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Die Stadt zwischen den Zeilen
Der Standard

Von Hackern ausgeheckt: das kapitalistische Werbeformat Plakatwand einmal anders.

2. Dezember 2006 - Wojciech Czaja
Weihnachten ist die normative Kraft des Faktischen. Gegen Jingle Bells, Shopping-Misanthropie und stenzeltrotzende Punschhütten ist selbst die coolste Architektur machtlos - und das Feuilleton kann einpacken. Doch wenn man sich schon dem Duktus des Irdischen beugen muss, dann kann man zumindest im Denken entfliehen. In Bücher verpackt wird die Stadt wieder erträglich, mit dem Lesen legt sich ein Schleier der Schönheit über sie. Einige Werke der letzten Saison kehren der herkömmlichen Stadt den Rücken und versuchen, sie auch mal zwischen den Zeilen zu lesen.

Um es mit den Worten der beiden Herausgeber Florian Haydn und Robert Temel auszudrücken, ist Weihnachten in Anbetracht seiner Kurzfristigkeit gar nicht übel. Ganz im Gegenteil: „Temporäre Nutzungen sind Symptome eines alternativen Stadtplanungsverhältnisses.“ In ihrem Buch Temporäre Räume (Birkhäuser, ¬ 29,90) versammeln sie Essays von Peter Arlt, Barbara Holub, Elke Krasny und vielen anderen, die sich alle dem Phänomen der Temporalität - ja, so heißt das - aus politischen, praktischen und theoretischen Betrachtungswinkeln nähern. Klaus Ronneberger: „Das urbane System erfährt eine grundlegende Transformation. Überspitzt könnte man sagen: Waren die Metropolen zuvor über den Prozess der Verarbeitung materieller Ressourcen definiert, so fungieren sie nun als Orte der Produktion und der Transfers von Symbolen und Wissen.“

Eines der weitreichendsten Beispiele temporärer Stadtnutzung ist wohl das „Permanent Breakfast“, das heuer sein zehnjähriges Bestehen feiert. Gefrühstückt wurde bereits in Papua-Neuguinea, im Sudan, in Brasilien und in Chile - und zwar durchwegs auf offener Straße. „Die gängige Erlaubniskultur, also die Annahme, nur was explizit erlaubt sei, sei nicht verboten, zieht die Grenzen der eigenen Möglichkeiten meist wesentlich enger als notwendig“, schreiben die beiden Initiatoren Ursula Hofbauer und Friedemann Derschmidt, „die Zurückhaltung gegenüber nicht vorformulierten Verhaltensweisen ist kulturell tief verankert.“

Doch zum Glück gibt es sie, die wertvollen Widersacher der globalen Stadt, die stets gegen den Strom schwimmen. Thomas Düllo und Franz Liebl vereinen sie - die Designer, Künstler, Manager, Aktivisten und Wissenschafter - in einem dicken Schmöker namens Cultural Hacking (Springer Verlag, EUR 37,00). Gezeigt werden Theorien und Projekte des so genannten strategischen Handelns. War ein Hacker ursprünglich ein Journalist, der seine Arbeit mit unorthodoxen Mitteln machte, wandelte sich der Begriff sehr rasch und übertrug sich auf den Bereich der elektronischen Medien.

Nichts anderes machen die Protagonisten des Cultural Hacking: Sie klicken sich auf legale oder illegale Weise in das Geschehen der Großstadt ein und eignen sich vornehmlich all jene Botschaften an, die den anderen gehören: Werbung. Die Fotokünstlerin Aude Tincelin stellt sich die Frage, welche globalen Player sich in unser aller Köpfe bereits so tief eingenistet haben, dass wir ihre Sprache auch schon ohne Schrift zu lesen vermögen. „Was wir in Aude Tincelins Fotostrecke Sans Titre sehen, sind nur noch uniforme und merkwürdig mediokre Lifestyle-Welten, denen ein zentraler Bedeutungsgehalt abhanden gekommen ist“, schreibt Franz Liebl über die „amorphe, desorientierte Melange aus H&M, The Gap, Aubade, Boss und Adidas. Kurz: this could be anything.“

Und doch sind wir alle in der Lage, die Stadt zu lesen. Das liegt nicht zuletzt an der sprache der strasse (Sonderzahl Verlag, ¬ 15,00), an die sich die Herausgeber Mark Gilbert, Wolfgang Niederwieser und Hans Hinterholzer herangemacht haben. „Identität gehört zu den wichtigsten Eigenschaften einer Stadt“, so Gilbert, „die Straße ist nicht nur die Sphäre aggressiven Verkaufs, sondern auch der Ort, an dem Individuen jene Identitäten ausleben, die nicht gekauft und nicht verkauft werden können.“ Einerseits basiert das Buch auf der offensiven Stadtplanungs-Intervention making it 2, die letztes Jahr in leer stehenden Geschäftslokalen in Wien Margareten über die Bühne gegangen ist, andererseits gehen die Herausgeber mit unzähligen Autoren der Frage nach, was man dem Qualitätsverlust der städtischen Einkaufsstraßen entgegensetzen kann. Die Geschäftsnutzung wandert in Einkaufszentren ab, die Straße wird zur „shrinking street“.

Schuld an der ganzen Misere ist unter anderem der österreichische Architekt und Stadtplaner Victor Gruen (1903-1980). Von den Nationalsozialisten enteignet, emigrierte Gruen nach New York, wo er sich mit Boutique-Umbauten auf der Fifth Avenue einen großen Namen machte. Wenig später folgte seine Erfindung der vollklimatisierten und gedeckten Shopping Town, einer eigenen Stadt am Rande des Stadt. Soziologin Annette Baldauf und Fotografin Dorit Margreiter widmeten dem ambivalenten Mann ein kleines Kunststück-Buch unter dem Titel Der Gruen Effekt (herausgegeben von Florian Pumhösl, Verlag Montage Wien, ¬ 9,00, zu beziehen über die Galerie Krobath Wimmer).

„Victor Gruen gilt heute als einer der einflussreichsten westlichen Städteplaner“, schreibt Annette Baldauf in ihrer Einleitung, „Gruens frühe Arbeiten werden heute vielfach als Impuls zur Zerstörung der westlichen Städte interpretiert.“ Nachdem der „people's architect“ - wie er sich selbst nannte - insgesamt 15 Millionen Quadratmeter Einkaufsfläche allein in Shopping Towns realisiert hatte, musste er sich am Ende seines Lebens einen grundsätzlichen Fehler eingestehen: „Amerika darf man nicht kopieren, man muss es kapieren.“ In einem Vortrag im Jahre 1974 appellierte er an sein Publikum: „Widmen Sie ihre Schöpfkraft nicht länger einer verlorenen Sache. Das Einkaufszentrum ist tot.“

Genug der Markenbühne Stadt. Augen schließen. Ohren auf höchste Aufmerksamkeit. Rewind. Und Play: In Bücher verpackt wird die Stadt wieder erträglich, mit dem Lesen legt sich ein Schleier der Schönheit über sie. Doch man kann der Stadt auch entfliehen, indem man sie durchschreitet, indem man die Kopfhörer aufsetzt, indem man sich nur auf Bild und Ton konzentriert - und die physische Kausalität mal bei Seite lässt. Die in Kanada lebende Künstlerin Janet Cardiff ist diesen Weg schon vorgegangen und hat ihre Erfahrung in The Walk Book verewigt (herausgegeben von Mirjam Schaub, Thyssen-Bornemisza Art Contemporary, ¬ 70,00). Was für eine Typografie, ein Genuss! Das Buch wurde mit dem Certificate of Typographic Excellence 2005 ausgezeichnet.

Cardiffs Routen durch Metropolen wie New York, Montreal, London oder Paris - abgegangen zwischen 1991 und 2005 - werden zu abstrakt zusammengestellten Sinnenseindrücken auf 343 Seiten: Text, Fotos, überschmierte Spazierdrehbücher. Eine beigelegte CD navigiert den Leser durch die Stadt. Für Liebhaber gibt es eine Sonderausgabe mit hellblauem CD-Player und handsignierter Fotografie (limitierte Auflage 100 Stück, 468,00). „Ich weiß nicht, warum ich im Park war, es hat mich dort hingezogen“, erzählt Cardiff mit tiefer, sonorer Stimme, „manchmal fällt man regelrecht in eine Geschichte rein. Ich möchte, dass Sie mich begleiten.“ Glockenläuten, Vogelgezwitscher, Schüsse, Alarmanlage, Helikopterlärm. Irgendwann muss auch die Kunst niesen. Hatschi. Cardiff entschuldigt sich beim Zuhörer.

Wann hat man die Nase voll von der Stadt? Autorin Barbara Motter und Fotograf Konrad Rainer lassen sich vom City-Walken nicht beeindrucken, sie ergreifen die Flucht in den Westen, konkret ins untere Rheintal. In ihrem - beschützende Mutterinstinkte fördernden - Büchlein Gartenhüsle (Studien Verlag, EUR 22,90) frönen sie der guten alten Holzhütte. Einsam rottet sie vor sich hin - oder steht liebevoll gealtert am Ende des Gartens. So passioniert und liebevoll war ein Architekturbuch noch nie. Man muss es richtig fest an die Brust drücken. Da ist sie also wieder - die Hütte. Bald ist Weihnachten.

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