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Chronik einer Gasse
Spectrum

Großbürgerliche Palais, Puritanismus des Wiederaufbaus, Gewerkschafts- und Investorenbarock: städtische Geometrie als Spiegel der Kultur.

26. September 2015 - Christian Kühn
Eine jede Stadt entsteht aus der Verbindung von Geometrie und Geschichte. Punkte, Linien undFlächen bilden den Stadtgrundriss, in den immer feinere Geometrien vom Baukörper bis zum Architekturdetail eingeflochten werden. Dieser Prozess endet nie: Linien lösen sich auf und werden durch andere ersetzt, Baufluchten vor- und wieder zurückverlegt, Achsen aufgespannt und wieder versperrt.

Wahrgenommen werden diese Veränderungen oft erst mit Verspätung. Das Bild der Stadt, das wir im Kopf mit uns herumtragen, ist stärker als die Realität. Aber irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem man nicht mehr in der gewohnten Straße steht, sondern in einer neuen und sich fragt: Was ist hier geschehen?

Die Straße, um die es gehen soll, heißt Plößlgasse und liegt im vierten Wiener Gemeindebezirk. Sie verbindet die Prinz-Eugen-Straße, die erst seit 1907 den Namen trägt und davor schlicht Heugasse hieß, mit der Argentinierstraße. Das Viertel ist geprägt von der Nachbarschaft zu den beiden größten Wiener Palais, dem Belvedere und dem Palais Schwarzenberg, und ihren Gärten, deren von Baumkronen überragte Mauern die Prinz-Eugen-Straße an einer Seite begleiten.

Auf mehreren Grundstücken auf Höhe der Plößlgasse errichtete die Familie Rothschild hier Ende des 19. Jahrhunderts insgesamt vier Palais. Zwei davon sind erhalten: ein kleines, zweigeschoßiges in der Plößlgasse 8 und das von den Architekten Fellner und Helmer in der Prinz-Eugen-Straße geplante aus dem Jahr 1894, heute Sitz der Brasilianischen Botschaft. Während diese Stadtpalais in die Straßenflucht eingebunden sind, standen die beiden anderen, weit größeren Rothschild-Palais frei auf ihren Grundstücken und forderten als bürgerliche Konkurrenz die benachbarten Adelspaläste heraus. Das Palais Albert von Rothschild aus dem Jahr 1884 lag an der Ecke von Plößlgasse und Prinz-Eugen-Straße. Der französische Architekt Gabriel-Hippolyte Destailleur machte dasBeste aus der für ein repräsentatives Gebäude schwierigen Ecksituation, indem er das Hauptgebäude von der Prinz-Eugen-Straße wegrückte und ihm einen Ehrenhof vorlagerte. Die bombastisch dekorierte Straßenseite stand in einem seltsamen Kontrast zur klassizistischen Gartenfassade.

Weit opulenter gestaltet war das Palais von Albert Rothschilds Bruder Nathaniel von 1878, ebenfalls von einem französischen Architekten, Jean Girette, entworfen. Dem an der Theresianumstraße liegenden Haupttrakt war ein grandioser Garten vorgelagert, der bis zur Plößlgasse reichte. Die enorme Dimension des Palais begründete sich nicht zuletzt darin, dass es in seinen weitläufigen Räumen die umfangreiche Kunstsammlung des Bauherrn aufnehmen musste.

Beide Palais wurden von den Nationalsozialisten enteignet und nach dem Zweiten Weltkrieg restituiert. Die Erben von Nathaniel Rothschild ließen sein weitgehend zerstörtes Palais abreißen und verkauften das Areal an die Arbeiterkammer, die hier 1952 das Franz-Domes-Lehrlingsheim nach Plänen von Roland Rainer errichtete. Das in der Substanz erhaltene Palais Albert Rothschild wurde vom Eigentümer mit der Auflage, einen Pensionsfonds für seine ehemaligen Angestellten einzurichten, der Republik überlassen, die mit dem historistischen Bau aber nichts anzufangen wusste. 1954 wurde auch dieses Palais abgerissen, um Platz für den neuen Hauptsitz der Arbeiterkammer zu schaffen. Dass wenig später das von den Rothschilds gestiftete und an die jüdische Kultusgemeinde restituierte Rothschildspital am Gürtel – bis in die 1930er-Jahre eines der renommiertesten Krankenhäuser der Stadt – ins Eigentum der Wirtschaftskammer überging, ist ein Beispiel für die großkoalitionäre Verteilungsgerechtigkeit der Nachkriegszeit. 1960 wurde das Spital abgerissen und auf dem Areal das Wirtschaftsförderungsinstitut errichtet.

Auch in der Plößlgasse lief die Entwicklung auf eine Auslöschung aller Spuren der Vergangenheit hinaus. Das 1960 eröffnete Gebäude der Arbeiterkammer, von den Architekten Franz Mörth, Heinrich Vana, Kurt Vana und Alexis Franken geplant, Ergebnis eines 1955 gewonnenen Wettbewerbs, ist typisch für den vorsichtigen Rationalismus der Nachkriegszeit. Mit der Ecklage hat es nicht weniger zu kämpfen als das alte Palais. Es gibt sich zur Prinz-Eugen-Straße klassisch-repräsentativ, mit symmetrisch gesetztem Eingang und der Andeutung eines Mittelrisalits in der Fassadengliederung. Zur Plößlgasse hin war man mutiger: Ein knapp 15 Meter weit gespannter Unterzug erlaubte den Blick unter dem Quertrakt hindurch in den Garten. Dass dieses offene Geschoß bei der jüngsten Sanierung 2008 verbaut wurde, ist ein Verlust für die Passanten, denen das Haus nun Garagentor und Hintereingang zuwendet.

Anfang der 1960er-Jahre war das gesamte Areal um die Plößlgasse in den nüchternen Linien der Nachkriegsarchitektur neu gezeichnet. Eine Berufsschule bildete den Abschluss des Franz-Domes-Heims, die Gewerkschaft für Metall, Bergbau und Energie errichtete 1962 ihre Zentrale an der Kreuzung zur Argentinierstraße, einen würfelförmigen Bau von kaum überbietbarer Schlichtheit. Schon 1959 war im Garten vor der Arbeiterkammer das Anna-Boschek-Mädchenheim nach einem Entwurf von Carl Auböck entstanden.

Als diese Gebäude Anfang der 1980er-Jahre sanierungsbedürftig wurden, entschied sich die Arbeiterkammer dafür, das schlichte Lehrlingsheim von Roland Rainer abzureißen und das Areal neu zu ordnen. Anstelle des Heims entstand 1989 ein Bildungszentrum mit Theater. Warum die Kammervertreter sich vom Architekten Rudolf Jarosch die Karikatur eines Barockpalais für diese Aufgabe einreden ließen, wird ewig ein Rätsel bleiben. Inzwischen zeigt eine vor die Fassade gestellte Großskulptur von Hans Schabus, ein Palettengerüst mit dem Titel „Régalité“, dass sich die Kammer dieser Entgleisung bewusst ist.

Carl Auböcks Anna-Boschek-Heim wurde 2008 im Zuge der von NMPB verantworteten Generalsanierung der Arbeiterkammer abgebrochen. Einzig das Mäuerchen aus Stampfbeton, das den Garten von derPlößlgasse abtrennt, erinnert noch an diesen im Detail liebenswürdigen Bau. Das jüngste Projekt der Arbeiterkammer auf dem Grundstück, ein Bürogebäude nach einem Entwurf von Češka Priesner und Fellerer-Vendl Architekten, führt die Mauer in einen Sichtbetonsockel weiter, über dem sich ein würfelförmiger Bau mit doppelter Glashaut erhebt. Mit seiner klaren Geometrie macht dieses Haus – auch wenn es stilistisch und typologisch eher an die 1990er-Jahre erinnert – jedenfalls eine gute Figur.

Das kann man vom neuen Wohnbau auf der anderen Straßenseite, der seit 2013 das Haus der Metallergewerkschaft ersetzt, nicht behaupten. Der Verkauf des nun bis aufs absolute Maximum ausgenutzten Grundstücks mag zur Sanierung der von der BAWAG-Pleite angeschlagenen Gewerkschaftsfinanzen beigetragen haben. Der Stadt ist mit solcher emailleweißer Grottenbahnarchitektur aber nicht gedient. In der wirren Geometrie diesesHauses spiegelt sich eine Kultur, in der alles möglich wäre, aber nichts gelingen will.

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