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Zierden der Gegend
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Den historischen Bestand nicht überformen, sondern mit heutigen Mitteln weiterbauen: Gut Hochreute in Bayern und Gut Gasteil in Niederösterreich, ländliche Idylle und städtisch-bürgerliche Baukultur im Einklang – bis heute.

10. September 2016 - Franziska Leeb
Knecht, der mit Pferden und landwirtschaftlichen Maschinen umgehen kann, wird für mittleren Besitz in der Goggnitzer Gegend gesucht.“ Kein Landwirt, sondern der Chemiker und Industrielle Max Silberberg schaltete dieses Inserat in der „Wiener Landwirtschaftlichen Zeitung“ vom 4. März 1922. Er befasste sich nach dem Verlust des an Erdölquellen reichen Galizien im Verlauf des Ersten Weltkrieges unter anderem mit der Suche nach Erdölvorkommen auf österreichischem Boden. Die große Not der Kriegsjahre war es wohl auch, die Silberberg und seine Frau Ernestine bewogen, das Gut Gasteil in Prigglitz zwecks Aufbaus einer eigenen Landwirtschaft zu erwerben. Mit der Adaptierung des desolaten Anwesens beauftragten sie Hubert Gessner, der zuvor eine Arbeiterwohnanlage im nahen Gloggnitz planteund später zu einem der prägenden Architekten des Roten Wien avancierte.

Für Gut Gasteil projektierte Gessner neben Wirtschaftsbauten einen dreigeschossigen Wohntrakt mit einer Fassade aus Bruchsteinmauerwerk vom grundeigenen Steinbruch. Die Bauherren legten Wert auf Luxus und Komfort und gingen ambitioniert an das Projekt heran, das in der Region Arbeitsplätze und Einkommen schaffen sollte. Lang konnten sie ihren Landsitz nicht genießen. Bereits 1925 wurde das Anwesen verkauft, und 1939 floh das Ehepaar nach Italien, von dort weiter nach Palästina.

Es folgten mehrere Eigentümerwechsel, nach dem Zweiten Weltkrieg diente das Gut als russische Kommandatur, ehe es an den Vorbesitzer, Oberst Richard Jary, zurückging. Von dessen zweiter Frau wurde das Anwesen schließlich vom Künstlerpaar Charlotte und Johannes Seidl übernommen, das hier sein Atelier und eine Biolandwirtschaft betreibt und mit der Galerie und dem Skulpturenpark die Liegenschaft zu einem kulturellen Treffpunkt etablierte.

Gut Gasteil ist nur ein Beispiel für das kreative Milieu in der Schwarzataler Sommerfrische. Von Nathaniel Rothschild, der mit seinem von Bauqué & Pio geplantenSchloss Hinterleiten daantrat, das nahe gelegene Schloss Wartholz des Erzherzogs Karl Ludwig von Heinrich Ferstel zu übertrumpfen, bis hin zum Loos'schen Landhaus des Lebensmittelfabrikanten Paul Khuner: Mehr über die gesellschaftlichen und politischen Verflechtungen der Akteure erzählt das Buch „Liebe im Grünen“ (Edition Mokka), in dem die Kulturhistorikerin Lisa Fischer detailreichGeschichte und Geschichten um die ländlichen Refugien vermögender Städter undAdeliger aufbereitet.

Weitaus weniger wechselhaft als die Besitzergeschichte von Gut Gasteil ist jene des landwirtschaftlichen Mustergutes, das Walter Martini, Spross einer Augsburger Textilindustriellenfamilie, 1910/11 im Allgäu errichtete. „Eine ganze Summe von Arbeit, Können und Geschmack ist in diesem Werk vereinigt; Bauherr, Architekt und Werkstättenhaben hier vorbildlich zusammengewirkt, um eine Anlage zu schaffen, die unbestritten eine Zierde der ganzen Gegend, mehr noch, eine Krönung der herrlichen Natur durch Menschenhand geworden ist“, schrieb R. A. Linhof 1913 in der Zeitschrift „Die Kunst“ über das über dem Großen Alpsee gelegene Gut Hochreute in Immenstadt. Architekt KarlSurber schuf um einen 3000 Quadratmeter großen Hof ein Ensemble aus damals nach aktuellsten Erfahrungen errichteten Wirtschaftsgebäuden, Dienstwohngebäuden und einem von der Münchner Hofmöbelfabrik Ballin ausgestatteten Herrensitz. Mit Bedachtauf die Topografie unter „besonderer Berücksichtigung der vorherrschenden Nordwestwinde“ in den Hang integriert, ist das handwerklich sorgfältig ausgeführte Anwesen ein Musterbeispiel für nachhaltiges Bauen.

Eine buddhistische Stiftung hat das Gut im Jahr 2007 erworben, um einen Ort für Zusammenkünfte von Buddhisten aus aller Welt zu schaffen. Eine heikle Angelegenheit, besonders im Hinblick auf den denkmalgeschützten Bestand. Zusätzliche Räumlichkeiten zur Beherbergung von Langzeitbewohnern und Gästen, eine Küche samt Speisesaalund Raum zur Meditation mussten geschaffen werden. Nach ersten planerischen Lösungsversuchen aus den eigenen Reihen entschied man sich schließlich zu einem geladenen Wettbewerb, bei dem der Vorschlag von Roland Gnaiger und Untertrifaller ∣ Dietrich Architekten überzeugte. Deren Entwurfsprämisse: möglichst geringe Eingriffe in die gut erhaltene Substanz.

So wurde das Karree im Osten, wo eine Mauer den Hof begrenzt, nicht bebaut; vielmehr wurden die neuen Anbauten in einem L-förmigen Winkel außerhalb des Gutshofs in den Hang integriert. Es entstand ein zweiter Hof, der das historische Ensemble unangetastet lässt und als ruhiger Wohnhof das Freiraumangebot ergänzt. Die Stallungen im Erdgeschoss des Wirtschaftsgebäudes nehmen Küche und Speisesaal auf. Im Heulager richteten die Vorarlberger Architekten den Meditationsraum – die Gompa – ein. Zur Befreiung von Schädlingen wurde das Dachgebälk komplett abgebaut, in originaler Form wiedererrichtet und der Raum mit Gespür für den Bestand bauphysikalisch den neuen Erfordernissen angepasst. Das historische Gebälk, die Wandverkleidung aus Weißtanne und ein kostbarer Boden aus stammbreit verlegten, 30 Millimeter starken Eichendielen erinnern an die frühere landwirtschaftliche Nutzung.

Im Zusammenspiel mit gezielt platzierten Fensteröffnungen, die für eine wohldosierte Menge an Tageslicht sorgen, entstand ein Raum von hoher Spiritualität. Bis zu 1000 Personen finden im 550 Quadratmeter großen Einraum Platz. Um dessen denkmalgerechte Erhaltung und die Erfüllung der genehmigungsrechtlichen Auflagen in Einklang zu bringen, erschließen vier Stahltreppen in einem unter die hintere Traufe geschobenen, verandaartig verglasten Anbau den Raum. Den historischen Bestand nicht überformen, sondern mit heutigen Mitteln weiterbauen: diese seit je gute Tradition im landwirtschaftlichen Bauen!

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