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Luftschiffe im Hinterhof
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Wien wächst auch durch innere Verdichtung. Ein Ausflug nach Simmering, Mautner-Markhof-Gründe. In die Zukunft des städtischen Wohnbaus?

11. April 2015 - Christian Kühn
Simmering gilt nicht unbedingt als die feinste Gegend von Wien. Für die Bewohner Döblings beginnt hier der Osten, der Balkan, die Steppe. Allerdings ist dieser Osten durch den Bau der U-Bahnlinie U3 inzwischen nahe ans Zentrum gerückt: Von der Station Wien Mitte ist man in nur neun Minuten am Enkplatz in Simmering.

Wer sich für die Stärken und Schwächen des aktuellen Wiener Wohnbaus interessiert, ist gut beraten, diese kurze Fahrt anzutreten. Hier sind auf dem Areal der ehemaligen Mautner-Markhofschen Fabrik in den letzten zwei Jahren rund 900 neue Wohnungen entstanden, in der Werbesprache der Stadt ein „neuer Stadtteil“, streng genommen eher ein großes Implantat, das sich in die bestehende Bebauung einfügen muss.

Das städtebauliche Konzept stammt vom Büro Hermann und Valentiny mit Peter Podsedensek. Es ist das Ergebnis eines Wettbewerbs aus dem Jahr 2007 und sieht eine große Fußgängerachse vor, die von der Simmeringer Hauptstraße, also von der U-Bahnstation am Enkplatz, durch das Grundstück bis zur Mautner-Markhof-Gasse führt und dabei einen Platz durchquert, der das urbane Zentrum des „neuen Stadtteils“ bilden soll, neben einem niedrigen, villenartigen Altbestand, der teilweise denkmalgeschützt ist. An beiden Enden der Fußgängerachse verdichtet sich die Bebauung und passt sich dem Blockrand an, während in der Mitte eine lockere Struktur mit frei stehenden Baukörpern entsteht, die relativ tief sind und über zentrale Lichthöfe erschlossen werden.

Die Umsetzung dieses konventionellen, aber in sich schlüssigen städtebaulichen Konzepts zeigt eine Schwäche des Systems auf, mit dem in Wien auf dieser Maßstabsebene Stadtplanung betrieben wird. Im städtebaulichen Wettbewerb müssen die Planer nicht nur eine Baumassenstudie liefern, sondern bereits eine detaillierte Aussage über die vorgesehenen Grundrisstypologien und Freiräume. Das hat seine Berechtigung, ist aber niemals durch das Honorar gedeckt, das für städtebauliche Wettbewerbe bezahlt wird. Im konkreten Fall betrug das Preisgeld für die acht geladenen Planer je 7000 Euro. Kompensiert wird dieses garantierte Verlustgeschäft durch die inoffizielle Zusage, dass der Gewinner gemeinsam mit einem Bauträger am folgenden Bauträgerwettbewerb teilnehmen darf – und dabei als sogenannter Fixstarter nicht mehr verlieren kann.

Diese eigenartige Vorstellung von Wettbewerb hat Konsequenzen, die man auf den Mautner-Markhof-Gründen besichtigen kann. Der Bauträger Wien Süd, der das gesamte Areal erworben hatte, beauftragte als Fixstarter das Team Hermann, Valentiny und Podsedensek mit dem großvolumigen Bauteil an der Simmeringer Hauptstraße und für das Pendant am anderen Ende der Achse ein weiteres Team aus dem städtebaulichen Wettbewerb, Harry Glück und Atelier4. Die frei stehenden Baukörper dazwischen wurden an andere Bauträger vergeben. Dabei kam auf einem Baufeld mit Rüdiger Lainer für den Bauträger Wiener Heim ein weiterer Teilnehmer aus dem städtebaulichen Wettbewerb zum Zug, die zwei restlichen Baufelder wurden durch die Architekten Tillner und Willinger für das Österreichische Siedlungswerk und Geiswinkler und Geiswinkler für Neues Leben geplant.

Nicht zuletzt diese Konstellation erklärt das beachtliche Qualitätsgefälle der Anlage. Die großvolumigen, vom Bauträger Wien Süd entwickelten Teile sind Massenware: rein pragmatisch der Wohnblock von Harry Glück, als große Geste inszeniert der Bauteil von Hermann und Valentiny an der Simmeringer Hauptstraße. Die Maschinenästhetik von Hermann und Valentiny, schon immer eine Art Parodie auf die russische Revolutionsarchitektur, ist hier unangemessen monumental und im Detail schlecht umgesetzt. Auch das Freiraumkonzept von Jakob Fina, das an der Hauptachse klassische Motive von Straße und Platz zitiert, wird der spezifischen Situation eines großen, etwas wilden und potenziell geheimnisvollen Hinterhofs nicht gerecht. Das Ergebnis ist paradox: überinszeniert und trotzdem langweilig.

Innovation findet man allerdings in den frei stehenden Wohnbauten, die den vorgegebenen Typus des kompakten Blocks mit zentraler, von oben belichteter Erschließungshalle sehr unterschiedlich interpretieren. Bei Rüdiger Lainer wird aus der Halle eine geschoßweise Begegnungszone mit hoher Aufenthaltsqualität: Blick ins Freie und wenige Vertikalverbindungen. Die Halle bei Tillner und Willinger ist an sich ein großzügigeres Treppenhaus, das allerdings im Erdgeschoß und ersten Stock geschickt mit den Sozialräumen des Hauses verbunden ist.

Die überzeugendste Interpretation des Typus liefern Geiswinkler und Geiswinkler. Ihre Halle ist ein mehrgeschoßiger, heller Aufenthaltsraum mit Stiegenläufen, für die man gerne darauf verzichtet, den Lift zu benutzen. Im Unterschied zu den beiden anderen Variationen des Typus, denen man von außen ihren Passivhaus-Standard deutlich anmerkt, schweben die Häuser von Geiswinkler und Geiswinkler wie Luftschiffe im Hinterhof, mit verglasten Ecken und umlaufenden Balkonen, deren Brüstungen aus fein gelochtem Aluminiumblech in der Sonne blitzen. Die tiefen, raffiniert gestaffelten Ausbuchtungen der Balkone sind echte Sommerwohnzimmer, mit Pflanztrögen und Rankgerüsten aus Metall. Alle Details passen, auch solche, die man nicht sieht: Die Entwässerung der Balkone, sonst meist außen in Rohren geführt, wird man an dieser Fassade vergeblich suchen.

Eine besondere Qualität des Projekts ist die Freilegung der Kellergeschoße, die durch das leicht abfallende Gelände begünstigt wird. Zwischen den drei identischen Baukörpern entsteht so eine Gemeinschaftszone, die an einem Ende einen Kindergarten aufnimmt, am anderen einen großen Veranstaltungssaal und unter dem mittleren Baublock eine offene, aber überdachte Spielfläche. Die hervorragende Gartenarchitektur stammt von Auböck und Kárász, die beweisen, dass es auch ohne den Maschendrahtzaun geht, der in diesem „neuen Stadtteil“ die meisten Parzellen voneinander trennt.

Alle, die über die Zukunft des Wiener Wohnbaus zu entscheiden haben, sollten sich diese Architektur genau ansehen. Dem aktuellen Kostendruck kann man vom heute erreichten Qualitätsniveau aus durch typologische und technische Innovationen und durch Durchforstung von Normen und Regulierungen begegnen. Oder dadurch, dass man sich von den Pragmatikern 30 Jahre in die Vergangenheit katapultieren lässt.

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