal in Zürich verloren?

Hier habe ich nur an sehr wenigen Wettbewerben teilgenommen. Verloren habe ich nur einmal, bei der Neugestaltung der Sechseläutenwiese. Mein Vorschlag war demjenigen ähnlich, der jetzt umgesetzt wurde. Ich aber wollte die Wiese belassen, weil ich es rührend fand, dass hier während des Zweiten Weltkriegs ein Kartoffelacker war. Aber so wie es jetzt ist, ist es gut.

Mit dem kleinen Unterschied, dass die Wiese weg ist.

Ja, das ist schade. Einen anderen Wettbewerb habe ich an der Hagenholzstrasse verloren, da wollte ich in dieses Quartier Qualität bringen, die Strasse beleben, die Menschen in Bewegung bringen, kurz: Ich wollte, dass man dort vom Rennweg lernt.

Bauen Sie lieber für private oder für öffentliche Bauherren?

Ich baue fast ausschliesslich für öffentliche Bauherren. Aber es ist natürlich einfacher, für private zu arbeiten, weil es weniger bürokratisch ist.

Ist es noch möglich, in Demokratien grosse Würfe zu realisieren?

Ich habe es ja bewiesen, in Autokratien habe ich noch nie gebaut.

Ihr grösstes Bauvorhaben findet gerade in Doha statt. Sie realisieren dort neue Umgehungsstrassen, mit Brücken und Tunneln, deren Kosten auf sieben Milliarden Dollar geschätzt werden. Ist das keine Autokratie?

Ich baue dort im Auftrag der Stadtbehörde. Ich bin ein Bewunderer der islamischen Kultur, als Spanier weiss ich, wovon ich spreche, diese Kultur ist eine fundamental wichtige Vermittlerin zwischen den westlichen und den östlichen Kulturen. Katar hat in den vergangenen 20 Jahren eine aussergewöhnliche Entwicklung gemacht: Es hat sich der Welt geöffnet und den Reichtum im Land gleichmässiger verteilt. Für uns ist es deshalb eine Ehre, zu dieser Entwicklung beitragen zu können. Ich bin auch stolz, dass mein Sohn Micael, der dieses Projekt in Doha leitet, Arabist geworden ist. Das ist für mich ein Glücksfall.

Es braucht ein gesundes Selbstbewusstsein, etwas hinzustellen, das einen bei weitem überlebt.

Dieses Selbstbewusstsein sollten wir bei allem haben, was wir bauen. Bauwerke sind unser Nachlass an die nächsten Generationen. Hinter mir steht ein Kachelofen aus dem Jahre 1692, wunderschön. Wenn ich einen Bahnhof oder eine Brücke baue, denke ich zuerst an den Fussgänger oder den Autofahrer, also an die Menschen, die es benützen werden. Dem Beruf des Architekten wohnt etwas Philanthropisches inne. Meine Bauten müssen den Menschen dienen, nicht mir.

Dann muss es ja für Sie grauenhaft sein, wenn Sie in Venedig eine Brücke bauen, und die ist so glitschig, dass Menschen beim Begehen Ihres Bauwerks ausrutschen oder sich die Beine brechen.

Venedig ist Venedig, da gibt es Regeln, die nicht ich aufgestellt habe. Ich musste diese Brücke steiler bauen, als ich wollte. Ausserdem sind alle Brücken in Venedig bei schlechtem Wetter glitschig. Von gebrochenen Beinen habe ich nie etwas gehört.

Trotzdem fällt in unserer Mediengesellschaft am Ende alles auf den Stararchitekten zurück.

Richtig, ich bin exponiert, das gehört dazu. Architekt kommt ja aus dem Griechischen und heisst «der erste Arbeiter», ich habe also Autorität, weil ich die Verantwortung trage.

Sie bauen moderne Gebäude mit viel Beton. Selbst leben und arbeiten Sie aber in historischen Villen. Ist das kein Widerspruch?

Nein, ich fühle mich einfach wohl so. Und diese Gebäude lehren mich viel: die Kunst der Massstäblichkeit, den Umgang mit Raum, die Wichtigkeit der Details.

Warum gibt es so viele moderne Gebäude, die nur hässlich und nicht menschengerecht sind?

Es gibt auch in Zürich viele Gebäude, die keine Handschrift eines Architekten tragen. Trotzdem sind sie gut. Schauen Sie Barcelona, Madrid, Paris an, da gibt es wunderschöne Baumeister-Häuser. Da gab es Qualitätskriterien. Heute scheint mir, es sei vor allem wichtig, dass ein Haus minergiemässig perfekt ist oder dass es eine Brüstung hat, die allen Sicherheitsnormen entspricht. Leider sieht dann ein Kind die Strasse nicht – weil kein Loch in der Brüstung ist. Man baut heute enorm technokratisch und trendig, daran sind auch die Ausbildungsstätten schuld. Ich finde das traurig. Pluralität heisst doch Diversität.

Warum kommt das meiste, was neu gebaut wird, in solchen Kisten mit grossen Fenstern daher, diese Gigon-Guyer-Kopien?

Meine Meinung soll in diesem Gespräch recht allgemein bleiben.

Das haben wir schon verstanden.

Es war nicht immer so in der Schweiz. Es gibt wunderschöne Siedlungen aus den sechziger Jahren. Wenn ich an Schweizer Architektur denke, denke ich an die Bauernhäuser. Als junger Student war ich mal in Konolfingen eingeladen. Diese roten Dächer, das Stöckli, perfekte Proportionen. Phantastisch! Nach diesen Zeiten sehne ich mich zurück, nach dem harmonischen Bauen, wo der Mensch im Vordergrund steht und die Kleider der Menschen und die Häuser sich gleichen. Das ist keine Utopie, das gab es einmal!

Dahin können wir nicht mehr zurück.

Nein, aber wir könnten immerhin merken, dass das, was wir machen, nicht so anspruchsvoll ist.

Nochmals: Warum bauen wir so – wenn wir doch anders könnten?

Weil wir Häuser heute als eine spekulative Investition betrachten. Wir stecken da fünf Millionen Franken rein, und dieses Geld soll in fünf Jahren amortisiert sein. Gedanken an Dauerhaftigkeit, Nachlass, Harmonie, wie ich sie vorhin formuliert habe, macht man sich keine. Und es gibt einen immensen Druck der Industrie, die immer dieselben Bauteile verkaufen will. Warum haben wir eigentlich überall dieselben Fenster? Das Zürcher Universitätsgebäude hat mindestens 40 verschiedene Fenster, das drückt Offenheit und Diversität aus. Wir haben auch den Sinn für das Ornamentale verloren, die Architektur als Träger von anderen Botschaften. Und so sind es am Ende uniforme Häuser, was natürlich den Menschen nicht entspricht. Oder meinen Sie, die Menschen würden akzeptieren, alle dieselben Kleider zu tragen? Das gibt es nur im Krieg.

Haben Sie manchmal gezweifelt an dem, was Sie tun?

Ich zweifle ständig an mir selbst. Deshalb arbeite ich hart, ich mache Tausende von Skizzen. Es muss eine Lösung gefunden werden.

Haben Sie einmal etwas gebaut, das Sie für fertig halten?

Nein. Es ist für mich eine Qual, ein Bauwerk von mir zu eröffnen. Ich sehe dann nur, was ich besser hätte machen können. Aber Bauten sind schliesslich und endlich das Produkt von vielen. Die Arbeiter, die Ingenieure, alle sie sind wichtig.

Sie müssen also auch Kompromisse machen.

Ich mag den amerikanischen Ausdruck «value engineering» besser. Man steht also vor einem reifen Projekt und bespricht gemeinsam, wie man es nun zehn bis zwanzig Prozent billiger machen kann. Aus solchen Zwängen entstehen bessere Bauten. Ein Beispiel: Einen Bahnhof am Ground Zero kann ich nicht alleine stemmen. Und da sind die Amerikaner einfach toll, die ziehen so etwas gemeinsam durch, sie haben Kraft.

Dieser Bahnhof wird am Ende vier statt zwei Milliarden Dollar kosten, vor allem wegen zusätzlicher Sicherheitskosten. Aber Sie mussten auf bewegbare Flügel verzichten.

Stimmt, wir mussten sparen – eben ein «value engineering» machen. Und da fragte ich mich: Was ist mein Ziel? Ich will ein Stück des Himmels von New York zeigen – so wie beim Pantheon in Rom. Wenn wir diese Öffnung auch auf eine andere Art als mit Flügeln machen können, bin ich zufrieden. Dadurch haben wir viel Geld gespart. Jetzt können wir die Fenster auf eine Länge von fast hundert Metern und einer Breite von fünf Metern öffnen. Das werden wir am 11. September machen, zur Zeit dieser Tragödie. Die Fenster werden offen sein, egal ob es regnet und gewittert. Das Gefühl der Geborgenheit soll verloren sein.

Der Bahnhof soll nun nächstes Jahr eröffnet werden.

Darüber darf ich nicht sprechen: «Only the governor can say this.» Aber ich vermute es doch stark.

Angenommen, Sie dürften nur in New York oder in Zürich leben, für welche Stadt würden Sie sich entscheiden?

Interessante Frage. Mein Zuhause ist dort, wo meine Familie lebt. Und das ist New York, eine Stadt, die jungen Menschen enorme Hoffnung gibt. Aber ich liebe Zürich. Schwierige Entscheidung.

Dann fragen wir halt anders: Wo wollen Sie begraben werden?

In St. Moritz in der Nähe des Suvretta gibt es einen kleinen Friedhof. Der hat eine phantastische Aussicht.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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