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„We make the world“
Spectrum

Wenn Architektinnen und Architekten die Welt erklären: so geschehen kürzlich in Wien, beim Architekturfestival „Turn On“. Einblicke und Ausblicke im Rückblick.

12. März 2016 - Christian Kühn
Das Architekturfestival Turn On, das Ende letzter Woche seine 14. Auflage erlebte, hat ein einfaches Prinzip: Menschen stellen sich auf die Bühne des Radiokulturhauses in der Wiener Argentinierstraße und sprechen über Häuser, Gärten oder Stadtquartiere. In den ersten Jahren des Festivals waren diese Menschen ausnahmslos Architektinnen und Architekten, die ihre Projekte präsentierten.

Über die Jahre hat sich das Festival ausgedehnt, aus einem in den Abend verlängerten Nachmittag mit einem knappen Dutzend Vorträgen wurde ein Dreitagesprogramm, das von Donnerstag bis Samstag dauert. An den ersten beiden Tagen teilen sich die Architekten die Bühne mit anderen Menschen, die für das Gelingen von Architektur wichtig sind: Bauträgern, Baufirmen, Fachplanern und Vertretern der Bauindustrie, die neue Technologien in konkreten Anwendungen vorstellen.

Gemeinsam mit den Architekten berichten sie darüber, wie anspruchsvoll und komplex das Planen und Bauen geworden ist. Architektur zu produzieren gleicht heute einem Staffellauf mit zahlreichen Beteiligten, bei dem ständig mehr Hürden zu überspringen sind. Diese Vorträge geben einen faszinierenden Einblick in technische und organisatorische Innovationen, die heute für die Architekturentwicklung bestimmend sind. Der Blick aufs Ganze geht in diesem Wettrennen um immer mehr Effizienz freilich etwas verloren.

Der letzte Tag von Turn On gehört daher nach wie vor dem klassischen Werkvortrag: Architekten sprechen über Dinge, die sie sich ausgedacht haben. Da wird es oft persönlich, und die Persönlichkeit der Architekten spiegelt sich im Charakter der Gebäude wider, die sie vorstellen. Gute Architekten sind in der Regel keine „flexiblen Menschen“, zumindest nicht in dem Sinn, mit dem dieser Begriff als deutsche Übersetzung in Richard Sennetts Buch „The Corrosion of Character“ verwendet wurde. Sennett vertritt darin die These, dass es im heutigen Wirtschaftsleben schädlich ist, Charakter zu haben, also sich zu sehr mit der Sache zu identifizieren, an der man arbeitet.

Die Architekten, die bei Turn On vortragen, gehen dieses Risiko ein. Sie identifizieren sich zu 100 Prozent mit der Sache Architektur, und das macht die Faszination dieser Vorträge aus, deren Gegenstand man sich ja genauso gut aus Zeitschriften oder noch besser aus dem Besuch vor Ort erschließen könnte. Wie weit die Identifikation der Vortragenden mit ihrem Werk reicht, erfährt man aber am besten im persönlichen Vortrag. Der Übergang von der Identifikation zur Obsession ist dabei fließend. Rem Koolhaas vermutet ja – in Anlehnung an die kritisch-paranoide Methode von Salvador Dalí –in jedem Architekten den Paranoiker, der eine andere Welt als die aktuell reale imaginiert. Der Unterschied zum echten Paranoiden bestehe nur darin, dass dieser wirklich verrückt sei.

Und so könnte auch der eigenwilligste Satz, der bei den Vorträgen letzte Woche gesagt wurde, als Zeichen einer solchen Paranoia aufgefasst werden. Fast beiläufig wies die irische Architektin Yvonne Farrell in ihrem Vortrag darauf hin, dass die Welt, in der wir leben, zum größten Teil ein entworfenes Ding ist: „This profession is so important. We make the world.“ So deutlich hat das schon lange niemand mehr auszusprechen gewagt. Kann dieser Satz ernst gemeint sein? Oder ist er vermessen in einer Zeit, in der das Ende des Autors weitgehend akzeptiert ist und die Autopoiesis der Architektur als Zukunftsmodell diskutiert wird?

Yvonne Farrell ist zuzutrauen, dass sie diesen Satz ernst meint. Sie führt mit ihrer Partnerin Shelley McNamara ein Architekturbüro in Dublin, Grafton Architects, das 1978 gegründet wurde und spätestens seit 2008 mit der Fertigstellung der Università Luigi Bocconi in Mailand weltberühmt ist. Soeben wurde die erste Baustufe eines weiteren Universitätsgebäudes eröffnet, eine technische Universität in Lima, Peru, derFarrell den Großteil ihres Vortrags widmete. An einem exponierten Standort neben einer Stadtautobahn gelegen, übernimmt das Projekt die Typologie einer Stadiontribüne, die als Rahmen für gestaffelte Vortragssäle und Büroetagen genutzt wird. Der Raum unter diesen Nutzflächen wird zu einer Begegnungszone, die atmosphärisch dem Raum unter den Tribünen gleicht. Inspirationsquelle sind dabei vor allem die Stadien des brasilianischen Architekten Paulo Mendes da Rocha. Die Gegenüberstellung dieser Vorbilder mit den eigenen Projekten in großen Modellen, die Grafton Architects bei der Architekturbiennale des Jahres 2012 präsentierten, gehörte damals zu den besten Beiträgen.

Monumentalität, vermittelt über Raum, Material und Licht, ist das Thema dieser Architektur. Allerdings wirken diese Monumente nicht schwer. Sie sind mit hoher konstruktiver Eleganz lufthaltig und manchmal schwebend ausgeführt. Farrell sieht Architektur als künstliche Landschaft, die für die meisten Menschen die Natur abgelöst hat. Vor diesem Hintergrund bekommt die Aussage „We make the world“ eine radikalere Bedeutung. Wir bauen nicht mehr in der Welt – wir bauen die Welt, mit der Option, siezu zerstören.

An diesen Aspekt erinnerte ein anderer Vortrag bei Turn On, der dramaturgisch klug vor Yvonne Farrells Präsentation angesetzt war. Die Architektin Anna Heringer berichtete über aktuelle Projekte, darunter drei Häuser für eine Jugendherberge in China, die im Rahmen der Bambus-Biennale im Dorf Baoxi entstanden. Die drei Rundhäuser sind von Formen inspiriert, wie sie beim spielerischen Arbeiten an der Töpferscheibe entstehen. Diese Formen in Bambus zu übersetzen führt zu überraschend schlüssigen Konstruktionen, in denen das Material seine Stärken ausspielen kann.

Für Anna Heringer, die erstmals 2005 mit einer unter anderem mit dem Aga Khan Award ausgezeichneten Schule aus Stampflehm in Bangladesch internationale Aufmerksamkeit erregte, kann Architektur nur dann nachhaltig sein, wenn sie zugleich als schön empfunden wird. Nachhaltigkeit bedeute aber auch, dass jedes Projekt darauf geprüft werden müsse, ob es als Vorbild für die sieben Milliarden Menschen, die sich die Welt derzeit teilen, dienen kann.

Diese Frage zu stellen ist ein erster Schritt. Welche Disziplin sie ernsthaft beantworten kann, weiß heute noch niemand. Vielleicht bleiben wir beim Begriff Architektur und geben ihm neue, dem Stand der Dinge entsprechende Inhalte.

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