Akteur

Harry Glück
* 1925 Wien 2016 Wien

Glück für alle

Bisweilen grenzen die brutalen Wohnsilos der Menschen an die Massenhaltung von Tieren. Die Wohnbauten von Harry Glück indes waren und sind ein seltenes Beispiel für schönes Wohnen in der Menge.

22. Juli 2006 - Wojciech Czaja
Das Wort „Massenwohnbau“ mag er nicht besonders. Er spricht lieber vom „Wohnen für die große Zahl“. Unter dieser Prämisse hat Harry Glück vor 30 Jahren die Wohnhausanlage in Alt Erlaa hochgezogen. Ein Wahrzeichen der etwas besseren 70er-Jahre. Von der Architektenschaft wird er seitdem für seine pauschale, massenabfertigende Architekturauffassung abqualifiziert, die Bewohner indes suhlen sich im grünen Glück ihrer rundumblickenden Wohnungen. „Alt Erlaa ist das Konzept meiner Bauten, weil es mein bisher größtes Projekt ist“, erklärt der Architekt, „aber die Prinzipien sind an vielen kleineren Bauten genauso gut ablesbar.“

Architektenkenner werden in seinen Wohntürmen die „Ville Radieuse“ von Le Corbusier wiedererkennen. Auch dieser verfolgte in seiner Vision das Bild einer vertikalen Stadt, um zwischen den Häusern mehr Grün übrig zu lassen. Glück: „Natürlich gibt es da eine Verbindung. Aber es ist ja auch keine Schande, sich an Le Corbusier ein Beispiel zu nehmen.“ Architekt Harry Glück im Gespräch über das Wohnglück und die Zufriedenheit vom Urwald auf der Terrasse und vom Wasser auf dem Dach.

STANDARD: Es gibt kaum ein Foto von Ihnen ohne Hund.
Harry Glück: Meine Hunde haben mir immer schon große Freude bereitet. Der einzige Kummer, den sie bieten, ist der Umstand, dass sie nicht sehr lange leben. Der Hund ist eine Verbindung zur Natur. Ich weiß nicht, ob das jeder versteht - aber ich empfinde es so.

STANDARD: Aktuellen Studien zufolge gelten die Terrassenhäuser in Alt Erlaa nach wie vor als hoch geschätzt und gepriesen. Das hat sich nach 30 Jahren nicht geändert. Das Geheimnis Ihres Erfolges?
Glück: Vor über hundert Jahren hat sich ein gewisser Carl Hagenbeck in Hamburg ein Patent darauf geben lassen, Tiere in ihrer artgerechten Umwelt zu zeigen. Wir bauen heute für unsere Hühner und Kühe artgerechte Ställe und Ausläufe, damit sie glücklich sind. Doch es ist noch niemand auf den Gedanken gekommen nachzuforschen, was zu machen ist, um die Menschen glücklich zu machen. Die längste Zeit der Geschichte konnten sich nur die durch Besitz und Macht Privilegierten eine artgerechte Wohnform verschaffen. Meine Ambition war es, diese Vorteile auch für die große Zahl zu ermöglichen. Das sind eigentlich die grundlegenden Prinzipien der Aufklärung.

STANDARD: Sie wenden in Ihren Bauten grundlegende Parameter der Reichen an. Wie lauten die?
Glück: Sie können heute mit der Business-Class nach Bali fliegen. Sie können das Gleiche auch in der Touristenklasse machen. Herr Meinl segelt mit unserem Finanzminister auf einer privaten Yacht durch das Mittelmeer, weniger Privilegierte können das Gleiche auf einem Urlaubsschiff machen. Der Unterschied zwischen oben und unten ist graduell geworden. Auf dem Gebiet des Wohnens allerdings sind die Unterschiede nicht graduell, sondern grundsätzlich. Die Grundsätze der Reichen sind ganz einfach: Naturnähe, Verlangen nach Nähe und Erreichbarkeit klaren Wassers, Verlangen nach freier Aussicht und die Möglichkeit zur Kommunikation. Der Mensch ist ein soziales Wesen, gestraft wird er mit Einzelhaft. Der Mensch kann sich nur als Gruppe sein Überleben sichern - es konnte einer allein ja kein Mammutschnitzel erlegen. All diese Elemente gibt es in den Wohnformen der Reichen und Mächtigen. In meinen Wohnbauten versuche ich, so viel wie möglich von diesen Parametern einfließen zu lassen.

STANDARD: Anderen Großbauten in Wien ist diese hohe Wohnqualität in diesem Ausmaß nicht beschert.
Glück: Das ist eine Frage von Ambitionen. Der heutige Wohnbau ist gesellschaftspolitisch zu wenig ambitioniert! Meine Bauten hingegen definieren sich nicht über die Fassaden, sondern über die Angebote und Nutzungsmöglichkeiten. Ich folge dem Modell der englischen Sozialisten des 19. Jahrhunderts: das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl. Meine Bauten sind eingebettet in Grün, sind behindertengerecht und für Nichtbehinderte bequem, bieten Freiräume und Wasser. Das Schwimmbad auf dem Dach ist ein Ort der Schwerelosigkeit und außerdem jener Ort, an dem die Kommunikation zwischen den Bewohnern beginnt. Die meisten Großwohnbauten der 70er- und 80er-Jahre haben diese grundlegenden Komponenten der menschlichen Zufriedenheit ignoriert.

STANDARD: Ist der Swimming-Pool auf dem Dach ein Rezept, das allseits anwendbar ist?
Glück: Nein, aber der Pool hilft. Das offene Schwimmbad auf dem Dach ist außerdem ein Naturerlebnis. Die Schwimmbäder in unseren Wohnhausanlagen werden statistisch von über 90 Prozent der Bewohner aufgesucht, und zwar von zwei Dritteln regelmäßig, von einem Drittel gelegentlich. Das reicht offenbar aus, um Kommunikation in Gang zu setzen. Wenn jemand von der Arbeit heimkommt, sich auszieht und mit dem Lift aufs Dach fährt, so trifft er dort wahrscheinlich Tag für Tag die gleichen Nachbarn. Spätestens am dritten Tag wird er sie grüßen.

STANDARD: Was macht er im Winter?
Glück: Im Winter hat er die anderen schon kennen gelernt. Und deswegen fährt er zum Skifahren in die Berge.

STANDARD: Ist das Wohnen in der großen Menge nach heutigen Maßstäben noch gerechtfertigt?
Glück: Was heißt gerechtfertigt? Das Leben in der Stadt ist ein Leben mit der großen Zahl. Die Leute argumentieren immer mit romantischen Stadtvierteln und elitären Bezirken. Die 10.000 Bewohner von Alt Erlaa können das Stadtzentrum mit einem öffentlichen Verkehrsmittel sehr rasch und bequem erreichen. Im achten Bezirk brauchen Sie für 30.000 Einwohner ein paar Straßenbahnen, drei Autobusse und viel Fußmarsch dazwischen. Sie werden vom Straßenlärm gequält und haben enorme Parkplatz-Probleme.

STANDARD: Sie selbst aber wohnen mitten in der Stadt.
Glück: Ich bin zwar nicht so wohlhabend wie Herr Mateschitz, aber ich habe vor allem in früheren Jahren mehr verdient, als ein Bewohner von Alt Erlaa maximal verdienen darf, um dort eine Wohnung zu bekommen. Durch Zufall wohne ich in einem Haus im achten Bezirk an einem großen Park, von dem ein Teil sogar mir gehört. Ohne diese konkrete oder eine ähnliche oder vergleichbare Situation wäre ich schon längst am Stadtrand - in irgendeiner Wohnung in Alt Erlaa.

STANDARD: In der Architektenschaft wird Ihre Architektur in ästhetischer und kultureller Hinsicht wenig bis gar nicht geschätzt. Die Bewohner indes lieben ihre Wohnsituation. Warum klaffen hier akademische Auffassung und Praxiserfahrung so weit auseinander?
Glück: Die Relevanz dessen, was das Architekturfeuilleton als ästhetisch und anspruchsvoll bezeichnet, ändert sich alle fünf bis sechs Jahre. Ist diese Meinung daher relevant? Ich behaupte allerdings, dass einige meiner Bauten mit den angeblichen Musterbeispielen ästhetisch durchaus mithalten können. Sie sind nur nicht ganz so modisch. Bei der Ablehnung der Kollegen spielt aber sicherlich auch der Neid gegenüber einem materiell erfolgreichen Kollegen eine nicht unwesentliche Rolle.

STANDARD: Ich kann es mir nicht verkneifen: Sind Sie glücklich?
Glück: Eigentlich schon. Als Architekt habe ich sicherlich nicht alles erreicht, was ich für gut hielt. Aber ich kann mich - im Vergleich zu einem großen Teil meiner Kollegen - nicht beklagen. Und privat: Solange ich auf keine verrückten Ideen komme, muss ich mich ebenfalls nicht beklagen. Ich bin erträglich gesund und ich lebe seit 50 Jahren mit derselben Frau.

STANDARD: Sie sind mittlerweile 81 Jahre alt und arbeiten immer noch?
Glück: Ich arbeite ganz gerne.

STANDARD: Möchten Sie als weiser Mann der jungen Architektenschaft einen Ratschlag auf den Weg mitgeben?
Glück: Ich würde den Kollegen empfehlen, so schnell wie möglich auf Jus umzusatteln. Denn den meisten Architekten geht es um Selbstverwirklichung und nicht darum, für Menschen zu arbeiten. Wenn es weniger Architekten gäbe, wäre das wahrscheinlich kein Fehler.

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