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Bildung, Building, Bilding
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Die Reform unseres Bildungssystems quält sich durch die Mühen der Ebene. Zumindest architektonisch hat der PISA-Schock aber eine stille Revolution ausgelöst, deren Ergebnisse nicht mehr zu übersehen sind. – Neue Bildungsräume aus Österreich: gefunden in Dornbirn und Innsbruck

19. November 2016 - Christian Kühn
Architektur ist ein Medium, in dem sich gesellschaftliche Veränderungen materialisieren. Manchmal geschieht das in kleinen Schritten, manchmal in plötzlichen Schüben – vor allem, wenn es darum geht, Schocks zu verarbeiten.
Ein solcher Fall war der PISA-Schock im Herbst 2001, die Veröffentlichung der ersten Studie des „Programme for International Student Assessment“, die dem deutschen und dem österreichischen Bildungssystem bestenfalls mittelmäßige Qualität attestierte. Die davon ausgelöste Debatte betraf zuerst die „Software“ des Schulsystems, die Lehrpläne, die Unterrichtsmethoden sowie die Ausbildung des Lehrpersonals. Erst mit ein paar Jahren Verzögerung wurde auch die „Hardware“ zum Thema: Kann es sein, dass ebenso die Art, wie wir Kindergärten und Schulen gestalten, eine Mitschuld an den durch PISA aufgedeckten Schwächen trifft?

Wer damals behauptete, dass Grundrisse mit links und rechts eines langen Ganges aufgereihten Klassenzimmern überholt sind, konnte Indizien dafür vor allem im Ausland finden oder in einem Rückgriff auf die Geschichte: In den 1960er- und 1970er-Jahren hatte es auch in Österreich eine breite Diskussion über radikale Alternativen gegeben, die aber in einer Rückkehr zu „bewährten Mustern“ endete. Selbst das viel gepriesene Wiener „Schulbauprogramm 2000“ konnte in den 1990er-Jahren zwar einiges an formaler Innovation vorweisen, typologisch musste es – gebunden an starre Richtlinien – am Gang- und Klassenzimmertypus festhalten.

Inhaltlich nahm die Debatte der 1960er-Jahre vieles von dem vorweg, was auch heute diskutiert wird. Es ging um Individualisierung des Lernens: Kinder müssen nicht im selben Tempo nach denselben Methoden lernen. Es ging um Inklusion, verstanden als Erziehung zur Solidarität und zur Akzeptanz von Differenz. Und es ging um die Öffnung der Schule zum „Leben“, also zum Stadtteil und den anderen, auch informellen Bildungseinrichtungen vor Ort. In Architektur umgesetzt bedeutete das offenere Grundrisse, in denen Lernen nicht nur in Klassenzimmern stattfindet, sondern an unterschiedlich gestalteten Lernorten im Schulhaus und im Freiraum, mit möglichst viel Durchblick, um das Arbeiten in Teams zu unterstützen.

Auch wenn diese Themen nach 1975 gelegentlich wieder aufflackerten, bekamen sie erst mit dem PISA-Schock den nötigen Aufwind. Ab 2005 intensivierte sich die Diskussion und erfasste schließlich auch die zahlreichen Schulerhalter auf Bundes-, Länder- und Gemeindeebene. Seither hat eine stille Revolution im österreichischen Bildungsbau stattgefunden. Es gibt „Leuchtturmprojekte“ wie den Campus Sonnwendviertel der Stadt Wien, das Gymnasium in der Au in Innsbruck oder die Schule in Feldkirchen in Oberösterreich, die mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurden. Und es gibt Dutzende weitere Projekte, die weniger prominent sind, aber auf gleichem Niveau Vorbildwirkung entfalten. Dabei geht es nicht allein um die Qualität von Einzelprojekten, sondern um die langfristige Strategie.
Der unmittelbare Bedarf an neuen Schulen ist selbst in boomenden Städten wie Wien geringer als der Bedarf an Sanierung und Erweiterung bestehender Standorte. Ob in diesen Fällen eine Sanierung oder doch ein Neubau die bessere Lösung ist, hängt stark von der Ambition der Schulerhalter ab: Wollen wir eine besser wärmegedämmte Gangschule oder eine Schule, in der man auf dem heutigen Stand der Pädagogik unterrichten kann?

Eine Gemeinde, die sich dieser Frage seit Jahren systematisch stellt, ist Dornbirn, mit knapp 50.000 Einwohnern die größte Stadt Vorarlbergs. Sie hat sich 2009 ein neues Schulraumkonzept verordnet, das bis zum Jahr 2030 Investitionen von rund 100 Millionen Euro in die Schulen und Kindergärten der Gemeinde vorsieht. Im Kern steht nicht die technische Sanierung, sondern die räumlich-pädagogische Qualität. Eine Ausweichschule wurde errichtet, um bestehende Schulstandorte umfassend und nicht nur in Etappen sanieren zu können. Das ursprüngliche Ziel, Projekte in einem Jahr abzuschließen, hat die Gemeinde aufgegeben: Hetzen bringt keine Qualität, und so rechnet man heute mit eineinhalb bis zwei Jahren für jedes Projekt.

Aktuell wurden in der Gemeinde ein Kindergarten nach dem Entwurf von Marte.Marte und eine Volksschule von Dietrich.Untertrifaller fertiggestellt, beides Vorarlberger Baukunst auf hohem formalem und technischem Niveau. Die Volksschule in Edlach war ursprünglich als Sanierung gedacht. Es stellte sich jedoch bald heraus, dass nur ein Neubau die gestellten Anforderungen erfüllen konnte – nicht flächenmäßig, sondern in der funktionellen Organisation.

Bemerkenswert ist in diesem Fall, wie stark sich das Konzept vom Wettbewerb im Jahr 2012 zum ausgeführten Projekt weiterentwickelt hat. Der damalige Entwurf für eine Sanierung teilte den lang gestreckten Grundriss in zwei Hälften: Klassenräume auf der einen Seite, Bewegungsflächen, kleinere Projekträume und Sonderunterrichtsräume auf der anderen. Eine zentrale Treppe führte vom Eingangsbereich im Erdgeschoß nach oben. Dieses Konzept hält am Klassenraum als wichtigstem Lernort fest, dem ergänzende Räume vorgelagert werden. Eine Beziehung zwischen den Klassenräumen ist nicht vorgesehen.

Im realisierten Entwurf ist der Grundriss stattdessen in Cluster gegliedert, die jeweils drei Stammklassen und zwei Projekträume über eine gemeinsame Mittelzone zu einer Einheit verbinden. Statt einer Haupttreppe gibt es zwei gleichwertige, die von der offenen Zentralgarderobe im Erdgeschoß nach oben führen, womit die Mittelzone von Durchgangsverkehr frei bleibt. Toiletten gibt es nur im Erdgeschoß, wodurch das Treppensteigen auch für die Kleinen zur regelmäßigen Übung wird. Die Wände zu den Stammklassen sind voll verglast, und kleine, ins Volumen eingeschnittene Loggien und Höfe erweitern die Mittelzone mit direkt jedem Cluster zugeordneten Freiklassen. Neu im Raumprogramm ist eine großzügige Aula im Erdgeschoß: kein Durchgangsraum, sondern ein Halle, in der man bei Bedarf auch Theater spielen kann.

Was derzeit im österreichischen Bildungsbau passiert, ist ein Experiment in „open innovation“, wie man in der Industrie Innovationen bezeichnet, die ohne zentrale Steuerung ablaufen. Es zeichnen sich neue Typologien ab, die vielleicht zu Standards werden können. Allerdings ist die Schule auf einem guten Weg, von der Maschine zum Lebensraum zu werden. Das spricht gegen Lösungsmuster und für allgemeine Prinzipien, die am jeweiligen Standort angewendet dessen Potenzial ausschöpfen.

Wer sich in dieser Hinsicht inspirieren lassen möchte, dem sei ein Besuch im „Bilding“ empfohlen, einer Schule für Kunst und Architektur im Rapoldipark in Innsbruck, einem Gemeinschaftsprodukt, getragen vom AUT, von Studierenden und Lehrenden des Instituts für Hochbau der Uni Innsbruck und zahlreichen privaten Förderern. Auch so dynamisch kann Schule aussehen: Vielleicht – hoffentlich – stehen wir ja erst am Anfang einer Revolution.

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