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Der Gorilla lernt das Gehen
Der Standard

Los Angeles trägt das Stigma der Highway-Hölle. Völlig zu Recht. Doch nun, erklärt Stadtplanungsdirektor Michael J. LoGrande, soll der Straßenmoloch auf Diät gesetzt werden.

28. Juni 2014 - Wojciech Czaja
STANDARD: Sie waren mit der Delegation der Wirtschaftskammer Österreich einige Tage zu Besuch in Wien. Was ist Ihnen in Erinnerung geblieben?

LoGrande: Die alte, historische Architektur! Das gibt es in Kaliforniern nicht. Wir sind schon happy, wenn wir ein Haus aus den Zwanzigerjahren sehen. Noch mehr beeindruckt hat mich allerdings das öffentliche Verkehrsnetz. Besonders angetan hat es mir die Straßenbahn. Überall fahren Straßenbahnen!

STANDARD: In welchen Punkten kann Los Angeles von Wien lernen?

LoGrande: Lernpotenzial haben wir beim kulturellen Angebot und bei der Art und Weise, wie man hier mit öffentlichem Freiraum umgeht. Man nimmt die Straße den Autos weg und gibt sie wieder den Fußgängern und Radfahrern zurück, so wie das ja im Bereich der Mariahilfer Straße passiert ist. Was die Emanzipation des Fußgängers betrifft, sind wir in L.A. erst am Anfang.

STANDARD: Aber es tut sich was. In Hollywood und Santa Monica entstehen bereits die ersten Fußgängerzonen.

LoGrande: Ja, das sind die ersten Versuche. Auch beim Broadway in Downtown L.A. diskutieren wir über eine Verkehrsberuhigung. Wir sehen das als eine Abmagerungskur des Verkehrs und nennen das „Road Diet“: weniger Fahrstreifen für Autos, stattdessen mehr Platz für Fußgänger und Radfahrer.

STANDARD: Wird das Angebot angenommen?

LoGrande: Ja, aber nur langsam. Unser größtes Potenzial und somit unsere größte Hoffnung sind die jungen Menschen. Sie ziehen wieder zurück ins Stadtzentrum und genießen das, was man gemeinhin unter urbanem Leben versteht: Dichte, Infrastruktur, Gehdistanzen, Nachbarschaft und soziale Bindungen.

STANDARD: Wie viel Straße wurde schon abgespeckt? Wie viel Diät steht Ihnen noch bevor?

LoGrande: Die genauen Zahlen müssen wir erst erheben. Aber in Summe geht es darum, dass wir lernen, mit dem öffentlichen Gut namens Stadtraum kreativ umzugehen. Der neueste Trend ist die Schließung der Straßenkreuzungen, so wie das beispielsweise auf dem Times Square in New York gemacht wurde. Wo früher Autos waren, sitzen nun Leute im Freien. Außerdem werden immer mehr „Parklets“ errichtet. Das ist das, was man in Wien, glaube ich, als Schani-Garden bezeichnet. Für Sie mag das ganz normal erscheinen, aber für einen Angelino ist es keine Selbstverständlichkeit, im öffentlichen Raum zu sitzen und zu konsumieren. Wir sind es gewohnt, so etwas nur in klimatisierten Räumen zu machen.

STANDARD: Ist es Ihr Ziel, das Auto langfristig unattraktiver zu machen, so wie das in einigen europäischen Großstädten passiert?

LoGrande: Ja, das werden wir machen müssen, da haben wir einfach keine andere Wahl. Die Metropolitanregion L.A. hat 17 Millionen Einwohner, und die meisten Haushalte besitzen drei, vier Autos, also mindestens eines für jedes Familienmitglied. Das kann unmöglich das Rezept für die Zukunft sein.

STANDARD: Wie viele Autos haben Sie?

LoGrande: Vier Familienmitglieder, drei Autos. Was soll ich Ihnen sagen? Ich bin ein Durchschnittsamerikaner. Aber zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass ich manchmal öffentlich, also mit der Lightrail, einer Art Straßenbahn, in die Arbeit fahre.

STANDARD: Was wird passieren müssen, damit Sie in Zukunft öfter die Lightrail nehmen, um in die Arbeit fahren?

LoGrande: In den kommenden Jahren wollen wir das öffentliche Netz massiv ausbauen. Geplant sind weitere Subway- und Lightrail-Linien in Downtown, West Los Angeles, Hollywood, Long Beach, Santa Monica und Culver City. Dafür nehmen wir über 30 Milliarden US-Dollar (22 Milliarden Euro, Anm.) in die Hand. Insgesamt wollen wir 500 Kilometer Straßenbahn errichten. Und was für mich das Interessante ist: Nachdem das Vorhaben unsere Kasse extrem belasten wird, haben sich die Einwohner von Downtown L.A. sogar bereiterklärt, einige Jahre lang eine höhere Steuerbelastung zu akzeptieren.

STANDARD: Das heißt, hier muss der Steuerzahler das Versagen der öffentlichen Hand ausbaden?

LoGrande: Letztendlich stammt jeder einzelne Steuercent auf der ganzen Welt vom Steuerzahler.

STANDARD: Wird die Straßenbahn alleine genügen, um 18 Millionen Menschen vom Auto wegzubringen?

LoGrande: Ich fürchte nicht. Seit 1970 gibt es in der Metropolitanregion Los Angeles das sogenannte „Centers Concept“. Das ist die Idee einer polyzentralen City mit vielen dichten Clustern innerhalb der Stadt. Die möchten wir in den kommenden Jahren weiter ausbauen. Das heißt: mehr Parks, mehr Nahversorgung, mehr Hotspots des täglichen Lebens. In manchen Stadtteilen und Wohnvierteln muss man heute noch eine halbe Stunde lang zu Fuß gehen, um zu einem Supermarkt zu kommen. Wir wollen diese Distanz auf zehn Minuten reduzieren.

STANDARD: Also zwei Minuten mit dem Auto ...

LoGrande: Nicht unbedingt. Es findet eine Werteverschiebung statt. Früher war es ganz normal, mit 16 Jahren den Führerschein zu machen und mit 18 Jahren ein Auto geschenkt zu bekommen. Das hat sich geändert. Viele junge Leute denken gar nicht mehr daran, sich ein Auto zuzulegen. Aktuell liegt der Anteil der jungen Erwachsenen mit eigenem Auto bei unter 30 Prozent. Das ist ein Rekordwert für die USA.

STANDARD: Bis jetzt haben wir von Autos, U-Bahnen und Supermärkten gesprochen. Doch welche Mittel gibt es, das Wachstum der Stadt auch stadtplanerisch einzudämmen?

LoGrande: Die Wachstumsrate im Großraum Los Angeles beträgt circa ein Prozent. Besonders schnell wächst die Downtown. Immer mehr junge Menschen ziehen hierher. Derzeit werden in Downtown L.A. etliche neue Wohnhochhäuser errichtet. Doch der wichtigste Punkt wird sein, den Planning and Zoning Code (Stadtentwicklungsplan, Anm.) zu überarbeiten. Der jetzige stammt aus dem Jahr 1946.

STANDARD: 1946?

LoGrande: Ja, ich weiß.

STANDARD: In knapp 70 Jahren hat sich L.A. ja doch ein wenig verändert.

LoGrande: Und deshalb gehen wir jetzt den neuen Zoning Code, den sogenannten „Recode L.A.“, sehr radikal an. Wir wollen die Bau- und Entwicklungsvorschriften für die gesamte Stadt überarbeiten und ihr eine neue DNA einverleiben. Da geht es in erster Linie um Bauhöhe, Bebauungs- und Bevölkerungsdichte. Außerdem wollen wir das Wachstum auf die neuralgischen Punkte und Achsen konzentrieren. Das Ausufern der Stadt soll damit eingedämmt werden. Der Umplanungsprozess ist für vier Jahre anberaumt und soll rund 50 Millionen US-Dollar (knapp 37 Millionen Euro) kosten.

STANDARD: Die Stadt Los Angeles selbst hat nur 3,8 Millionen Einwohner. Das tatsächliche Stadtgebiet ist um ein Vielfaches größer. Wie leicht oder wie schwer gestaltet sich die Zusammenarbeit mit den anderen Gemeinden?

LoGrande: Ohne Netzwerk wäre langfristige Stadt- und Verkehrsplanung nicht machbar. Aber es funktioniert gut. Es gibt die Southern California Association of Governance (SCAG), die all die Entwicklungen im Auge behält und koordiniert. Trotzdem: So reibungslos und homogen wie in der EU wird unsere Stadtplanung niemals sein.

STANDARD: Aus wie vielen Gemeinden besteht der Großraum L.A.?

LoGrande: Aus rund 80. Aber fragen Sie mich jetzt bitte nicht, wie die alle heißen!

STANDARD: Hat man je darüber nachgedacht, die einzelnen Gemeinden zu einer großen politischen Einheit zusammenzulegen?

LoGrande: Schon oft. Gerade was die infrastrukturelle Planung betrifft, wäre das eine gute Idee. Leider wehren sich einige kleinere Gemeinden gegen eine Zusammenlegung. Da sprechen wir in erster Linie von sehr reichen und touristisch stark frequentierten Städten innerhalb L.A.s. Ich gebe zu: Mit einem einzigen Big Gorilla statt mit 80 kleinen Fragmenten wäre es leichter, die Zukunft in die Hand zu nehmen.

STANDARD: Gibt es eine Vision?

LoGrande: Allmählich erkennen die Angelinos die Vorteile von öffentlichem Raum und öffentlichem Verkehr. Sie sind so gesprächsbereit und offen für Veränderung wie nie zuvor. Und sie sehnen sich nach dem europäischen Modell. Meine Vision ist, dass L.A. eines Tages zu einem Prozent so werden wird wie Wien.

STANDARD: Ich habe Sie zu Beginn gefragt, wo L.A. von Wien lernen kann.

LoGrande: Rochade?

STANDARD: Ja. Was darf sich denn Wien von L.A. abschauen?

LoGrande: Wien ist eine sehr schöne, aber auch sehr homogene, sehr konformistische Stadt. Vor allem innerhalb des Rings sehen alle Häuser gleich aus, wenn ich das so sagen darf. Da würde ich mir mehr Kontraste beziehungsweise mehr Mut zu Neuem wünschen. Ohne Erneuerung wird die Stadt zum Museum.
[ Michael J. LoGrande (42) studierte Kunst und Politikwissenschaft und ist Direktor des Department of City Planning in Los Angeles. Er ist federführend beim Projekt Recode L.A. ]

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