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Mit Auto keine Wohnung
Spectrum

Die Siedlung auf dem Hunziker-Areal in Zürich ist ein Experimentierfeld für neue Standards des genossenschaftlichen Wohnbaus: Inspirationen für eine soziale Quartierentwicklung.

20. Juni 2015 - Franziska Leeb
Nicht nur weil sie für Zürcher Verhältnisse günstig sind, zählen die Wohnungen in der kürzlich bezogenen Siedlung auf dem Hunziker-Areal zu den begehrtesten in der Stadt. Die Siedlung für 1300 Menschen ist ein Experimentierfeld für neue Standards im Wohnbau. Anlässlich des Jubiläums 100 Jahre gemeinnütziger Wohnungsbau in Zürich im Jahr 2007 blickten die Wohnbaugenossenschaften in die Zukunft und luden zum offenen Ideenwettbewerb „Wie wohnen wir morgen?“. Aus ihm ging ein Handbuch des Architekturbüros Futurafrosch als Siegerprojekt hervor. Die zwei jungen Architektinnen Sabine Frei und Kornelia Gysel formulierten darin Bausteine städtischer Lebensqualität abseits üblicher Regularien und lenken auf den Maßstabsebenen von Wohnung, Quartier und Stadt den Blick auf Phänomene und Qualitäten, die der Aufmerksamkeit traditioneller architektonischer und städtebaulicher Entwurfsverfahren strukturell entgehen.

Davon inspiriert, schlossen sich über 50 bereits bestehende Baugenossenschaften zurneuen Genossenschaft Mehr als Wohnen zusammen, um so das kollektive Know-how zu nutzen und ein wegweisendes Siedlungsprojekt zu entwickeln, bei dem visionäre Ideen erprobt werden können, die für kleinere Genossenschaften in der Regel zu riskant sind. Auf dem aufgelassenen Gelände einer Betonwarenfabrik sollte ein von Beginnan lebendiger, mit Gewerbeflächen durchmischter Stadtteil für alle Generationen und Bevölkerungsschichten entstehen. Beim Projektwettbewerb, der Vorschläge für ein städtebauliches Konzept ebenso abfragte wie exemplarische Einzelgebäude, siegten abermalsFuturafrosch im Team mit den Duplex Architekten. Unter ihrer Federführung entstandgemeinsam mit Müller Sigrist Architekten, dem Architekturbüro Miroslav Šik und den Pool Architekten die aus dreizehn Einzelgebäuden bestehende Siedlung.

In einer halbjährigen Dialogphase, in der unter den Projektbeteiligten die Inhalte und Themen verhandelt wurden, entstand das Regelwerk, dem die Siedlung trotz der unterschiedlichen Architektenhandschriften und der reichhaltigen Varianz an Wohnungstypen und Nutzungen das – zumindest aus Wiener Sehgewohnheit – harmonische Erscheinungsbild verdankt. Ergänzend zu den geltenden Bebauungsvorschriften ist es die städtebauliche Leitlinie für die Siedlung. In Form einer dreidimensionalen Mantellinie wurden maximale Gebäudevolumina definiert sowie das Ausmaß von Hof- und Fassadeneinschnitten zur besseren Belichtung der bis zu 32 Meter tiefen Gebäude festgelegt. Vorgegeben sind darin auch eine dreiteilige horizontale Gebäudegliederung mit erkennbarer Ausbildung von Sockel und Dachabschluss sowie die Situierung der verschiedenen Nutzungen. Überwiegend sind die kompakten Wohnhäuser um zentral gelegene, von oben belichtete Erschließungskerne organsiert, an die die Nebenräume anschließen, außen liegen die Wohn- und Schlafbereiche. Um Belebung und Versorgung des Quartiers zu gewährleisten, gibt es mit einer Ausnahme in allen Häusern Gewerbeflächen.

Das Wohnungsangebot reicht von Studios über Mehrzimmerwohnungen bis zu sogenannten Satellitenwohnungen mit neun bis dreizehn Zimmern. In letzteren gruppieren sich kleine Individualeinheiten mit Kochnische und Sanitärzelle um einen großen, mit Bad und Küche ausgestatteten Gemeinschaftsbereich. Wohngruppen für Kinder und Jugendliche sowie Wohnangebote für Studierende ergänzen das Angebot. Teil des umfassenden Testfeldes waren ebenfalls die Bauweisen, und so war es möglich, dass die drei Häuser von Pool Architekten völlig unterschiedlich konstruiert sind.

Das optisch gewichtigste Haus im Zentrum des Quartiers ist das bislang größte mit Dämmbetonwänden errichtete Haus in der Schweiz. Mit tragenden Elementen aus Ortbeton, die in höheren Räumen mit Stahlstützen ergänzt wurden, und mit den aus einem isolierenden Zuschlagstoff aus Schaumglasgranulat versehenen Außenwänden kommt man bei dieser Bauweise ohne zusätzliche Dämmschichten aus. Das bringt baulogistische Vorteile mit sich, ist jedoch handwerklich anspruchsvoll, da Fehler nicht hinter Styropor- und Putzschichten versteckt werden können. Balkone oder umlaufendeLoggienbänder hätten die konsequente Kompaktheit und Reduziertheit wohl zunichtegemacht.

Den fehlenden Außenraum kompensieren überhohe Wohnräume, deren Öffnungen das Tageslicht in die Tiefe leiten. Auch beim benachbarten, im Vergleich zum monumentalen Betonhaus bescheiden wirkenden, Holzhaus verzichtete Pool Architekten auf private Balkone. Dafür gibt es einen wintergartenartigen großen Gemeinschaftsraum mit anschließender Gemeinschaftsterrasse im dritten Obergeschoß. Mit der fünfgeschoßigen, im Inneren unverkleideten und außen mit Faserzementschindeln umhüllten Holzkonstruktion – Sockelgeschoß und Treppenhäuser sind betoniert – wagte man auch hier technologisch wie ästhetisch im Wohnbau Unübliches.

Im Haus beim Quartierseingang (Müller Sigrist Architekten), an dessen Fassade Pflanztröge einen vertikalen Garten bilden, befindet sich neben einem Restaurant und der Geschäftsstelle der Baugenossenschaft eine Rezeption als Informations- und Anlaufstelle für die Quartierbewohner. Regelmäßig fanden sogenannte Echoräume statt, wo Bauherrschaft, Architektenteams, Fachplaner, hinzugezogene Experten und zukünftige Bewohner Erfahrungen austauschten und von bautechnischen Fragenstellungen bis hin zu Ideen für die künftige Bespielung die Inhalte der Siedlung erarbeiteten.

Die Genossenschaft, und damit alle Bewohner, die zugleich Genossenschafter sind, haben sich zu den energiepolitischen Zielen der 2000-Watt-Gesellschaft verpflichtet. Ressourcenschonung spielt nicht nur bei Errichtung und Erhaltung der Gebäude eine Rolle, sondern auch die Bewohner sind dazu angehalten, ein entsprechendes Konsum- und Mobilitätsverhalten an den Tag zu legen. Die Bereitschaft, sich in das Quartier und die Genossenschaft einzubringen, ist ebenso Bedingung wie der Verzicht auf ein Auto. Bei der Wohnungsvergabe wird auf eine der Größe entsprechende Belegung geachtet. Sollte im Lauf des Mietverhältnisses die Sollbelegungszahl – das entspricht einer Person pro Individualzimmer – unterschritten werden, wird ein Unterbelegungsbeitrag fällig. Klingt streng, aber vernünftig.

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