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Die Stadt als Objekt
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Eine Stadtplanung, die mehr ist als der geschickte Umgang mit Sachzwängen und Interessen: Ist so etwas überhaupt vorstellbar? Die Wiener Architektenkammer lädt mit einem „Strategiepapier zur Stadtentwicklung“ zum Dialog ein. Man darf auf die Antworten gespannt sein.

27. August 2016 - Christian Kühn
Kennen Sie Wien? Ach, Sie sind hier geboren. Und wie oft waren Sie schon in der Spargelfeldstraße? Oder am Kagraner Anger? Noch nie. Das wundert mich nicht. Diese Adressen werden Sie in keinem Reiseführer finden. Nicht, dass es dort nichts zu sehen gäbe. In der Spargelfeldstraße residiert immerhin die Österreichische Agentur für Gesundheitswesen, die hier ihre Zentrale mit 600 Mitarbeitern betreibt, in unmittelbarer Nachbarschaft zu Einfamilien- und Reihenhäusern und einem künstlichen Berg, der Mülldeponie Rautenweg, dem höchsten Punkt in der Umgebung.

Auch der Kagraner Anger ist kein touristischer Hotspot. Nichts hier erinnert an den namensgebenden historischen Anger des Vororts Kagran. Eine Pfarrkirche, 1970 nach Plänen der Berliner Architekten Alfons und Florian Leitl errichtet, bildet hier den Schlusspunkt einer modernistisch-monumentalen Wohnhausanlage aus den frühen 1960er-Jahren, deren bis zu zehn Geschoße hohe Wohnblöcke sich in strenger orthogonaler Anordnung einen Kilometer weit nach Süden erstrecken.

Es ist gut möglich, dass 99 Prozent der Wiener diese Orte nie besuchen werden. Dürfen sie trotzdem behaupten, ihre Stadt zu kennen? Natürlich. Wie bei jeder Stadt ist das Wien, das die Wiener kennen, ein sehr individuelles. Ein paar Dutzend Adressen sind jedem Wiener geläufig, es gibt ein paar Erzählungen, die von fast allen geteilt werden, aber dann franst das Wien-Bild aus und differenziert sich in persönliche Wien-Bilder und Erfahrungen. Das Charakteristikum der Großstadt ist, dass sie einen Namen hat, aber viele Identitäten.

Die Stadtplanung der letzten Jahrzehnte hat daraus den Schluss gezogen, dass es sich nicht lohnt, die Stadt als ein Objekt zu betrachten, das sich gestalten ließe. Als Folge hat sie die Stadt in zwei Richtungen aufgelöst: auf der einen Seite in ihre funktionalen Elemente, Verkehrssysteme und Wohnbauten, Grünanlagen und Industriebetriebe, einegigantische Infrastruktur, zwischen deren Komponenten ein permanenter Fluss von Energie, Personen und Gütern besteht. Auf der anderen Seite in ein Spannungsfeld von Interessen, in dem das Recht auf Stadt permanent zwischen Bewohnern und Projektentwicklern, Grundstückeigentümern und Beamten verhandelt wird.

So unterschiedlich diese beiden Ansätze auch sind, in einem Punkt gehen sie konform: Wenn sich etwas gestalten lässt, dann sind es die immateriellen Rahmenbedingungen, die zur Gestalt führen, und nicht die Gestalt der Stadt selbst. Im ersten Fall ist diese Gestalt das Resultat technischer Sachzwänge, im zweiten Fall ein Resultat sozialer Prozesse.

Dass der Begriff Stadtbaukunst in diesem Umfeld kein besonders hohes Ansehen genießt, ist nicht weiter verwunderlich. Ist die Vorstellung einer künstlerischen Disziplin, die Bauwerke und den von ihnen gebildeten Raum in einem zeitlich und räumlich großen Maßstab zusammendenkt, nicht hoffnungslos veraltet? Hat sie nicht abseits der historischen Stadtkerne ihren Gegenstand verloren und einer Freiraumplanung Platz gemacht, deren gestalterisches Repertoire sich auf Grünpflanzen und Stadtmöblierung beschränkt?

Die Qualität der in den letzten Jahrzehnten entstandenen Stadträume lässt freilich Zweifel daran aufkommen, ob man auf diese Disziplin tatsächlich verzichten kann. In Deutschland führten diese Zweifel 2014 zu einer Debatte, die von einem dreiseitigen Manifest unter dem Titel „Stadt zuerst!“ ausging, das Kölner Stadtplaner um Wolfgang Sonne und Christoph Mäckler initiiert hatten. „Deutschland war noch nie so wohlhabend, seine Stadträume waren aber noch nie so armselig“, hieß es da trocken, und die Kritik richtete sich vor allem an die Universitäten, an denen man nur noch lerne, ausführlich zum Thema Stadt zu sprechen, aber nicht mehr, wie man eine Straße, geschweige denn einen Stadtteil gestaltet.

Die Antwort kam von einer etwas jüngeren Generation von Planern, die unter dem Titel „100 % Stadt“ ein Gegenmanifest verfassten, in dem die Vielfalt der Stadt beschworen wurde, die nur noch durch interdisziplinäre Anstrengung gelenkt werden könne. Eine lebendige Stadt sei eben immer in Bewegung und existiere eigentlich nur im Kopf: Sie bestehe „vor allem aus den Erzählungen der Vergangenheit und den gegenwärtigen Erwartungen an die Zukunft“. Ist diese erzählte Stadt nicht um vieles interessanter als ihre dauerhafte Form aus Ziegel, Stahl und Beton?

Wer sich an diese Frage praktisch heranwagen möchte, dem sei ein Ausflug in die Stadt empfohlen, allerdings nicht in die reale, sondern in die virtuelle. Google bietet mit seiner Maps-Funktion seit Kurzem die Möglichkeit, in ausgewählten Städten frei durch ein dreidimensionales Modell der Stadt zu navigieren. Im Vergleich zu früheren Versionen, die zuerst die Navigation durch ein exaktes, orthogonal aufgenommenes Luftbild erlaubten und später eine Schrägansicht in voreingestellten Perspektiven, bietet die neue Funktionalität das Erlebnis eines Drohnenflugs, gesteuert mit der linken Maustaste in Kombination mit der „Strg“-Taste.

Vom Fließen ist in diesem Modell keine Rede mehr. Die Sonne steht am Zenit eines sonnigen Tages, und so detailreich alle Fahrzeuge und selbst Baustellen dargestellt sind: Die Straßen sind menschenleer, und nichts bewegt sich. Je näher man dabei ins Bild zoomt, desto sichtbarer werden die Effekte der Algorithmen, mit denen Google aus Satellitenbildern und anderen Daten die Geometrie und die Oberflächen dieses Stadtmodells errechnet. Man muss diesen Bildern einen speziellen, äußerst suggestiven „Stil“ zugestehen, der das Modell stark vereinheitlicht. In Verbindung mit der freien Navigation wirkt die Stadt plötzlich nicht mehr als Addition von Elementen, sondern als großes, faszinierendes Objekt.

Wer sich ein paar Stunden durch dieses Modell bewegt, lernt die Stadt auf eine radikal neue Art kennen. Vor allem lernt er, dass es zwischen der Stadt der technischen Sachzwänge und der Stadt der Interessen tatsächlich eine Stadt als Objekt gibt, in der andere Zusammenhänge bestehen, als man sie von der Fußgängerebene aus herstellen würde. Und genau hier könnte auch eine zeitgemäße Stadtbaukunst ansetzen, die nicht zurück ins 19. Jahrhundert weist, sondern in die Zukunft.

Die Kammer der Wiener Architekten und Ingenieurkonsulenten hat gerade einenSchritt gesetzt, die beamtete Wiener Stadtplanung und ihre akademischen Sekundanten zu einem Dialog über diese Frage herauszufordern. „Schmerzlich vermisst“ werde, so die Vorsitzenden der Kammer, „eine Strategie für Stadtgestaltung im Sinne einer originären und zeitgemäßen Antwort in Fragen der Architektur und des Städtebaus.“ Als ersten Input für diese Diskussion hat die Kammer ein „Strategiepapier Stadtentwicklung“ beauftragt, verfasst von Michael Hofstätter, Mitglied der Architektengruppe PAUHOF, nachzulesen unter (bit.ly/2bxnv2u).

Hofstätter referiert die Geschichte der Stadtplanung in Wien, analysiert ihre aktuellen Zwänge und Beschränkungen und fordert schließlich eine rationale Debatte über ihre Instrumente, Institutionen und Organisationsformen. Dieses Papier hat ernsthafte Antworten verdient. Sie sollten mit dem Eingeständnis beginnen, dass es eine Ebene der Stadtplanung gibt, die nicht von Sachzwängen und Interessen dominiert ist. Ihre Kunst besteht darin, im Häuserbrei der Stadt anschlussfähige Strukturen zu entdecken, die dem Wachstum der Stadt Orientierung geben. Noch ist es dafür nicht zu spät.

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