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Cluster macht Schule
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Volksschule Mariagrün in Graz, zumindest hier bewegt sich das Bildungssystem: Lerninseln ersetzen die Korridore, Bildungsbereiche die Klassenzimmer. Werden sich diese neuen Räume auch bewähren?

30. August 2014 - Christian Kühn
Die letzte große Bildungsreform in Österreich, das Schulorganisationsgesetz von 1962, liegt ein halbes Jahrhundert zurück. Bildungspolitisch leben wir im Land der kleinen Schritte und vorsichtig austarierten Kompromisse, hinter denen aber zumindest manchmal größere Ambitionen hervorleuchten.

Spürbar werden diese Ambitionen nicht zuletzt im Schulbau. Hier hat sich in den vergangenen Jahren, meist unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit und abseits der Schusslinie im Grabenkampf um die Schulreform, ein Paradigmenwechsel vollzogen, dessen Resultate nun österreichweit wirksam werden. Zwei repräsentative Beispiele, die auf Wettbewerbe aus dem Jahr 2011 zurückgehen, nehmen im Herbst ihren Betrieb auf: die Volksschule Mariagrün in Graz und der Bildungscampus Sonnwendviertel in Wien, eine Kombination aus Kindergarten, Volksschule und Neuer Mittelschule. Es sind nur zwei Beispiele von vielen. In allen Bundesländern und auch auf Bundesebene wurde in den letzten Jahren begonnen, die starren, teilweise gesetzlich fixierten Regeln für den Bau von Kindergärten und Schulen zu flexibilisieren und neue Unterrichtsformen auch architektonisch zu unterstützen.

Charakteristisch für das neue Paradigma ist die Auflösung des Systems aus Klassenzimmern und Erschließungsgängen zugunsten von offeneren Grundrissen, die unterschiedliche Lehr- und Lernformen und nicht nur den Frontalunterricht unterstützen. Dahinter stehen Ideen, die in der Pädagogik alles andere als neu sind, aber in den letzten Jahren durch neue Bildungsziele und Schlüsselqualifikationen an Brisanz gewonnen haben. Die homogene Klasse, in der gleich begabte Kinder mit gleicher Geschwindigkeit dasselbe lernen, gibt es längst nicht mehr. Schule geht heute vom Prinzip der Inklusion aus, womit nicht allein die Integration sogenannter behinderter Schüler gemeint ist, sondern ein so weit wie möglich auf die Persönlichkeit des einzelnen Kindes zugeschnittener Unterricht. Das ist ein hoher Anspruch, der nicht nur exzellente und motivierte Pädagogen braucht, sondern auch geeignete Räume. Es ist kein Zufall, dass die Formulierung, der Raum sei – neben den anderen Kindern und den Lehrern – der „dritte Pädagoge“, von Loris Malaguzzi in Italien geprägt wurde, einem Land, das seit den 1970er-Jahren auf inklusiven Unterricht setzt und schon damals seine Sonderschulen weitgehend abgeschafft hat.

An der Volksschule Mariagrün in Graz lässt sich erkennen, dass die „neue Schule“ nicht unbedingt spektakulär aussehen muss. Der Entwurf der Vorarlberger Architekten Philipp Berktold und Christoph Kalb ist eine einfache, holzverkleidete Box am Hang. Auf demselben Grundstück liegen ein als Kindergarten genutztes, denkmalgeschütztes Sanatorium aus dem 19. Jahrhundert und eine 2010 errichtete Kinderkrippe, ein Massivholzbau von Martin Strobl. Mit diesen Einrichtungen teilt sich die Schule nicht nur den Freiraum, ein parkähnliches Areal im Grazer Stadtteil Mariatrost, sondern auch die Küche und den Speisesaal, die im Altbau liegen. Bedingt durch die Hanglage befindet sich der Haupteingang zur Volksschule im obersten der drei Geschoße. Eine großzügige, flexibel nutzbare Halle mit Oberlicht empfängt die Besucher. Linker Hand liegt die Direktion, ein Stockwerk tiefer die gemeinsame Garderobe mit eigenem Ausgang in den Garten. Auf dem untersten, teilweise in den Hang gegrabenen Niveau liegen der Turnsaal und Werkräume mit überdachten Terrassenflächen. Der Unterschied zu einer normalen Schule besteht in der Anordnung der Unterrichtsräume. Sie gliedern pro Geschoß sich in einen großen, von jeweils vier Gruppen gemeinsam nutzbaren offenen Bereich, an den vier mit Schiebetüren zu öffnende „Klassenräume“ angelagert sind. Dazu kommt ein großzügig dimensionierter Teamraum für die Lehrer, ein Lagerraum für Unterrichtsmaterialien und die WCs für die Schüler. Eine solche, um eine gemeinsam nutzbare Mitte herum angeordnete Einheit wird im Schulbau als „Cluster“ bezeichnet. In Mariagrün werden die vier Gruppen als Jahrgangsklassen geführt, im zentralen Raum wird aber jahrgangsübergreifend und im Team gearbeitet.

Auch der neue Campus Sonnwendviertel in Wien, ein Entwurf der Architekten PPAG, folgt diesem Clusterprinzip. Für den Wiener Schulbau muss das Projekt als Auslöser einer kleinen Revolution gesehen werden. Während die ersten Campusschulen nach dem Muster Gang und Klassenzimmer konzipiert waren, hat sich der Cluster heute als Standard im Schulneubau der Stadt etabliert. Inzwischen wurde auch das Potenzial dieses Prinzips für die Verbesserung der frühkindlichen Bildung erkannt: Eine Kombination von Kindergartengruppen und Schulklassen in einem Cluster bietet die Möglichkeit, die wichtige Schnittstelle zwischen diesen Institutionen flexibler und besser auf die individuellen Bedürfnisse hin orientiert zu gestalten.
Sowohl im Wiener wie im Grazer Beispiel zeigt sich, dass der Clustertypus eine Neujustierung von Gewichtungen erfordert. In Graz wurden die „Klassenräume“ auf 48 m² verkleinert, um Flächen für den Zentralraum zu schaffen. In Wien wurde der Hort als eigenständige, nur halbtags genutzte Institution aufgegeben und seine Flächen der Schule zugeschlagen. In beiden Fällen wird der Möblierung große Bedeutung gegeben: Eine flexible Schule funktioniert nur mit leichten, beweglichen Tischen und Sesseln und zusätzlichen Aufbewahrungsmöglichkeiten für Schulsachen.

Solche Verschiebungen über Budgetgrenzen hinweg klingen einfacher als sie sind, ebenso die Kombination von bisher säuberlich getrennten Institutionen wie Kindergarten und Schule. Die eigentlichen Helden in diesem Spiel sind Beamte der Bildungs- und Bauressorts, die gemeinsam mit engagierten Pädagogen Grenzen einreißen und neue Regeln definieren. Ohne eine kluge Wettbewerbsausschreibung, die von den Architekten Innovationen einfordert, wäre keine der beiden genannten Schulen möglich gewesen.
Die anstehende große Reform unseres Bildungssystems kann diese Entwicklung nicht ersetzen. Sie schafft aber eine wichtige Voraussetzung einer zeitgemäßen Pädagogik. Jetzt geht es darum, die neuen Konzepte im Betrieb zu beobachten, aus ihnen zu lernen und die Erkenntnisse in die Breite zu tragen.

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