Akteur

Roland Rainer
* 1910 Klagenfurt 2004 Wien

Ein Architekt und Gentleman

Er war Humanist, ein Lehrer für mehrere Generationen von Architekten. Ein Allrounder mit einem umfassenden Gesellschafts- und Kulturbewusstsein. Und laut Wikipedia Mitglied der NSDAP. Roland Rainer zum 100. Geburtstag.

30. April 2010 - Liesbeth Waechter-Böhm
Meine Lieblingsanekdote zur Person Roland Rainers ist parasitärer Natur. Ich habe sie nicht selbst erlebt, sie wurde mir erzählt. Einer seiner Studenten legt Roland Rainer eine Projektskizze vor. Der betrachtet sie kritisch und sagt: „Also, Herr Kollege, das müssen Sie noch einmal zeichnen. Dieses Schwarzweiß . . . Wieso machen Sie es nicht bunt? Machen Sie es doch grau!“

Er war ein Architekt und Gentleman, einer der Letzten dieser inzwischen ausgestorbenen Spezies. Im persönlichen (gesellschaftlichen) Kontakt stets perfekte, ungemein kultivierte Umgangsformen, die nicht nur Oberfläche waren. Sie waren Ausdruck eines umfassenden Gesellschafts- und Kulturbewusstseins, dem eine völlig andere Vorstellung des „Künstlerseins“ zugrunde liegt, als wir sie heute haben. Er war ein Allrounder, einer jener wenigen, die von der Stadtentwicklung bis zum Städtebau und der Verkehrsplanung, vom öffentlichen Bau über die Wohnsiedlung bis zum einzelnen Haus, vom Denkmal- und Landschaftsschutz über Grünraum- und Gartenplanung bis zu Möbelentwürfen und künstlerischen Designs alles beherrschte; er schrieb, er fotografierte und vor allem: Er konnte noch zeichnen, was in Zeiten der Computerarbeit eine längst vernachlässigte Fähigkeit ist. Und all das war eingebettet in ein komplexes Welt-, Gesellschafts-, Kulturbild, das keinesfalls nur funktionalistisch begründet war – wie man ihm gelegentlich unterstellt hat –, sondern durchaus historische Wurzeln hatte, vor allem auch im außereuropäischen Kontext. Schließlich hat er als bedeutender Lehrer mehrere Generationen von Architekten geprägt – von den Vorarlberger Baukünstlern bis zu Henke∣Schreieck.

Geboren vor 100 Jahren. Das bedeutet, er hat den Krieg als erwachsener Mensch erlebt. Bei Wikipedia kann man nachlesen, dass er ab 1936 illegales Mitglied der in Österreich verbotenen NSDAP gewesen ist – und später an diese Zeit nicht erinnert werden wollte. Er zählte aber auch zu den Ersten, die sich gleich nach dem Zweiten Weltkrieg grundlegend mit der Frage und den Folgen der Zerstörung der europäischen Städte auseinandersetzten. Er erhob seine Stimme gegen die Zerstörungen des Wiederaufbaus und erkannte die Dringlichkeit der „Behausungsfrage“ in all ihrer Komplexität. (Sein Buch „Städtebauliche Prosa“ von 1947 wurde zum Standardwerk.)

Gewiss, Rainer hatte die Chance und das Glück (natürlich auch die Fähigkeit), sowohl in Österreich als auch in Deutschland große öffentliche Bauten zu realisieren, die bis heute beispielhaft dastehen. Aber sein Beitrag zur Wohnbaudiskussion ist sicher der bedeutendste Teilbereich in seinem Werk. Da hat sich der große Humanist in Rainer zu Wort gemeldet, der die Frage, was es zu einemmenschengerechten Wohnen braucht, auf den Punkt brachte. Sein verdichteter Flachbau, wie er in der Siedlung Puchenau in mehreren Etappen (1965–1967 Puchenau 1, 1973 Puchenau Ost, 1975–1976 Kirche Puchenau, 1978–1992 Puchenau 2) und daher in großem Stil, als wirkliche „Gartenstadt“ realisiert wurde, ist bis heute einzigartig in Österreich. Kein anderer Architekt hatte die Möglichkeit, eine Wohnvision in diesem Maßstab und mit dieser Konsequenz und Klarheit umzusetzen – wenn wir von Harry Glücks Wohntürmen in Alt Erlaa absehen, die ungefähr das Gegenteil von dem verkörpern, wofür Rainer stand.

Puchenau wurde anfangs als „Rainer-KZ“ verunglimpft, davon ist längst nicht mehr die Rede. Dem Konzept der sehr dichten Hofhaussiedlung waren Versuche vorangegangen, bei denen Rainer seine Vorstellungen eines maßstäblich menschengerechten Wohnens, ökologische Überlegungen, aber auch Versuche industriellen Bauens umsetzte – etwa bei der kleinen Werksiedlung Mannersdorf (1951) oder bei der Fertighaussiedlung in der Wiener Veitingergasse (mit Carl Auböck, 1953), gewissermaßen einem Prototyp, der von der Bauwirtschaft allerdings nicht einmal ignoriert wurde; schließlich bei der Siedlung in der Wiener Mauerberggasse (1962–1963), wo Rainer mit passiver Sonnenenergie-Nutzung und einer Kombination aus Luft- und Zentralheizung experimentiert.

Trotzdem muss man sagen, dass Rainer gerade den Wiener Wohnbau nicht geprägt hat, in der Bundeshauptstadt hatte man längst auf andere Typologien gesetzt, die viel weniger Boden verbrauchen und viel mehr in die Höhe wachsen.

Rainer hat wunderschöne Einfamilienhäuser gebaut. Das letzte – für Franz Morak – hat er nicht akzeptiert, weil Morak zu viel an Rainers Konzept verändert hat. Dafür ist ihm sein eigenes Haus im Burgenland, in St. Margarethen, zur Ikone geraten. Er hat es 1958 gebaut und dabei mit beeindruckender Konsequenz demonstriert, wie man – auch ganz „ohne Dach“ – in der Landschaft baut, ohne jemanden „zu stören und selbst gestört zu werden“ (Rainer).

Die Größe eines Architekten wird in der Regel, allen anders lautenden Gerüchten zum Trotz, auch an seinen Großbauten gemessen. Rainer mag schon zu einer frühen Zeit wegweisende Gedanken zur Umwelt, zur Entwicklung der Städte, zur Landschaft, zum Bauen, zur Architektur formuliert haben. Er mag in Schulen, Kirchen und anderen öffentlich genutzten Einrichtungen der grundlegenden Humanität seiner Architekturauffassung Geltung verschafft haben. Aber was wäre sein Werk ohne die Großbauten. Ohne die großen Hallen.

Allen voran die Wiener Stadthalle, als Siegerprojekt hervorgegangen aus einem nicht unumstrittenen internationalen Wettbewerb, denn es gab zwei erste Preise – neben Roland Rainer immerhin Alvar Aalto. Schließlich hat Rainer sein Projekt realisiert (1952–1958) und daraus den „Schlüsselbau“ (Friedrich Achleitner) der Wiener Nachkriegszeit gemacht. Die Wiener Stadthalle entstand in einer Zeit, als flexibel nutzbare Mehrzweckhallen überall gefragt, aber dennoch ein relativ neues Thema waren. Tatsächlich wurde an Nutzung dafür angedacht, was überhaupt nur vorstellbar ist – von Sportveranstaltungen jeglicher Art über kulturelle Events in aller Bandbreite bis hin zu Messen und was sonst noch Menschenmassen bis zu einer Größenordnung von 15.000 mobilisieren konnte.

Rainer hat das enorme Programm in eine Haupthalle mit einer Abmessung von 100 mal 100 Metern und kleinere Hallenbauten (Eislaufhalle, Ballspielhalle, Gymnastikhalle), teils in Verbindung mit Verwaltungseinrichtungen, Terrassencafé und Restaurant, gegliedert. Das Hallenbad kam dann 1962–1974dazu und war gerade kürzlich Gegenstand öffentlicher Kontroversen. Glücklicherweise wurde unter Mitwirkung des Denkmalschutzes ein Verfahren ausgelobt, aus dem ein Rainer-Schüler, Georg Driendl, siegreich hervorging. Man darf also erwarten, dass diesensible Reparatur des Bestands den Vorrang vor massiven Neuerungen haben wird.

Das Ensemble steht heute leider nicht mehr unverändert da. Das liegt weniger an der architektonisch nicht anfechtbaren Intervention der Vorarlberger Architekten Dietrich∣Untertrifaller, es liegt an den schleichenden Eingriffen, die sich eine Betriebsgesellschaft mit wenig Sinn für Authentizität und Atmosphäre erlaubt hat. Auch das kann man im Internet nachlesen: Das achtlos ausrangierte Stadthallen-Inventar wird heute zu Spitzenpreisen gehandelt.

Konstruktiv könnte man der Wiener Stadthalle eine gewisse Konventionalität nachsagen. Bei seinen deutschen Hallenbauten, etwa in Bremen (mit Säume und Hafemann, 1961–1964) wählte er eine interessantere Konstruktion. Er sagt selbst, er habe das Haus als „Zelt unter Zelten“ aufgefasst, weil es auf einem Ausstellungs- und Volksfestgelände steht. Die Tribünenkonstruktion ist hier durch Stahlbeton-Zugglieder so miteinander verbunden, „dass das Gewicht der Tribünen die Zugglieder spannt“ (Rainer) – was sich nach außen in Form spitz auskragender Konstruktionselemente ausdrückt.

Rainers Häusern war nicht immer ein glückliches Schicksal beschieden. Legendär ist sein Franz-Domes-Lehrlingsheim auf denWiener Arbeiterkammergründen. Er hat es 1952–1953 gebaut und als eine Art Gegenstatement zum benachbarten Theresianum, dieser Eliteschule par excellence, konzipiert. Es war das Statement schlechthin, das einer neuen sozialen Gesinnung sichtbaren Ausdruck verlieh. Aber diese sozialdemokratischeGesinnung hat nicht einmal 30 Jahre überdauert. 1983 wurde es abgerissen und wich einem Kulturbau, den die einen als „Schönbrunner-Stil“ (Dietmar Steiner), Rainer selbst als „Funktionärsbarock“ bezeichnen.

Es gibt in der Biografie Rainers einen Abschnitt, über den es nicht leicht ist, sich zu äußern. Von 1958–1963 war er Stadtplaner von Wien. Manches hat er früh erkannt: Dass man den Donauraum entwickeln muss – was mit der Donauinsel tatsächlich und zum Gewinn aller Bürger von Wien geschehen ist. Seine Entwicklungsvorschläge für die Wiener Peripherie wurden hingegen nicht angenommen. Und vor allem war seine radikale Ablehnung des U-Bahn-Baus eine krasse Fehleinschätzung der Verkehrsentwicklung in einer Großstadt.

Ein Waterloo, dem in diesen Tagen das nächste folgt: das ORF-Zentrum auf dem Küniglberg. Es war immer irgendwie ungeliebt, niemand hat es als einen großen architektonischen Wurf empfunden. Vielleicht kam es zu spät? Es ist in einer Architektursprache formuliert, die sich gerade bei solchen „Sonderbauten“ überholt hat. Heute verlangt der Sonderbau nach der architektonisch „designten“ Besonderheit, für Rainer ein Gräuel.

Ich mag aber nicht daran glauben, dass ein so flexibel konzipiertes Bauwerk wie das ORF-Zentrum den rasanten Entwicklungen im medial-technologischen Bereich nicht standhält. Natürlich ist der Technologiebedarf, auch der Raumbedarf ins schier Unendliche angewachsen. Aber wenn mir jemand kommt und mit „bautechnologischen Mängeln“ argumentiert – dann versagt mein Verständnis. Ja, wo waren Sie denn, die Herren von der Küniglberg-Leitung? Haben Sie nicht gewusst, dass man auch Gebäude warten, pflegen, laufend sanieren muss? Man kann alles verfallen lassen und dann sagen, jetzt geht es nicht mehr. Man kann es aber auch liebevoll pflegen – und das Potenzial an Flexibilität nutzen, das der Architekt einmal angedacht hat. Dann sieht die Sache ganz anders aus.

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