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Wir sind am Ziel. Sind wir?
Spectrum

Seit 2010 wird an der Seestadt Aspern gebaut. Die ersten 2600 Wohnungen im Südwesten sind bezogen, der See ist seit Juli zum Baden freigegeben. Entsteht hier die Stadt der Zukunft? Ein Lokalaugenschein.

1. August 2015 - Christian Kühn
Die Fahrt mit der U-Bahn ist in Wien seit der Einführung neuer Sprachdurchsagen zu einer Gruppenreise geworden. „Wir sind am Ziel“, sagt die Tonbandstimme, und das kollektive „wir“ weiß, dass es ganz weit draußen angekommen ist, an Orten wie Hütteldorf im Westen, Siebenhirten im Süden oder Leopoldau im Norden. Seit Kurzem gibt es auch eine entsprechende Destination im Nordosten, die freilich keinen alten Ortsnamen hat. Die Seestadt auf dem ehemaligen Flugfeld Aspern, im Süden begrenzt vom General-Motor-Motorenwerk, ist ein komplett neuer Stadtteil, in dem im Endausbau 20.000 Menschen in 10.500 Wohnungen wohnen und ebenso viele einen Arbeitsplatz finden sollen. Die Fläche des Gebiets entspricht annähernd der Wiener Innenstadt innerhalb des Rings.

Den ersten Anlauf für eine städtebaulichePlanung gab es im Jahr 1992, damals noch für 4000 Wohneinheiten. Das Konzept von Rüdiger Lainer nahm die Achsen der Landebahnen des alten Flugfelds zum Ausgangspunkt für eine städtebauliche Figur, die Aufbruch signalisierte. Sichtachsen sollten den Blick nach außen offen halten, die Planung mit den Freiräumen beginnen und die Bebauung in einem offenen Prozess schrittweise festgelegt werden. Das klang mehr nach Partitur als nach Plan und stieß auf wenig Gegenliebe bei den Wiener Bauträgern.

2006 erfolgte daher ein weiterer Wettbewerb, bei dem die Anzahl der Wohnungen bereits auf 8500 gewachsen war. Der Masterplan, den dieser Wettbewerb hervorbrachte, stammt vom schwedischen Büro Tovatt Architects and Planners, zum Zeitpunkt der Ausschreibung des Wettbewerbs noch ein Gemeinschaftsbüro mit dem inzwischen 91-jährig verstorbenen Ralph Erskine, Mitglied des legendären Team Ten und radikaler Kritiker des modernistischen Städtebaus. Der Masterplan sieht einen See im Zentrum vor, um den sich die Stadt in mehreren konzentrischen Ringen ausbreitet. Der Blockraster in den Dimensionen der gründerzeitlichen Stadt gibt dabei den Takt vor. Eine der umlaufenden Straßen ist als überbreiter Boulevard hervorgehoben, eine Ringstraße, die im Unterschied zu ihrem Vorbild tatsächlich ein kreisförmig geschlossener, wenn auch ein wenig verquetschter, Ring ist.

Dieser Masterplan sieht im Grundriss konservativer aus, als er ist. Die Blockrandbebauung ist als grobe Vorgabe mit einigem Spielraum im Rahmen einer vorgegebenen Dichte zu verstehen, was vielfältige Verbindungen zwischen Straßenraum und dem Inneren der Blöcke ebenso ermöglicht wie unterschiedliche Bauhöhen in einem Block. Die Qualität des Konzepts von Johannes Tovatt, der das Projekt als Stadtplaner auch in der Umsetzung begleitet hat, liegt darin, dass es von Anfang an den Freiraum ins Zentrum rückte. Dafür entwickelten Gehl Architects aus Kopenhagen 2009 ein Planungshandbuchunter dem Titel „Partitur des öffentlichen Raums“ als Grundlage für die weitere Arbeit der Architekten und Freiraumplaner. „Zuerstdas Leben, dann die Stadträume, dann die Gebäude“, lautete der Slogan. Mit der Fertigstellung der Bebauung im Südwesten mit 2600 Wohneinheiten ist eine erste Bilanz über das Projekt aus städtebaulicher und architektonischer Sicht möglich, da hier alle zentralen Fragen zu beantworten waren: Anschluss an den See, Ausformung von Wohnstraßen und Ringstraße, Typologie der Bebauung, Übergang zu den angrenzenden Einfamilienhausgebieten.

Besucher, die sich dem Areal von der Endstation der U2 nähern, dürfen sich vom ersten Eindruck nicht täuschen lassen. Das Brachland, das sich vor ihnen ausbreitet, wird in den nächsten Jahren verbaut. Bis zur U-Bahn-Station fertiggestellt ist nur der Park am südlichen Seeufer, der zurückhaltend gestaltet ist und sich bemüht, den beachtlichen Niveausprung zum Wasserspiegel des Sees in den Griff zu bekommen. Nähert man sich vom Park den Wohnbauten an der Bebauungskante zum See, sieht man sich einer unruhigen Front von Fassaden gegenüber, die in einer eher spannungslosen spätmodernen Formensprache gestaltet sind. Damit ist ein Grundproblem des Konzepts einer lockeren Interpretation des gründerzeitlichen Blocks angesprochen: So wertvoll der Ansatz ist, in der Stadtplanung vom Freiraum und nicht von den Gebäuden auszugehen, bleibt am Ende die schlichte Tatsache, dass der Stadtraum von Häusern gebildet wird. Während deren Typologie und Gestalt im gründerzeitlichen Block stark geregelt war, hängt in der Seestadt sehr viel mehr von der Qualität des Einzelobjekts ab.

Das erlaubt auch Ausreißer nach oben: Am Übergang zur kleinteiligen Nachbarschaft hinter der spätmodernen Wasserkante finden sich drei Stadtvillen von NMPB, die mit sparsamen Mitteln hohe Wohnqualität und von Rajek/Barosch fein gestaltete Außenräume bieten. Ein paar Reihen dahinter stehen sich die beiden Baublöcke der Architekten PPAG auf der einen und Berger und Parkkinen mit Querkraft auf der anderen Seite gegenüber. PPAG verdichten das Baufeld maximal mit scheinbar frei eingestreuten Turmhäusern, zwischen denen es so dicht zugeht wie in der Altstadt von Venedig. Trotzdem gibt es aus allen Wohnungen weite Blicke und auf Straßenniveau einen winkeligen öffentlichem Raum mit kleinen Baumgruppen und viel Asphalt, der erstaunlich gut funktioniert.

Berger und Parkkinen haben sich mit Querkraft ein großes Baufeld nicht in der üblichen Weise in zwei Abschnitte geteilt, sondern gemeinsam eine große Lösung entwickelt, eine komplexe Zeilenstruktur, die es sich im Blockrand bequem macht. Als eines der ganz wenigen Projekte kommt dieses ohne Vollwärmeschutz aus, es arbeitet mit einer Holzelementfassade. Im Inneren der Anlage gibt es einen halböffentlichen Park nach einem Entwurf von Alice Größinger, der von den Bewohnern mitgestaltet wird. In beiden Projekten ist die Idee, in der Erdgeschoßzone Wohnungen mit direktem Straßenzugang anzubieten, die auch als Büros genutzt werden können, umgesetzt.

Am Ziel der Wünsche sollte man mit der ersten Bauetappe der Seestadt jedenfalls noch nicht sein. Der erste Abschnitt der Ringstraße zeigt deutlich, dass der Juryvorsitzende aus dem Wettbewerb, Carl Fingerhuth, mit der Aussage recht hatte, diese Straße sei „das Unwichtigste am Projekt“. Während die Wohnstraßen gut funktionieren, kann mit dem überbreiten Straßenraum offensichtlich niemand etwas anfangen. Überhaupt sind Kreuzungspunkte und Platzbildungen keine Stärke des Konzepts und müssten für die Zukunft besser mit der Bebauung justiert werden. Unangenehm bemerkbar macht sich auch das Fehlen eines Farbkonzepts, für das von den Stadtplanern zumindest eine Strategie vorzulegen wäre. Und dass die Bildungseinrichtungen, die die Stadt hier errichtet, mehr Esprit haben sollten als der erste Bildungscampus, der zumindest von der Zugangsseite her aussieht wie ein Finanzamt aus den 1960er-Jahren, wäre an diesem peripheren Standort besonders wichtig.

Eine Idealstadt wollte die Seestadt sowieso nie werden, sondern ein lernendes System. Das kann sie in der nächsten Ausbaustufe beweisen.

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